Gespenstisch gut
Der französische Traumwandler David B. setzt nach acht Jahren seine Reisetagebuch „Journal d’Italie“ fort: mit Geschichten aus China und Japan.
Wer dieses Blog schön länger liest, der könnte auf den einen oder anderen Eintrag gestoßen sein, der sich mit David B. beschäftigt. Der Franzose gehört zu den Comic-Autoren, von denen ich möglichst alles lese (auch wenn ich zugebe, dass der von ihm nur geschriebene 37. Band der berühmten Antiken-Comicserie „Alix“, der gerade in Belgien erschienen ist, mich noch nicht zum Bestellen veranlasst hat; wird aber wohl doch noch passieren). Nach längerer Pause hatte ich in diesem Jahr deshalb wieder einiges zu tun: Es erschien ein von David B. gezeichneter Band über französische Gangsterbanden in der erst kürzlich von mir hier vorgestellten Reihe „La petite Bédéthèque des Savoirs“ (den hätte Jacoby & Stuart mal übersetzen sollen, aber das Thema ist natürlich arg speziell für ein deutsches Publikum) und auf Französisch eine von ihm – wenn auch recht spärlich – illustrierte Ausgabe von Pierre Mac Orlans Antikriegsroman „Les poissons morts“. Vor allem aber kam auch ein Band heraus, von dem ich nie gedacht hätte, dass ich ihn noch sehen würde: die Fortsetzung des 2010 bei Delcourt erschienenen „Journal d’Italie“, das damals als „Teil 1“ ausgewiesen war. Was mich daran über die Person des Autors hinaus begeistert hatte, war, dass mir über eine der darin erzählten Begegnungen in Venedig von der Person wiederum berichtet worden war, die David B. getroffen hatte (im damaligen Blog hier nachzulesen). Dieses Glück habe ich beim nunmehr erschienenen zweiten Teil von „Journal d’Italie“ leider nicht, aber dafür berichtet David B. diesmal von Reisen in zwei Länder, die mich besonders faszinieren: Japan und China.
Doch Moment: Wie kann das sein? Zwei asiatische Länder in einem Comic mit dem Titel „Italienisches Tagebuch“? Ja, denn David B. hat den alten Titel stehengelassen und statt der Stationen „Triest, Venedig“, die den Gegenstand des ersten Teils bildeten, diesmal „Hong Kong, Osaka“ als Untertitel daruntergesetzt. Mag sein, dass er ursprünglich eigentlich weitere Begebenheiten aus Italien hatte erzählen wollen, aber die lange Pause von acht Jahren spricht nicht dafür, dass dieser Wunsch ausgesprochen dringlich gewesen wäre. Wobei David B. sich gerne Zeit lässt. Kamen die italienischen Tagebucheinträge schon mit fünfjährigem Abstand nach den realen Begegnungen, sind es diesmal sogar dreizehn Jahre, die seit den Reisen des Zeichners nach Fernost vergangen sind. Nach Hong Kong und Osaka führte ihn sein Weg also im selben Jahr wie nach Triest und Venedig: 2005. Dieser zeitliche Zusammenhang mag ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass seine Reminiszenzen an Ostasien in dieselbe Reihe aufgenommen wurden wie die italienischen.
Also wieder Kleinformat, aber derselbe graphische Einfallsreichtum, der generell David Bs Markenzeichen ist. Die ersten vier Seiten sind als Leseprobe hier zu finden. Niemand vermag es so wie dieser Zeichner, exotisch wirkende Motive in seine höchstpersönlichen Selbsterkundungen einfließen zu lassen. Die Bildsprache verdankt ihren Formen- und Deformationsreichtum der Kenntnis von orientalischen Buchillustrationen und Ornamenten, die Erzählweise ist an „Tausendundeiner Nacht“ geschult – und das nicht nur, weil David B. bevorzugt nächtliche Geschichten erzählt: Träume, Gespräche oder Streifzüge. Auch die Kette von in sich abgeschlossenen, aber doch stets die nächste Geschichte herausfordernden Episoden ist am Vorbild von Scheherazade geschult.
So auch bei den Erinnerungen an Hong Kong und Osaka. Die chinesische Reise vom Juli 2005 steht im Zeichen von Gespenstern und Gangstern. David B. stößt auf ein verlassenes Polizeirevier, in dem es angeblich spuken soll, und schon die Doppelseite, auf der ihm das eine chinesische Gesprächspartnerin erzählt, ist ein Meisterstück: Verschattet sind die Züge der schönen jungen Dame, als sie ihn fragt, ob er sich dafür interessiere, und dann werden sie kubistisch farbig parzelliert vor Entsetzen, als er sofort zur Besichtigung aufbrechen will. Auf dem Tisch vor der Frau wird eine Szene aus David Bs Vergangenheit sichtbar: seine albtraumartige Jugend. „Kind, ich habe meinen Bruder jeden Tag dreimal sterben sehen“, steht da als Textkasten, und das rekurriert auf die Epilepsie des Bruders von David B., über die er in den neunziger Jahren sein Meisterwerk, den Comiczyklus „Die heilige Krankheit“, geschrieben hat. Was soll ihn also noch schrecken?
Das Hauptstück des chinesischen Teils von „Journal d’Italie“ ist dann die Begegnung mit einem ehemaligen Polizisten, der in dem verfluchten Revier tätig war und David B. erzählt, wie die Geister in das Gebäude eingezogen sind. Man muss es selbst lesen, denn so eine Geschichte kann nur visuell vermittelt werden; kein anderes Medium als der Comic kann hier helfen. Im Gegensatz dazu verweist der japanische Teil ganz bewusst auf Vorbilder einer anderen Erzählform: auf die Holzschnittkünstler Kuniyoshi, Yoshitoshi, Hokusai und Kunisada als Großmeister des japanischen Gespensterbilds. Gerade aus den Einzelblättern und Triptychen der ersten beiden entnimmt David B. viele Figuren und teilweise ganze Seitenkompositionen. Ein Heidenspaß für Liebhaber.
Auch hier geht es also um Gespenster, aber anders als in China wird in Japan deren Existenz für ganz normal und nicht bedrohlich gehalten. Stattdessen aber ist David B. für seine japanischen Gesprächspartner befremdlich und auch für den französischen Kollegen Frédéric Boilet, der ihn im Oktober 2005 nach Osaka eingeladen hat. Erstere sehen in dem langen Westler eine gespenstische Erscheinung, bisweilen auch einen Eindringling in ihre Kultur, und David B. zeichnet sich denn auch selbst wie einen Geist. Boilet dagegen kann die Faszination seines Gastes für Geisterwesen nicht verstehen und fordert ihn ständig auf, doch lieber Comics über Frauen zu zeichnen (wer jemals Geschichten von Frédéric Boilet gelesen hat, weiß, wie treffend dieses Porträt geraten ist).
Doch das Bemerkenswerteste am zweiten Teil des „Journal d’Italie“ ist David Bs zeichnerische Entwicklung. Nicht, dass sein Stil nicht immer noch unverkennbar wäre, aber die Anpassung seiner Figuren an die chinesische und japanische Ästhetik ist grandios, und er verwendet nunmehr blassere Farben, die den traumartigen Stimmungen seiner Notate noch gerechter werden als die früheren Dunkeltöne. Was für ein Glück, dass dieser Zeichner offenbar ein unerschöpfliches Reservoir an Aufzeichnungen über seine Erlebnisse und Träume besitzt, aus dem er immer wieder neu für Geschichten schöpfen kann, die ihresgleichen nicht haben. Traumdeutung ist das übrigens nie. Traumhaft immer.