In der Comicreihe „Die Unheimlichen“ hat sich Sabine Wilharm eines Klassikers der Schauerliteratur angenommen: „Die Affenpfote“ von W.W. Jacobs. Die ist berühmt für das, was sie verschweigt. Und Wilharm steigert das in ihrer Adaption noch.
Manchmal ziehe ich aus den oberen Fächern meines Regals, also dorther, wo die internetbedingt mittlerweile nur noch selten genutzten gedruckten Nachschlagewerke stehen, Gero von Wilperts „Lexikon der Weltliteratur“ hervor. Meist, um zu überprüfen, wie denn vor einem halben Jahrhundert über Bücher oder Autoren geschrieben wurde, die mich heute beschäftigen. Zu William Wymark Jacobs ist dort zu lesen: „engl. Schriftsteller, 8. 9. 1863 Wapping – 1. 9. 1943 London. Sohn e. Werftaufsehers, 1883-99 Postbeamter, heiratete 1900 Eleanor Williams – Schrieb zahlr. Beiträge für ‚The Strand Magazine‘. Vf. köstl. humorvoller kleiner Erzählungen, in denen er kom. Episoden auf Küstendampfern und in den Häfen schildert …“ Ich unterbreche hier das Zitat, denn was hat ein Werk dieses offenbar eher amüsanten Schriftstellers in einer Gruselbuchreihe zu suchen? Zudem einer, die aus Comics besteht?
„Die Unheimlichen“ heißt diese Reihe; sie wird im Carlsen Verlag seit zwei Jahren von Isabel Kreitz herausgegeben, und obwohl sie trotz höchst namhafter Autoren (Nicolas Mahler, Birgit Weyhe, Barbara Yelin, Lukas Jüliger, Olivia Vieweg und natürlich auch die Herausgeberin selbst) immer noch nicht recht den Durchbruch am Markt geschafft hat, erscheint sie mit wunderbarer Regelmäßigkeit. Ihr Prinzip ist das der Adaption: Comiczeichner setzen eine Schauergeschichten ins Bild. Der Anspruch ist allerdings ein hoher: Sie sollen dabei zugleich die Vorlage neu interpretieren. Nun ist natürlich jeder Medienwechsel schon eine Interpretation, aber so manche Erzählung in „Die Unheimlichen“ hat tatsächlich eine massive Umdeutung erfahren, am radikalsten bislang in Jüligers Version von Edgar Allan Poes „Berenice“.
Der jüngste Band der Reihe hält sich dagegen sehr streng an die ursprüngliche Geschichte. Gezeichnet hat ihn eine sehr bekannte deutsche Künstlerin, die aber bislang noch nicht durch Comics aufgefallen ist: Sabine Wilharm, sehr populär geworden durch ihre Titelbilder der deutschen Ausgabe von „Harry Potter“, aber schon seit Jahrzehnten eine der besten Bilderbuchzeichnerinnen im Land. Sie hat sich – und nun kommen wir endlich wieder zurück zum Eintrag aus dem „Lexikon der Weltliteratur“ – eine Erzählung von William Wymark Jacobs ausgesucht. Dessen berühmteste sogar, denn was ich eben noch unterschlagen habe im Zitat, liest sich in dessen Fortsetzung so: „… einiger Gruselgeschichten, u. a. der ausgezeichnet konstruierten ‚The Monkey’s Paw‘, sowie ab 1919 einiger Dramen.“ Vergessen wir die Dramen sofort wieder, hier geht es natürlich um „Die Affenpfote“.
Ich kannte die Erzählung nicht, aber nach der Lektüre von Sabine Wilharms Version wollte ich sie sofort kennenlernen. 56 Seiten hat der Comic, eine Einzelausgabe von Jacobs‘ Text hat keine dreißig. Das hat seinen Grund darin, dass, wie Rainer Moritz, der Chef des Hamburger Literaturhauses, es in seinem kurzen Nachwort zum Comic (jeder Band der „Unheimlichen“ hat eines) beschreibt, „Wesentliches nicht gesagt, bewusst ausgespart wird“. Man kann es an einem Beispiel schön deutlich machen: Gleich zu Beginn kommt ein alter Militär zu Besuch bei einem früheren Untergebenen, und er hat die titelgebende Affenpfote bei sich. Die erfülle, so erzählt er seinem Untergebenen namens White, jedem ihrer Besitzer drei Wünsche, und den Mann, von dem er sie erhielt, sei deshalb gestorben. Aber welche Wünsche dieser Sergeant Morris sich erfüllen ließ, das wird in Jacobs‘ Erzählung nie gesagt.
Nur so viel ist klar: Auch Morris haben seine erfüllten Wünsche kein Glück gebracht. Deshalb will er die Pfote verbrennen, doch White erbittet sie für sich. Nach ein paar Seiten hat die Affenpfote also ihren neue Besitzer, und in den restlich zwei Dritteln der Geschichte stürzt sie White und seine Familie ins Unglück.
Wie zeichnet man Auslassungen? Die knappe Leseprobe, die der Verlag anbietet verrät es nicht. Man könnte vermuten, es ginge einfach so, dass man Leerstellen in den Bildern lasse oder Lücken in der Seitenarchitektur, aber Wilharm macht etwas ganz anderes: Sie ergänzt die eigentlich Handlung zu Beginn um in fahlem Lila gehaltene Phantasmen, die den Köpfen der Beteiligten entspringen – exotische Vorstellungen von Indien, woher die Affenpfote stammt, bei den Whites und verzweifelte surreale Bilder bei Morris –, ehe mit dem Besitzerwechsel ein Bilderwirbel einsetzt, der erst die Begeisterung der Whites und dann ihre Verzweiflung deutlich macht. Dazwischen entfaltet Sabine Wilharm einen atemlosen Wechsel der Perspektiven und arbeitet zugleich mit Bühneneffekten, weil sie den Text von Jacobs immer konsequenter auf das Kammerspiel beschränkt, der er ist. Bis sie am Schluss Mr und Mrs White ins Freie entlässt, als ihr dritter Wunsch in Erfüllung geht. Anders als Jacobs erzählt sie nicht, was dieser Wunsch war, geschweige denn, was er hervorbrachte. Sie lässt also noch etwas mehr aus als die Vorlage.
Literarische Gruselgeschichten sind selten wirklich gruselig, wir sind längst verdorben durch die Horroreffekte des Kinos. „Die Affenpfote“ aber führt vor, was Grusel sein kann, und es würde mich interessieren, ob H.P. Lovecraft die Geschichte von Jacobs kannte, als er seine eigene beste, gruseligste schrieb: „Das Ding auf der Schwelle“. Wann kommt übrigens die erste Lovecraft-Erzählung in den „Unheimlichen“?