Nina Bunjevacs großformatiger Band „Bezimena“ bietet plakative Bilder und eine mythengesättigte Erzählung. Man wähnt sich im Albtraumland. Doch der Autorin geht es darum, ganz konkret übergriffige Sexualität anzuprangern.
Nina Bunjevac ist ein neuer Name unter den Comiczeichnerinnen, aber sie wählt ganz alte Themen: Ihre Kindheit in Belgrad und Kanada in den siebziger und achtziger Jahren gab das Gerüst für die Handlung von „Vaterland“ ab, dem ersten auf Deutsch verlegten Comic der 1973 geborenen kanadischen Autorin, und für ihren neuesten Band, der den zunächst rätselhaften Titel „Bezimena“ trägt, ist ein weniger bekannter antiker Mythos Inspiration gewesen, nämlich das Schicksal des Siproites, eines der vielen Bewunderer der Göttin Artemis, die alle kein gutes Ende nahmen. Siproites wurde von der über seine Spannerei erzürnten Göttin in eine Frau verwandelt; im Altertum, weit vor dem heutigen Genderverständnis, war das eine Strafe.
Bunjevac kommt als Zeichnerin aus der Tradition alter weißer Männer: Robert Crumb vor allem, aber auch der kürzlich verstorbene Howard Cruse fallen einem bei ihren schwarz- und schraffurgesättigten Bildern sofort ein (hier kann man sie sehen), aber auch die Unheimlichkeit der Schabkartonbilder des Schweizers Thomas Ott. Aber mit den virilen Themen dieses Herren-Trios haben ihre Geschichten nichts gemein, obwohl sie den gleichen Hang zum Unheimlichen hat wie Ott, das Interesse an der gesellschaftlichen Rolle von Sexualität mit Cruse teilt und es dem Betrachter oftmals unbequem macht wie Crumb. „Bezimena“ ist diesbezüglich noch verstörender als „Vaterland“, weil hier allen Sicherheiten der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Wie der Priesterin in diesem Comic, die zu Beginn die weise Greisin Bezimena um Beistand bittet, von dieser aber kopfüber ins Wasser getaucht und in eine andere Existenzform in einer anderen Gesellschaft verwandelt wird: in einen neugeborenen Jungen, dessen Leben bis zum Tod wir dann in der Geschichte verfolgen. Das ist das – hier gegenüber der Vorlage aus den „Metamorphosen“ des im zweiten nachchristlichen Jahrhundert aktiven griechischen Schriftstellers Antoninus LIberalis umgekehrte – Mythosmotiv des Siproites.
Ist „Bezimena“ das überhaupt ein Comic? Nie und nimmer, aber allemal eine Graphic Novel, nämlich ein illustrierter Roman. Jeweils rechts auf einer Doppelseite stehen wortlose Einzelzeichnungen, links sind dann vor einem immer gleichbleibenden Sternenhimmel die Texte abgedruckt – immerhin in Sprechblasen, die aber nicht mehr signalisieren als eine Erzählerstimme, die nur anfangs Antwort auf Fragen einer zweiten Beobachterinstanz gibt, die von Bunjevac später aber komplett vergessen wird. Sequentielle Erzählen im Sinne der Comictherorie von Will Eisner oder Scott McCloud findet nur in einigen wenigen Passagen statt, wenn plötzlich mehrerer Bilder unmittelbar aufeinander folgen, also auch über beide Hälften von Doppelseiten hinweg. Erzählerisch motiviert ist dieser Rhythmusbruch allerdings kaum.
Sprechen wir also von einem Bilderbuch. In diesem Genre repräsentiert „Bezimena“ ein seltenes Phänomen: ein Bilderbuch für Erwachsene. Die expliziten Sexszenen sind dafür ein Indiz mehr noch aber die psychologische Handlungskomponente. Der Band ist wie eine Psychoanalyse inszeniert: Dir nachtschwarzen linken Seiten mit der Erzählstimme entsprechen dem Analytiker, der dem, was ihm die Bilder gegenüber zeigen, einen Sinn verleiht. Das ist ein kluger Gedanke, aber da die Symbolik von Bunjevacs Graphik doch eher schlichtes (nämlich naheliegendes) Niveau erreicht, wird das Potential verschenkt, die eine konsequent psychoanalytische Bildsprache versprochen hätte.
So bleibt am Schluss der Eindruck extremer zeichnerischer Virtuosität bei gleichzeitiger Überkonstruiertheit einer Geschlechtswandlungsgeschichte, die einen Fundamentalkritik am gewalttätigen Sexualverständnis von Männern bei gelegentlicher Komplizenschaft von skrupellosen Frauen darstellen soll. Um das zu verstehen, fürchte ich, muss man aber das ausführliche, stark autobiographische Nachwort der Autorin lesen. Dann entschlüsselt sich auch der titelgebende Name, den Bunjevac als slawisches Synonym für „Namenlosigkeit“ erklärt – wir bekommen also ein allgemeingültiges Phänomen allegorisch vorgestellt. Der Plakativität der Einzelbilder entspricht diese Erklärung, während die Geschichte selbst bei der Lektüre keinesfalls plakativ erschien – glücklicherweise. Sie hätte durch ihre Albtraumhaftigkeit aber noch weitaus mehr Eindruck hinterlassen, wenn sie nicht nachträglich entschlüsselt worden wäre.