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Platthaus_AndreasLieben Sie Mendelssohns?
von Andreas Platthaus 

Dieser Comic will historische Gerechtigkeit schaffen: Er erzählt von der faszinierend zwiespältigen Persönlichkeit Karl Mendelssohn Bartholdy.

Wer den Namen Mendelssohn hört, der denkt an Moses und Felix, vielleicht noch an Fanny, die Schwester des Letzteren, eine gleichfalls sehr begabte Komponistin. Doch das reicht nicht, denn die Familie Mendelssohn ist überreich an bedeutenden Persönlichkeiten gewesen, und gerade die aus der zweiten Reihe der öffentlichen Aufmerksamkeit sind unserer Beachtung besonders wert. Vor zehn Jahren bekam man als Comicleser einen Vorgeschmack davon, als Elke Steiner einen schmalen Band mit dem Titel „Die anderen Mendelssohns“ herausbrachte. Ihr Gegenstand: Dorothea Schlegel, die berühmte Romantikerin, die aber auch Tochter des Philosophen Moses Mendelssohn war, und Arnold Mendelssohn, ein Enkel von Moses und Cousin von Felix Mendelssohn Bartholdy. Beide einte, daß sie im Widerstreit mit der Gesellschaft standen, Dorothea als emanzipierte Frau, die zwischen zwei Männern und damit quer zur Moralvorstellung ihrer Zeit stand, Arnold als politischer Kopf, der in Preußen keine Zukunft mehr sah. Auf nur fünfzig Seiten erzählte Elke Steiner nach einer Idee des Publizisten Thomas Lackmann diese beiden Lebensläufe. Anders als kursorisch konnte das nicht werden.

Nun ist ein weiterer Comic aus ihrer Feder über einen unbekannten Mendelssohn erschienen, und für diesen Karl Mendelssohn Bartholdy, den ältesten Sohn von Felix, hat sie sich diesmal gleich 125 Seiten Platz genommen. Ein Segen, daß dieses faszinierende Leben sie von dem bereits 2004 angekündigten Plan abbrachte, wieder mehrere Personen in einem Band zusammenzufassen; damals war neben Karls Schicksal auch noch das von Eleonora und Francesco von Mendelssohn angekündigt, den Ur-Urenkeln von Moses aus der Linie des geadelten Enkels Franz, eines Bankiers. Damit hätte die Geschichte bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts erzählt werden müssen, während Karl Mendelssohn Bartholdy schon 1897 starb, nachdem er mehr als zwanzig Jahre lang als geistig Gestörter in einer Schweizer Anstalt behandelt worden war. Da waren Eleonora und Francesco noch nicht einmal geboren.

Was ein Glück also, daß Elke Steiner sich anders besonnen hat und nun eine auf einen einzigen Protagonisten konzentrierte Darstellung liefert. Wobei immer noch mehr als genug um ihn herum erzählt werden muß. Vom frühen Tod seiner Eltern etwa, wozu es notwendig ist, die rastlose Lebensführung des damaligen Komponistenstars Felix Mendelssohn Bartholdys zu schildern, der in Berlin und Leipzig wirken, aber in Frankfurt am Main leben wollte – vor dem Bau von entsprechenden Eisenbahnverbindungen. Oder die Karriere seines jüngeren Bruders Paul, der später Mitgründer und Generaldirektor der Agfa werden sollte. Er ist der eigentliche Erzähler von Elke Steiners Buch, denn das schildert die Reise der beiden Brüder Karl und Paul im Jahr 1874 ins schweizerische Königsfelden, wo man Heilung für den depressiven Karl suchte. In ihrer Begleitung ist der Krankenpfleger Thiel, dem Paul Mendelssohn Bartholdy auf der tagelangen Fahrt die Vorgeschichte der Krankheit seines Bruders erzählt.
Das ist ein sehr konventioneller literarischer Trick, der jedoch den Vorzug hat, die extrem persönliche Perspektive zu beglaubigen und doch auch immer wieder zu relativieren, indem Elke Steiner die Farbe von Blaugrau zu Schwarz wechseln läßt, was den Wiedereintritt in die erzählte Gegenwart signalisiert.

