Olivier Kugler ist einer der großen Reportagecomiczeichner. Für sein neuestes Projekt, einen Bericht über ein Fish-&-Chips-Lokal im Süden Londons, musste er nicht weit reisen, sollte man meinen. Doch dann führte ihn der Weg plötzlich von der britischen Hauptstadt auf die Faröer-Inseln.
Monate lang hat mir der unmittelbare Zugriff auf den französischen Comicmarkt gefehlt, denn in den Buchhandlungen von Paris, Brüssel oder Straßburg fällt mir die Auswahl leichter als beim einschlägigen Internetforum bd.net oder dem französischen Zweig von Amazon. Zumal Letzterer die Auslieferung von Büchern während der Hochzeit der Corona-Pandemie ohnehin hintan stellte und der französische Staat bizarrerweise bd.net verboten hatte, Bücher auszuliefern. Das erste Halbjahr der französischsprachigen Comicproduktion ging also fast komplett an mit vorbei.
Nun war ich wieder in Paris und konnte leider nicht feststellen, dass ich viel versäumt hätte. Noch nie bin ich mit so wenigen neuen Comics aus Frankreich zurückgekommen – auch wenn man bedenken muss, dass kurz vor den Sommerferien ohnehin kein dortiger Verlag mehr neue Bücher auf den Markt bringt. Man wartet auf die rentrée im September, die intensivste Phase desfranzösischen Buchhandels, die dann bis Januar anhält, wenn vor dem Comicfestival von Angoulême noch einmal massenweise Neuerscheinungen herauskommen. Danach folgt das schwächere Halbjahr, und 2020 war es offenbar besonders schwach.
Ich wäre somit enttäuscht zurückgefahren, wenn ich nicht vor der Abfahrt meines Zuges an der Gare de l’Est meinen obligatorischen Abschiedsbesuch im dortigen Bahnhofskiosk gemacht hätte. Und das Angebot an aktuellen Magazinen machte alles wett. Drei Stück nahm ich mit, und jedes belegt, welchen Stellenwert Comics in unserem Nachbarland besitzen, denn zu keinem davon gibt es auch nur annähernd etwas Ähnliches in Deutschland. Die drei Magazine sind: erstens die jüngste Ausgabe des vor drei Jahren begründeten Vierteljahreszeitschrift „Les arts dessinés“ (Heft 11, diesmal mit langen Bild- und Textstrecken zum amerikanischen Zeichner Charles Burns, der aber in den letzten Jahren wie kaum ein anderer das ästhetische Erbe von Hergé angetreten hat, und zu den beiden großen Toten des französischen Comics im abgelaufenen Jahr: Albert Uderzo und Claire Bretécher). Zweitens die dritte Ausgabe von „HistoriaBD“, einer noch unregelmäßig erscheinenden Reihe, die Comic-Klassiker in ihre jeweilige Handlungszeit einbettet und auf deren Realitätsgehalt überprüft (das erste Heft widmete sich „Asterix“, das zweite „Lucky Luke“, das dritte nun André Franquins „Spirou“-Alben und den „trente glorieuses“, wie man in Frankreich die Jahre von 1945 bis 1975, also die Zeitspanne vom Sieg im Zweiten Weltkrieg bis nach der ersten Ölkrise nennt). Und drittens schließlich die jüngste Ausgabe von „XXI“, immerhin schon die einundfünfzigste dieser Heftreihe. Um sie soll es in diesem Blog gehen.
Oder besser gesagt: nur um 26 Seiten daraus. „XXI“ ist eine Vierteljahreszeitschrift für Reportagen zu politischen Themen, die jeweils stark illustrativ aufgearbeitet werden – sei es mittels Fotografie, Infographik oder Zeichnungen. Von Beginn setzte das Magazin dabei auch auf Comics, und so lohnt der Blick hinein immer wieder. Zum Beispiel war es „XXI“, das den Begründer des Reportagecomics, den Amerikaner Joe Sacco, vor ein paar Jahren beauftragte, zu den Volksgruppen im nordwestlichen Kanada zu reisen, und daraus entstand sein vor wenigen Wochen auch auf Deutsch bei der Edition Moderne erschienener Bericht „Wir gehören dem Land“, ein neuer Meilenstein des Genres. Für die diesjährige Sommerausgabe von „XXI““ hat nun einmal die französische Sachcomicautorin Marie Dubois einen sechsseitigen graphischen Essay über den Konflikt zwischen Mutterschaft und Berufskarriere gezeichnet (ein Vorgeschmack auf ihren ebenfalls in Zusammenarbeit mit dem Magazin entstehenden Sachcomic über Unfruchtbarkeit). Doch die wirkliche Sensation im Heft ist die Arbeit eines von mir seit langem bewunderten Comicreporters: des in London lebenden deutschen Zeichners Olivier Kugler. Wobei „XXI“ ihn als Olivier Kruger ausweist. Bei den Angaben zu den eigenen Mitarbeitern könnte die Akkuratesse noch etwas größer sein.
