Warum hat man Bauchschmerzen bei einem derart hochgelobten Comic? Ken Krimsteins „Drei Leben der Hannah Arendt“ stellt uns vor ein doppeltes Problem.
Ken Krimsteins „Die drei Leben der Hannah Arendt“ ist keine Comic-Biographie der Philosophin, die sich lieber als „politische Denkerin“ bezeichnete. Dafür spielt das Leben der 1906 geborenen Arendt eine zu geringe Rolle, auch wenn der Titel gleich deren drei beschwört. Übrigens nur in der deutschen Übersetzung, denn das im amerikanischen Original 2018 erschienene Buch trägt eigentlich den Titel „The Three Escapes of Hannah Arendt“. War dem DTV-Verlag die Rede von „Fluchten“ zu negativ, weil Leser es als Passivität oder gar feige empfinden könnten? Womöglich läge gar eine Assoziation zu „Ausflüchten“ nahe? Aber warum dann nicht „Das dreifache Entkommen der Hannah Arendt“, was gleichzeitig einen geradezu heideggerschen Zungenschlag in den Titel gebracht hätte? Wo Martin Heidegger doch eine gewichtige Nebenrolle in diesem Comic spielt.
Wie auch nicht, wo doch Arendt und er in beider jungen Jahren ein Liebespaar waren, als die Ostpreußin bei dem frisch auf seinen Marburger Lehrstuhl Gelangten war? An einer Universität, die in der deutschen Fassung als „100 Jahre alt“ bezeichnet wird (im Jahr 1924). Nun ist in der Tat Krimsteins korrekte „400“ in der englischsprachigen Fassung vom Schriftbild her leicht mit „100“ zu verwechseln, aber dass die Marburger Universitätsgründung nicht im frühen neunzehnten Jahrhundert erfolgte, hätte zumindest das Lektorat eines renommierten Verlags wissen müssen, wenn es schon dem denkbar gebildeten Übersetzer nicht auffällt.
Dieser Übersetzer ist Hanns Zischler, einer der weltweit prominentesten deutschen Schauspieler, aber auch – und das wiegt hier schwerer – ein höchst belesener Mensch mit besten Kenntnissen über Philosophie und preußische Geschichte. Man kann dem comicunerfahrenen Publikumsverlag DTV verzeihen, dass er die Graphic Novel eines hierzulande völlig unbekannten Zeichners über eine leider viel zu wenig bekannte Meisterdenkerin mit einem prominenten Übersetzer aufwerten will. Das hat Kiepenheuer & Witsch bei Allison Bechdels „Fun Home“ vor Jahren genauso gehalten, als man Denis Scheck für die Übertragung gewann. Man kann DTV nur wünschen, dass „Die drei Lebender Hannah Arendt“ nicht ein ähnliches Verkaufsdesaster werden wie Bechdels exzellenter Comic, den man teuer eingekauft, aber viel zu wenig verkauft hatte.
Ken Krimstein wird es den Marketingstrategen des Hauses nicht leicht gemacht haben. Sein Stil ist nicht comicartig, sondern cartoonesk – siehe die Leseprobe. Das ist ein wichtiger Unterschied, denn Krimstein kommt von der Illustration her, er arbeitet unter anderem für den „New Yorker“, also im Weihetempel der Presseillustration. Mag sein, dass der relative Erfolg seiner auch nicht gerade gefällig zeichnenden Kollegin Roz Chast mit ihren bei Rowohlt übersetzten Büchern den Ausschlag für die Entscheidung von DTV gegeben hat, Krimsteins Arendt-Buch zu publizieren. Aber es ist nun einmal kein Band, der beim raschen Aufblättern durch graphische Opulenz besticht. Die Zeichnungen wirken eher krude, obwohl Krimstein ein blendender Porträtist ist – man schaue sich nur mal den Alterungsprozess der Arendt über die insgesamt 230 Seiten hinweg an! Aber er ist eben Cartoonist, und es ist im Englischen so: Jeder Comiczeichner ist Cartoonist, aber nicht jeder Cartoonist ist Comiczeichner.
Also erstes Problem: krude (um ein unangemessenes, aber emotional richtiges Wort zu gebrauchen) Zeichnungen, und das bei der Geschichte einer Frau, die so kühl und klar dachte wie wenige Menschen sonst. Dagegen spricht nicht, dass sie sich Hals über Kopf in Heidegger verliebte, eher ist es ein weitere Beleg dafür, denn so radikal wie der siebzehn Jahre ältere Philosoph dachte in den zwanziger Jahren niemand. Diese Faszination blieb auch nach dem Bruch, als Arendt 1933 nach Prag ins Exil ging und Heideggers akademische Karriere unter den Nazis erst richtig Fahrt aufnahm, aber sie galt dem Denker, wie ein Blick in Arendts seit 1950 geführte Notizbücher beweist: Neben Kant ist Heidegger da der meistgenannte Philosoph.