Zudem wird mit Thiel eine auf den ersten Blick unauffällige Figur etabliert, die aber als wichtiges Korrektiv zur einseitigen Meinung von Paul dient und Karls Partei einnimmt. Plötzlich wird dieser „andere Mendelssohn“ wiederum anders gesehen, nämlich nicht als gescheiterte Geistesgröße, sondern als immer noch respektabler Mensch. Dadurch bekommt der Begriff Emanzipation, der in so vielfältiger Weise mit der Geschichte dieser deutschjüdisch-protestantischen Familie verbunden ist, eine neue Dimension.
Zeichnerisch hat sich Elke Steiner in mehr als zehn Jahren kaum weiterentwickelt (Leseprobe). Immer noch wirken ihre dicken Linien unbeholfen, und die dunklen Zusatzfarben kleistern bisweilen subtile Bildkompositionen zu. Da wäre ein neuer Ansatz hilfreich gewesen, aber offenbar zählte die antiquierte Anmutung der Panels mehr als gute Lesbarkeit. Das ist schade, weil es potentielle Leser verprellen wird, obwohl das Publikum durch Comics wie „Gift“ von Barbara Yelin mittlerweile viel besser vorbereitet wäre auf historische Comicstoffe in moderner Erzählweise. Aber der Band zu Karl Mendelssohn Bartholdy kommt alles andere als verlockend daher.

Dennoch bleibt es ein faszinierendes Vorhaben, das Elke Steiner hier weitertreibt. Und die aktuell gewählte Biographie, die vom empfindsamen Sohn des berühmten Komponisten zum erfolgreichen Historiker und dann in den Wahnsinn führt, ist ein mitreißender Stoff. Bisweilen hätten chronologische Hinweise gut getan, aber Elke Steiner setzt auch hier auf einen assoziativen Fluß des Geschehens, für den konkrete Daten irrelevant sind. Immerhin setzt ihr Comic mit einer Jahreszahl ein: 1874, als Karl erstmals in eine Anstalt kommt, in Görlitz. Und das Buch hört mit einer Jahreszahl auf, leider einer falschen. Denn Karl Mendelssohn Bartholdy ist nicht nach 21 Jahren in Königsfelden dort gestorben, sondern nach 23. Eine Kleinigkeit, aber bezeichnend für den Unwillen der Autorin zur historischen Genauigkeit, weil sich darin für Elke Steiner offenbar das Diktat eines gefährlichen Rationalismus verbirgt. Aber dann besser gleich ganz weglassen.

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Nur nicht unter die Gürtellinie
von Andreas Platthaus

Dresden als Kulisse für eine dramatische Liebe: Marika Paul schließt ihren Boys-Love-Manga „Royal Lip Service“ ab

Das nenne ich Disziplin in Liebesdingen: Im Abstand von jeweils zwei Jahren sind die drei Bände von „Royal Lip Service“ erschienen, Marika Pauls Boys-Love-Manga über ein schwules Paar in Dresden. Das ist kein Genre, dem ich sehr viel Aufmerksamkeit schenke, denn die Zielgruppe sind Mädchen, die sich an schönen Jungenkörpern und schwuler Erotik erfreuen – ein Parallelphänomen zur männlichen Begeisterung für lesbische Liebe, nur deutlich weniger banal sexualisiert. Aber abgesehen davon, dass mich generell sehr interessiert, was deutsche Künstler zeichnen, hat mich auch der Handlungsort Dresden gereizt. Die Stadt kenne ich gut. Und ihr Aussehen passt zu einer romantischen Geschichte.
Wobei „Royal Lip Service“ eher dramatisch als romantisch ist. Erzählt wird von dem norwegischen Kunststudenten Arjen, der an der Dresdner Akademie Malerei studiert. Bald verliebt er sich in den Rockschlagzeuger Victor, doch im Hintergrund lauert Arjens Stiefbruder Anton. Seit den gemeinsamen Kindertagen ist er in Arjen verliebt, und irgendwann kommt er nach Dresden nachgereist. Da sind wir aber schon am Ende des ersten Bandes.

Wobei das ja schon wieder vier Jahre zurückliegt, denn Band 1 erschien bereits 2011 (und nur dazu gibt es eine Leseprobe beim Verlag). Marika Paul ist Jahrgang 1982, also jetzt gerade mal Anfang dreißig, aber angesichts der dynamischen deutschen Mangaszene, die schon begabte Schülerinnen fürs Zeichnen rekrutiert, war sie damals trotzdem eine Spätdebütantin. Die sich zudem Zeit ließ, es aber auch schaffte, den Spannungsbogen über ebenjene vier Jahre zu halten – und damit auch den Verlag (mit Carlsen ja auch nicht irgendwen) bei der Stange.