Von Kugler ist man Weltreisen gewöhnt, wie etwa aus dem Band „Dem Krieg entronnen“, der mich vor drei Jahren beeindruckt hat (nachzulesen hier). Diesmal aber ist er nur kurz vor die Tür gegangen, nach Clapham, einem Stadtteil im südlichen London, wo er Benny’s Traditional Fish & Chips besucht hat, ein hochgelobtes Lokal für das britische National-Fast-Food. An einem Vormittag im Sommer 2018 hat Kugler den Ladeninhaber Ben Stylianou, 1961 in London geborener Sohn eines zyprischen Einwandererpaars und seit 1975 im Familienlokal hinter der Verkaufstheke tätig, beim Aufschließen seines Ladens und dann durch den Tag begleitet. Scheinbar ist das ein banaler Bericht vom Alltag eines Frittenbudenbetreibers, aber daraus wird viel mehr: erst ein kleines Familienporträt der Stylianous, dann eine schon deutlich größere Sozialstudie des sich gentrifizierenden Claphams und schließlich eine aufwendige Recherche auf den Spuren des Fischs, den Ben Stylianou verwendet.
Das ist verblüffend, denn der Beginn der wie gesagt sechsundzwanzigseitigen Reportage im typischen Kugler-Stil aus ineinander fließenden Personen- und Umgebungsdarstellungen (leider kann man auf der Homepage von „XXI“ nur die erste Doppelseite einsehen) bietet keinen Hinweis, dass man das Ecklokal in der North Street bei der Lektüre jemals verlassen würde. Kugler plaudert mit Ben Stylianou, seinen Angehörigen und Kunden, begeht mit ihm die Räumlichkeiten des Fish-&-Chips-Ladens, und plötzlich erwähnt der Gastronom, dass er seinen Kabeljau aus Island beziehe, zeigt die Tiefkühlpackung vor, und auf der nächsten Seite sind wir mit Kugler schon auf den Faröer-Inseln. Denn wie er herausgefunden hat, stammt das Schiff, dass den Kabeljau fängt und gleich an Bord verarbeitet und einfriert, von dort.
Wer jetzt wiederum glaubt, es folgte eine Enthüllungsgeschichte über die ominöse Herkunft des Fisches, sieht sich abermals getäuscht. Ben Stylianou hat nur die Faröer-Inseln mit Island verwechselt (Hauptsache, weit im Norden), und auf dem Schiff wird saubere Arbeit geleistet. Kugler besucht es bei seiner Heimkehr nach einem zehnwöchigen Fischzug durch die Barentssee und unterhält sich mit Besatzung, Kapitän, Eignern und Dienstleistern an Land, bis er auf gerade einmal zwölf Comicseiten die ganze Fischproduktions- und -absatzkette zusammengebracht hat, vom Eismeer über die Faröer bis nach England. Man lernt unglaublich viel über einen verrufenen Erwerbszweig (Stichwort: Überfischung der Meere), zu dem hier aber ganz sachlich recherchiert wird. Nach Lektüre von Kuglers Comicreportage weiß man, dass zumindest für den Kabeljau der Klimawandel eine weitaus größere Bedrohung darstellt als der Fischfang.
Dann sind wir wieder in London, in Benny’s Traditional Fish & Chips, den wir auf den ersten sechs Seiten liebgewonnen haben und nach nun noch acht weiteren Seiten noch viel mehr schätzen, doch am Ende vermeldet Kugler, dass Ben Stylianou sein Lokal mittlerweile geschlossen hat. Angeblich, so heißt es im Comic, am 6. Juni 2018, aber das hätte zeitlich vor dem Beginn der Reportage gelegen, also hat da der Berichterstatter geschludert und das Lektorat von „XXI“ geschlafen, zumal es in London im Juni nicht schon abends um halb neun so stockdunkel ist, wie Kugler es zeichnet, als Ben seinen Laden zum letzten Mal abschließt. Schade, dass ein so offensichtlicher Fehler ganz am Ende durchgerutscht ist.
Aber er tut inhaltlich nichts zur Sache, und danach kommt zur Versöhnung ein kleines Schmankerl, denn Kugler ist ein paar Monate nach dem letzten Geschäftstag in die North Street zurückgekehrt, um nachzusehen, wer dann ins Ladenlokal eingezogen ist (ein Fitnessanbieter), und noch einmal mit Ben Stylianou zu sprechen, der sich mit dem offenbar fürstlichen Verkaufserlös fürs Haus zur Ruhe gesetzt hat. Und nun eine alte Liebe intensivieren will: die Schauspielerei. Da erfährt man, dass der Fish-&-Chips-Verkäufer schon 2016 in einem „Jason Bourne“-Film mitgespielt hat: als griechischer Lastwagenfahrer, und die Internet Movie Data Base bestätigt diese Angabe. Nun hat der bislang verhinderte Schauspieler sich sogar einen Agenten genommen, und so mag Ben aus dem Fritten- ins Filmgeschäft wechseln. Erstaunlich, welche Geschichten das Leben so schreibt! Und erfreulich, dass es Menschen wie Olivier Kugler gibt, die sie so grandios aufzuzeichnen wissen. Und dass dann ein Magazin wie „XXI“ das Ganze druckt: halbalbenlang für sechzehn Euro. Nicht billig, aber über die anderen 170 Seiten der Nummer 51 des Heftes habe ich ja noch kaum gesprochen. Auch wenn es dabei außer Dubois’ Essay keinen weiteren Comic gibt, sind die nämlich auch aller Aufmerksamkeit wert. Aber nichts überrascht so wie Kuglers Reportage mit dem Titel „Le fish and chips n’a plus la frite“ – Fish & Chips sind nicht mehr gut drauf. Wir dagegen sind es nach der Lektüre umso mehr.