Also nur recht, dass Heidegger so oft im Comic auftritt. Aber dass er von Krimstein konsequent ins Unrecht gesetzt wird? Natürlich ist Heideggers Seins-Philosophie gegenüber Arendts Tätigkeits-Ideal weltfremd, aber diese Welt-Fremdheit war ja in Heideggers (und lange Zeit auch Arendts) Augen gerade der Clou, weil sie mit allem brach, was Menschen dachten, über sich und das Dasein zu wissen. Arendt wurde immer pragmatischer, Heidegger immer enigmatischer. Wobei Krimstein sich erkennbar nicht über zentrale Gedanken hinaus mit Heideggers Philosophie beschäftigt hat – der Briefwechsel mit Arendt ist seine Quelle für Zitate, während er zum Beispiel die berüchtigten „Schwarzen Hefte“, die der Philosoph während des „Dritten Reichs“ als Notizbücher führte, nicht für sein Porträt im Comic ausgewertet wurden – schade. Zudem bleibt Heidegger im Gegensatz zu Arendt auffällig jung – und konsequent hitlerähnlich mit seiner schmalen Erscheinung und dem schwarzen Oberlippenbärtchen, das im Alter aber natürlich ergraute, während der Mann selbst immer fülliger wurde. Und ob Heideggers Frau wirklich auf Arendt als „diese Jüdin“ herabgeschaut hat, woher will Krimstein das wissen?
Aber plakativ darf es ja in einer Graphic Novel durchaus sein, wenn schon sonst die graphische Verlockung nicht eben groß ist. Wie steht es nun um die Textebene. Und damit kommen wir zum zweiten Problem: der Übersetzung. Von den „Drei leben“ war schon die Rede. Der Titel ist deshalb Unsinn, weil die jeweiligen Kapitel gar nicht das ganze Leben von Hannah Arendt umfassen, sondern eben nur jene drei Fluchten (von Marburg nach Berlin, weg von Heidegger nämlich und in eine Ehe mit Günther Stern, der sich später Günther Anders nennen und ebenfalls berühmt werden sollte, aber das erfährt man nicht im Comic, sondern nur im Personenregister, in dem allerdings der Eintrag „Stern“ fehlt; dann von Berlin nach Prag uns später Paris vor den Nazis; und natürlich als dritte die aus Europa nach Amerika, wieder vor den Nazis). Das Leben vorher und nachher aber macht immerhin ein Viertel der Graphic Novel aus. Und der Untertitel des amerikanischen Originals, „ Tyranny of Truth“ (Eine Tyrannei der Wahrheit) taucht im Deutschen gar nicht auf, dabei arbeitet er großartig mit zwei Zentralbegriffen der arendtschen Theorie und kombiniert sie auf beklemmende Weise zu einer Charakteristik des Lebens der Denkerin.
Dafür gibt es in der Übersetzung das schon erwähnte Register, aber man möchte wissen, wer es erarbeitet hat. Zischler jedenfalls nicht, denn da taucht etwa aus seiner Domäne, dem Filmgeschäft, der Beitrag zu Mel Brooks auf, in dem dessen Film „The Producers“ aufs Jahr 1956 datiert wird, satte zwölf Jahre zu früh, was man einfach im Comic selbst hätte nachlesen können. An anderer Stelle baut nun sicher Zischler eine (historisch korrekte) Nennung von Marseille ein, wohin Arendt radelt, um eine Fluchtmöglichkeit aufzutun. Unglücklicherweise lässt Zischler aber im Bild danach Walter Benjamin „fünfzig Kilometer weiter östlich“ auf die Pyrenäen zustapfen. Die Pyrenäen liegen westlich von Marseille. Bei Krimstein steht zwar auch „östlich“ (wenn auch vierzig Meilen statt fünfzig Kilometern, auch längenmäßig ein Unterschied), aber der hat Marseille nicht erwähnt, also kann man sich die radelnde Arendt woanders denken. Pech, wenn man historische Korrekturen anfügt, aber den inhaltlichen Anschluss übersieht.
Dafür hat wohl Zischler wiederum Krimstein auch hilfreich korrigiert, weil sich in der deutschen Fassung eine Fußnote zur grässlichen Pariser Ausstellung „Le Juif et la France“ findet, die im Comic auf die Vorkriegszeit verlegt wird, tatsächlich aber erst unter deutscher Besatzung 1941 stattfand – was die Fußnote ausweist und damit zumindest verhindert, dass man dem Zeichner diesen Fehler um die Ohren haut. Warum Zischler aber das englische Wort „college“ in seinen deutschen Dialogtext übernimmt, das bei uns immer wie „Schule“ klingt, obwohl Krimstein damit „Universität“ meint, ist rätselhaft – zumal wohl niemand in den dreißiger Jahren das Wort „college“ für die Marburger Universität gebraucht hätte.
Nun aber auch noch die Stäken der „Drei Leben“: Was Krimstein da bisweilen auf den Seiten inszeniert, etwa bei der Bebilderung des berühmten Schwarzwald-Nachkriegstreffens zwischen Arendt und Heidegger oder auch bei der beginnenden Liebe zwischen Arendt und Heinrich Blücher im Pariser Exil, das ist wundervoll anzusehen. Gesichter werden zu Masken stilisiert, Figuren sprengen die Panel-Randlinien, und wenn auch noch Walter Benjamin auftritt, überschlägt sich der offenbar vollkommen faszinierte Krimstein vor Einfallsreichtum. In einer Seite, die Arendt Ende der vierziger Jahre beim Nachdenken über die Ursprünge des Totalitarismus zeigt, finden sich überdeutliche Bezüge auf Donald Trump, so dass die Aktualität der arendtschen Theorien betont wird, und wie dezent Krimstein der Tod der leider noch gar nicht so alten Dame im Jahr 1975 ins Bild setzt (oder besser gesagt: gerade nicht), das ist ebenfalls meisterlich. Wer also die Sprödigkeit der Zeichnungen vernachlässigt, und der deutschen Übersetzung mit etwas Toleranz begegnet, der wird intellektuell belohnt bei der Lektüre. Und das kann man nun wirklich nicht von allzu vielen Comics sagen.