Viel japanischer, was die Figurengestaltung angeht, als in den Bildern von „Royal Lip Service“ geht es trotz deutschen und norwegischen Protagonisten auch kaum. Das endet allerdings bei den Geräuschwörter, von denen besonders Arjens Herzschlag (DADUMM) ein Leitmotiv durch alle drei Bände abgibt. Etwas nervig sind dagegen Geräusche wie „Gulp“ oder „Grab“ fürs Schlucken und Grabschen. Aber heutzutage muss es ja Englisch sein. Man denkt trotzdem melancholisch an jene Manga, die solche Effekte auf Japanisch ins Bild setzen und dadurch fürs deutsche Publikum meist unleserlich, doch zugleich viel besser sind. Erfreulich skurril dagegen ist in „Royal Lip Service“ die Übernahme der Praxis, Figuren in emotionalen Ausnahmezuständen wie Karikaturen anzulegen. Da hat sich Marika Paul richtig entschieden.

Und Dresden? Erstaunlich up to date. Im neuen Band gibt es einen Blick über Wilsdruffer Straße und Kulturpalast zum Residenzschloss, der genau dem derzeitigen Erscheinungsbild der in permanentem Wiederaufbau befindlichen Innenstadt entspricht (na gut, ohne die Gerüste am Kulturpalast). Die sächsische Landeshauptstadt gibt mit ihrem nachts morbid-ausgestorbenen Zentrum einen geeigneten Hintergrund für die traurigen Teile der Geschichte ab, zumal im Winter, der im dritten Teil den größten Teil der Handlungszeit ausmacht. Die Räume der Kunstakademie auf der Brühlschen Terrasse direkt am Elbufer sind gleichermaßen perfekte Dekors. Und besonders attraktive sowieso. Da betreibt „Royal Lip Service“ sogar noch etwas Stadtmarketing.

Nacktheit wird dezent gezeichnet – wie im Boys-Love-Genre eben üblich; unter die Gürtellinie geht wenig, der Waschbrettbauch ist Trumpf. Und natürlich jeweils ein eher feminin gebauter Knabe, hier selbstverständlich der sensible Künstler Arjen. Dass Marika Paul sich ganz am Ende, im Epilog, der die Handlung noch ein paar Jahre in die Zukunft treibt, tatsächlich einmal full frontal nudity gestattet, ist nur deshalb möglich, weil es da eine burleske Szene zu gestalten gab. Ansonsten wird auch das Alterslabel „16+“ offenbar nicht als ausreichende Warnung betrachtet, weshalb man jede Szene, die verstören könnte, scheut, und in die Nähe von Pornographie will im zeichnerinnendominierten Boys-Love-Genre ohnehin niemand.

Ach ja, was Marika Paul auch gut beherrscht, ist Seitenarchitektur. Wie sie die Panels auf den Taschenbuchseiten gewichtet, das zeugt von sehr durchdachter Arbeit. Ärgerlich dagegen die Graustufen bei Träumen, Visionen oder schlechtem Wetter. Da saufen die feinen Tuschelinien der Zeichnerin im abgedunkelten Papier geradezu ab. Und das ist angesichts des dramatischen Höhepunkts von Band 3 nicht nur graphisch enttäuschend, sondern unfreiwillig frivol.

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Obacht! Vorlesespaß
von Andreas Platthaus

Was passiert, wenn man zur Vorstellung eines Comics geht, den man gar nicht mag? Manchmal etwas sehr Erfreuliches – wie jetzt in Frankfurt zum Auftakt der neuen Gesprächs- und Lesereihe „Stories and Strips“.

Über eine neue Comicreihe soll hier erzählt werden, aber keine mit Büchern, sondern eine, die vier- oder fünfmal im Jahr an idealerweise wechselnden Orten Comickünstler mit deren neuen Publikationen vorstellen soll. Nicht, dass es solche Präsentationen seit dem breiten Erfolg der Graphic Novels nicht schon in Buchhandlungen, Literaturhäusern oder Kulturzentren gäbe, aber erst einmal bislang nicht in Frankfurt am Main und dann auch anderswo nicht mit der hier avisierten Regelmäßigkeit.

„Stories + Strips“ ist der Rahmentitel der Reihe, und der Organisator Jakob Hoffmann macht keinen Hehl daraus, dass ihm dafür der Name der Hamburger Spezialbuchhandlung „Strips + Stories“ als Ideenlieferant diente (von denen er aber eine – dann auch freundlich erteilte – Genehmigung erbat). Das passt, weil auch dieser erst seit einigen Jahren etablierte Mittelpunkt der äußerst regen Hamburger Comicszene sich vor allem anspruchsvollen Hervorbringungen widmet und damit perfekt den Erwartungen des durch die Graphic Novels neugewonnenen Publikums entspricht. Es sind oft Hipster, die voller Stolz verkünden, dass sie keine Comic läsen, sondern eben nur Graphic Novels, aber das ist auch das einzig Naive an ihnen.

Zur Premiere der „Stories + Strips“-Reihe fanden sich an die drei Dutzend Interessenten in der Frankfurter Goldstein Galerie (spezialisiert auf Outsider-Art) ein, was den schönen Raum eines ehemaligen Feinkostladens mit Resten gründerzeitlicher Bemalung bis auf den letzten Platz füllte. Einige mußten gar stehen. Da traf es sich gut, daß der erste Gast, die Kanadierin Kate Beaton, gerade erst angekommen und seit 24 Stunden auf den Beinen war, so daß man ihr nicht mehr als eine Stunde zumuten wollte. Ihre Lebendigkeit, die sich vor allem in schallendem Lachen äußerte, legte allerdings Zeugnis davon ab, daß man ihr wohl noch viel mehr hätte zumuten können.

Beaton ist ein relativ junger Star des nordamerikanischen Independent-Comics. Sie wurde 1983 in Cape Breton geboren und lebt heute in Toronto, dem Herz der kanadischen Comicszene. Ihre Serie „Hark! A Vagrant“ hatte ich erst vor zwei Monaten in New York als Sammelband kennengelernt, gelesen, dann aber entschieden, das Buch nicht zu kaufen. Um so überraschender, daß der Zwerchfell-Verlag es kurz danach auf Deutsch herausbrachte, unter dem sehr schönen Titel „Obacht! Lumpenpack“.

Damit wird zwar das Altertümliche des englischen Titels nicht ganz so deutlich wiederholt, aber wenn man von der Zeichnerin Asja Wiegand, die das Lettering der deutschen Ausgabe besorgte, hört, daß die Übersetzung ursprünglich „Die verrückte Geschichte der Geschichte“ heißen sollte, kann man sich nur freuen. Der Grundgedanke des als Webcomics (http://www.harkavagrant.com/) seit 2007 entstandenen Strip-Serie ist einfach: Kate Beaton nimmt aus Geschichte oder Literatur bekanntes Personal und läßt es miteinander Gespräche führen, die in der Wirklichkeit oder den Büchern nicht stattgefunden haben. Daß sie dabei gängige Klischees über die jeweiligen Figuren nutzt, ist selbstverständlich.

Allerdings überzeugte mich bei der Lektüre auch die deutsche Fassung nicht. Vor allem, weil die meisten der sehr kurzen stripartigen Geschichten von Kate Beaton sich auf Phänomene der angelsächsischen Kulturgeschichte, bisweilen gar – ganz schwierig für Europäer – der kanadischen beziehen. Aber auch wenn man etwas gut kennt, Shakespeares Stücke etwa, Jane Austens Romane oder ein paar prominente historische Ereignisse, stellt sich oft ein schales Gefühl ein, weil die Masche so offensichtlich ist – und viele Gags absehbar. Zumal Kate Beaton über ein Talent ganz sicher nicht verfügt: eine Punchline zu liefern. Ihre Strips haben selten einen lustigen Abschluß, eher verlieren sie sich ins Unbestimmte.

Was bei Längen von drei bis acht Bildern auch schon wieder eine Kunst ist. Wie man auch bewundern kann, mit welcher erkennbaren Freude sich die Autorin ihrer Persiflagen annimmt (denn darum handelt es sich, nicht um alternative Geschichts- oder Literaturschreibung). Daß so etwas im Netz in Häppchen ganz hervorragend funktioniert, ist evident, und deshalb sind Website und Tumblr auch die bevorzugten Publikationsorte von Beaton. Wie sie selbst sagt, paßte sie 2007 genau den richtigen Moment mit ihrer Idee ab. Doch berühmt über die Netzkreise hinaus wurde sie erst durch die Buchpublikation (und erst seit ihr kann sie von ihrer Kunst auch leben).

In Frankfurt trat die studierte Historikerin im Gespräch mit Jakob Hoffmann mit einer Verve auf, die mitreißend war. Und die Schriftstellerin Alexandra Maxeiner las einige Episoden auf Deutsch mit so großer Begeisterung, daß man fast an seinem mittlerweile zweiten Urteil zweifeln mochte. Eine weitere Überprüfung bestätigte es danach leider abermals. Offenbar ist der Vortrag der Strips aber ein sicherer Weg zum Erfolg, und das dürfte für nicht wenige andere Comics auch gelten. Insofern ist die Etablierung von „Stories + Strips“ ein Segen. Am 21. Mai kommt mit Lewis Trondheim ein Superstar als Gast zur zweiten Ausgabe. Danach ist mit Reinhard Kleist für September ein weiteres Schwergewicht angekündigt, ehe im Oktober die Lokalmatadoren Piwi und Ingo Röhmling anstehen.

Am meisten aber freue ich mich schon auf November, wenn mit dem Franzosen Marc Boutavant ein Illustrator der Extraklasse nach Frankfurt kommen wird. All diese Zeichner genießen meine Bewunderung für ihre Bücher. Wenn dann die Menschen dahinter auch noch überzeugen, ist das besonders schön. Bei Kate Beaton schätze ich jetzt die Person. Vielleicht kommt eines Tages auch ein Comic von ihr, der mich überzeugt.

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Platthaus_AndreasJugendliteratur, wie sie sein soll
von Andreas Platthaus

Mit Émile Bravos Comicserie „Pauls fantastische Abenteuer“ hat ein Meisterwerk mit gewisser Verspätung seinen Weg nach Deutschland gefunden.

Vor fünf Jahren bekam Émile Bravo als erster Comiczeichner den Deutschen Jugendliteraturpreis – für seinen Band „Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen“ (geschrieben von Jean Regnaud). Noch mehr verdient aber hätte er ihn für seine Serie „Pauls fantastische Abenteuer“, die in Frankreich als „Une épatante aventure de Jules“ bereits seit 1999 erscheint uns bislang sechs Alben umfasst. Warum deutsche Verlage fünfzehn Jahre brauchten, um deren Qualität zu erkennen, ist ein Rätsel, aber um so schöner, dass Carlsen sie nun doch noch ins Programm genommen hat und nach dem Debüt 2014 jetzt schon den dritten Band herausbringt: „Beinahe begraben“.

Was ist so bemerkenswert an den Abenteuern des schlaksigen Paul? Daß sie im klassischen Stil eines André Franquin gezeichnet sind, aber in der unmittelbaren Gegenwart spielen und dabei alle Themen aufnehmen, die Jugendliche heute umtreiben. Also Umweltschutz, Zukunftsangst, Drogenmißbrauch und vor allem Sexualität. Pauls Freundin Janet, die er im ersten Band kennen- und liebengelernt hat, bringt ein mädchenhaftes Selbstvertrauen in die Handlung, das im Comic nahezu allein steht. Außer Yves Chalands legendärer Dinah aus der Serie „Freddy Lombard“ (erschienen in den achtziger und frühen neunziger Jahren) gibt es keine vergleichbare Figur, und diese Serie richtete sich klar an Erwachsene. Bravo dagegen hat zuerst diejenigen Leser im Blick, die im Alter seiner Helden sind, also etwa Vierzehn- bis Siebzehnjährige.

Daß dem fünfzigjährigen Franzosen die Hineinversetzung in deren Lebenswelt offenbar spielerisch leicht fällt, macht einen Teil der Qualität seiner Serie aus. Der andere liegt im bereits beschriebenen zeichnerischen Geschick (eine ordentliche Leseprobe gibt es nicht, hier das Cover), eine in Belgien und Frankreich tiefvertraute Linie zum ästhetischen Leitfaden seiner Bilder zu machen. Und dann ist da die grandiose Verknüpfung von existentiellen Themen – in „Beinahe begraben“ ist es illegale Müllbeseitigung, im zweiten Band „Unverschämt viele Klone“ Gentechnik – mit einem geradezu klassischen Abenteuerschema (eine Gruppe von gegensätzlichen Charakteren, wechselnde Schauplätze, die mal in der Ferne, mal in unbekannten Ecken der Heimat zu finden sind), das die Lektüre auch für Erwachsene fesselnd macht, vor allem, wenn sie Freunde der berühmten französischsprachigen Serie wie „Tim und Struppi“, „Spirou“ oder „Jeff Jordan“ sind.

„Pauls fantastische Abenteuer“ halten diese Vergleich aus, weil sie originelle Geschichten erzählen und ihren Witz auf bewährte Weise aus den Marotten der Protagonisten ziehen. Ganz eigen ist Bravos Serie aber ein ironischer Blick auf die Welt der Erwachsenen (grandios ins Deutsche gebracht von Uli Pröfrock, dem derzeit besten Comic-Übersetzer), in der sich gerade auf Führungspositionen die kläglichsten Figuren finden – im aktuellen Band etwa der Bürgermeister des südfranzösischen Orts, wohin Janet, Paul und dessen vorlauter kleiner Bruder Romeo von ihrem erwachsenen Freund Bastien auf eine Höhlenexpedition mitgenommen werden. Was dann passiert, wechselt derart häufig das Thema, das man auch als Leser nicht weniger Überraschungen erlebt als die Protagonisten selbst. Und das man nebenbei erfährt, was Speläologie ist und vor allem, wie sie betrieben wird, ist nicht der kleinste Zugewinn, den dieses Musterbeispiel intelligenter Lektüre für Heranwachsende auch noch bietet. Her mit dem nächsten Deutschen Jugendliteraturpreis für dieses Meisterwerk!

Sondermann stipendiert

Ella Carina Werner. / Foto: Vera Tammen
Ella Carina Werner. / Foto: Vera Tammen

Der Sondermann-Stipendiat des Jahres 2015 steht fest! Die Hamburger Autorin Ella Carina Werner absolviert Ende des Jahres einen vom Sondermann e.V. unterstützten Arbeitsaufenthalt in Frankfurt am Main, wo sie unter anderem ein Praktikum bei dem Satiremagazin TITANIC antritt.

Ella Carina Werner (geboren 1979 in Hamburg, aufgewachsen in Bad Oeynhausen) studierte Kulturwissenschaften in Lüneburg. Sie war Veranstalterin für das Hessische Literaturforum und die Literaturwerkstatt Berlin. Sie ist Redakteurin des Literaturmagazins EXOT, Kolumnistin des Missy Magazine und Mitbegründerin des DIARY SLAM, des ersten deutschen Tagebuch-Wettlesens. 2012 erschien ihr erster Roman, „Die mit dem Bauch tanzt“. Als freie Autorin schreibt sie komische Texte u.a. für TITANIC, TazFAZ, Zeit online und andere Medien.

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Platthaus_AndreasVerfolgungswahn und Mutterliebe
von Andreas Platthaus

Die aktuelle Gewinnerin des Afkat-Comicförderpreises heißt Raphaela Buder. Dank dieser Ehrung können wir nun ihren Band „Die Wurzeln der Lena Siebert“ lesen.

Was Raphaela Buder in ihrem Debütcomic „Die Wurzeln der Lena Siebert“ veranstaltet, ist höchst beachtlich. Zumal er als Bachelor-Abschlußarbeit entstand (in Halle), was normalerweise mehr Freiheiten bedeutet, aber nicht unbedingt der Lesbarkeit zugute kommt. Denn im Studium kann man noch experimentieren, und es bedarf schon eines sehr guten Betreuers, um auch daran zu erinnern, daß man mit dieser Form ein erzählerisches Medium gewählt hat, nicht nur ein graphisches.

Daß der Comic so gut wurde, verdankt sich also neben der Autorin auch dem Betreuer; in Halle dürfte es sich um Atak gehandelt haben. Daß „Die Wurzeln der Lena Siebert“ dann noch den Afkat-Preis gewann, ist eine schöne Pointe: Atak meets Afkat. Ersterer ist der Berliner Comiczeichner Georg Barber, der seit einigen Jahren als Professor in Halle immer neue Talente hervorbringt, Letzterer ist der zum dritten Mal ausgeschriebene Comicförderpreis der Hamburger Rechtsanwaltskanzle Dr. Bahr, mit dem eine Publikation beim Mairisch Verlag verbunden ist. So kann können jetzt alle „Die Wurzeln der Lena Siebert“ lesen.

Und das sollte man tun, denn Raphaela Buder gelingt etwas sehr Schwieriges, was so einfach aussieht: die Perspektive eines Kindes. Die Titelheldin ihres Comics ist noch im Kindergartenalter und wohnt als Einzelkind bei ihrer alleinerziehenden Mutter. Die leidet unter Verfolgungswahn und sieht die Welt in der Hand von Scientologen, weshalb sie auch der Tochter Angst davor einimpft. Der seltsame Traum von Frau Siebert: mit Lena nach Amerika auswandern. Als ob es dort weniger Scientologen gäbe.

Aber die Plausibilität eines Wahnsystems spielt keine Rolle. Zentral für die Geschichte ist die Unfähigkeit der Mutter, ihrer Tochter ein Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen. Privat dagegen läuft alles bestens; Frau Siebert liebt Lena abgöttisch, und um so tragischer ist ihr Scheitern am sonstigen Leben, das sie schließlich in eine geschlossene Anstalt bringt. Lena wird vom Jugendamt zu Pflegeeltern gegeben.

Hier könnte nun ein Drama inszeniert werden, aber das Ehepaar kümmerst sich hingebungsvoll um das Mädchen. Sogar die Einschulung gelingt, obwohl Frau Siebert ihre Tochter gerade von den Lehrern immer besonders gewarnt hatte. Gleichzeitig aber bleibt Lenas Erinnerung an die liebevolle Mutter wach. Und so läßt sie sich gern darauf ein, diese zu begleiten, als sie eines Tages vor der Schule auftaucht und die Tochter einfach mitnimmt. Es geht ans Meer, und das Fernziel heißt immer noch Amerika.

Mehr zu erzählen wäre schädlich, denn Raphaela Buder gelingt es meisterhaft, bei der Lektüre Unsicherheit, Mitgefühl und Freude in ständigem Wechsel zu erzeugen. Zu der kindlichen Perspektive passen die in Bleistiftschraffur mit weiß belassenen Konturen angelegten Panels (ein paar Seiten sind auf der Homepage der Autorin zu sehen), die nach allen Seiten hin offen sind – Entsprechung der Beeinflußbarkeit eines kleinen Mädchens. Gelegentlich wird eine andere Erzählperspektive eingenommen, etwa, wenn ein Gespräch zwischen den Pflegeeltern gezeichnet wird, das Lena nicht mithört. Doch es ist das Mädchen, das konsequent im Mittelpunkt der Handlung steht.

Alles Überflüssige hat Raphaela Buder aus ihrer 120 Seiten umfassenden Geschichte entfernt. Wo sie spielt, ist egal, die Dekors sprechen für eine mittelgroße Stadt. Das Figurenensemble beschränkt sich auf ein rundes Dutzend Akteure; nur wenn nötig, treten ein paar Passanten dazu. Und besonders schön ist die Flucht von Mutter und Tochter ans Meer inszeniert, wie ein Märchen im tristen Alltag.

Welcher andere Comic zöge aus der Ambivalenz seiner Figuren eine solche erzählerische Stärke? Und daß Raphaele Buder als Autorin durchaus auch auf Seiten der geisteskranken Mutter steht, zeigt die Wahl des Titel: Ohne das Wahnsystem, aber auch ohne die Liebe von Frau Siebert wäre Lena wurzellos. Wurzeln kann man nicht entwachsen. Aber was daraus entsteht, das liegt in den Händen der Verwurzelten und derer, die ihr beim Aufwachsen helfen. Ein weiser Comic. Ein schöner sowieso.

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Der Junge aus der Mondfamilie
von Andreas Platthaus

Eine phantastische Allegorie: Der britische Zeichner Andrew Rae erzählt die Geschichte eines Außenseiters an der Schule. Kein neuer Stoff, aber ein ganz neuer Ansatz.

Wo hat Joey nur seinen Kopf? Das fragen sich alle, die Eltern, die Klassenkameraden und die Lehrer. Und die Leser von Andrew Raes Comic „Moonhead and the Music Machine“. Denn dessen Hauptfigur, eben Joey, läßt beim Aufwachen erst einmal seinen Kopf auf dem Kissen liegen und geht kopflos zur Schule. Aber seltsam genug: Das scheint niemanden zu wundern.

Es ist eine wunderbare Idee von Rae, eine Redensart wörtlich zu nehmen und seinen Joey in den Momenten, in denen er träumt, ohne Kopf zu zeichnen. Wobei dieser Kopf alles andere als normal ist, selbst wenn er wieder zu Joey stößt. Denn es ist ein Mondkopf, riesig, blass, mit einem Mondgesicht darauf und immer ein paar Zentimeter über dem restlichen Körper schwebend. So kennzeichnet Rae seinen Protagonisten auch noch als Außenseiter in der Schule, und wenn man zum ersten Mal die Köpfe von Joeys Eltern sieht (was spät geschieht), dann weiß man, dass dieser Junge ein Außenseiter durch Abstammung ist. „Moonhead“ kann man also ruhig als ein Gesellschaftsporträt lesen. (Und sich hier ansehen, inklusive Musikvideo.)

Ein britisches natürlich, wie die Schuluniformen und etliche andere Details verraten. Erschienen ist Raes Comic nämlich beim englischen Nobrow-Verlag, ins Französische übersetzt ist er aber auch schon, und eine deutsche Fassung dürfte wohl nicht lange auf sich warten lassen, denn der Band hat alles, was einen internationalen Comicerfolg erleichtert: klare Graphik, Graphic-Novel-Format und vor allem eine Handlung, die in vielen Kulturkreisen angesiedelt sein kann.

Denn Probleme mit ihren Mitschülern, Lehrern und Eltern dürften wohl die meisten Jugendlichen haben, und viele werden auch den Ausweg erträumen, auf den der gehänselte und schikanierte Joey hofft: eine Karriere als Rockmusiker. In einer hinreißenden Sequenz zeichnet Andrew Rae die Plattencover der Alben, die der Junge sich während eines Hausarrests anhört: alles Parodien von realen Stars wie den Beatles, Cream, Captain Beefheart, Michael Jackson, Martha Reeves and the Vendellas und etlichen mehr. Etliche davon haben übrigens auch Mondköpfe.

Joey baut sich ein Instrument, die „music machine“ aus dem Titel. Doch es bringt nur Mißtöne hervor. Bis er einen Mitschüler trifft: Ghostboy, der genauso aussieht, wie sein Name lautet. Der beherrscht das neue Instrument perfekt, weil er aber scheu ist, spielt er es bei einem gemeinsamen Auftritt zwar, doch läßt die begeisterten Mitschüler glauben, daß Joey der Urheber des Wohlklangs ist. Wieder hat Rae zur Visualisierung des Erfolgs eine großartige Idee: Er zeichnet Doppelseiten, die man hochkant betrachten, das Buch also querlegen muss, und darauf wird die Musik in psychedelische Farbmuster umgesetzt, die das Publikum in die phantastischsten Kreaturen verwandeln.

Am Tag darauf ist Joey plötzlich der Beliebteste von allen, und etliche Mitschüler haben sich in ähnliche Sonderlinge wie er verwandelt – die Schule, wie Rae sie nun zeichnet, gleicht einer Freakshow. Die Einzige, die vorher zu ihm gehalten hat, das Mädchen Sockets, sieht sich allerdings nun vernachlässigt, weil Joey die neue Gunst der anderen genießt und sie darüber vergißt. Das wird sich rächen.

Es ist also eine durchaus moralische Geschichte, die Andrew Rae erzählt, und durch die konsequent eingesetzte Verfremdung der Akteure mittels Symbolen wie dem Mond oder dem Gespenst wird es auch eine allegorische. Daß sich am Schluß alles zum Wunderbarsten fügt, mag man unrealistisch nennen, aber Rae folgt damit konsequent den Traditionen solcher Außenseiterromane für Jugendliche. Und wie er am Schluss den geheimnisvollen Ghostboy entschlüsselt und jedem Schüler einen eigenen solchen Helfer zuordnet, der jeweils nur durch anderes Schuhwerk individualisiert ist, das ist im Idiom der Comics so grandios gelöst, daß man dem Band die süßliche Harmonie gern nachsieht. Und überhaupt: Happy Endings sind ja auch mal schön.

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Der Schimmel über Berlin
von Andreas Platthaus

Der witzigste Chronist des Hauptstadtlebens ist ein Comiczeichner: Olaf Schwarzbach alias OL. Gerade ist ein neuer Band von „Cosmoprolet“ erschienen.

Ist es gestattet, einmal ein guilty pleasure vorzustellen, eine jener meist verschwiegenen Vorlieben, die sich nicht mit den Erwartungen decken, die Leser an meine Lektüren haben könnten? Ja, wenn das einmal geduldet sein soll, so möge diese Offenbarung dem Berliner Zeichner OL gelten, und speziell seiner Cartoonserie „Cosmoprolet“, die seit 2006 im zweiwöchentlich erscheinenden Stadtmagazin „tip“ erscheint.

Glücklicherweise gibt es beim Lappan-Verlag mittlerweile schon zwei schöne querformatige Sammelbände mit den einzelnen Folgen, denn im Kontext lesen sich die jeweils aus nur einem Bild bestehenden Episoden noch besser. (Wer sich mal etwas davon ansehen will, muß einen Umweg gehen: über OLs eigene Website, auf der er Originale zum Kauf anbietet. Da sind auch „Cosmoprolet“-Folgen dabei, und nur hier kann man sie sich durch Anklicken schön groß darstellen lassen.) Der zweite ist gerade erschienen, und er sollte nicht nur für mich Pflichtlektüre sein.

Worum geht es? Um Berlin und um Cosmoprolet, einen meist stummen Mann im klassischen Superheldenkostüm – blauer Anzug, roter Umhang, Augenmaske –, der auf jedem Bild auftaucht (manchmal relativ schwer zu identifizieren, aber das macht den Reiz aus), jedoch nur selten das Geschehen bestimmt. Dieser Superheld ohne erkennbare Superkraft ist vielmehr eine Art Flaneur, und den größten Einfluß auf OLs Szenen hat er als Gesprächspartner anderer Figuren, die dem armen Mann ein Ohr abkauen.

Was also bestenfalls mittelgründig als Superhelden-Comic-Strip gelten, ist vorder- wie hintergründig ein Berlin-Cartoon. Denn der gebürtige Berliner OL nimmt die Stadt nicht nur als Dekor (in extrem akribisch gezeichneten Szenerien, die man alle in der Wirklichkeit wiederfinden kann, wenn man das wollte), sondern auch als Akteur – in Form ihrer Bewohner. Hier bekommen die Berliner freien Auslauf in ihrer Wurschtigkeit, ihrem Witz, ihrer Wichtigkeit und ihrer Widerborstigkeit. Und so manches Hauptstadt- oder Metropolenspezifikum wird hier gesondert veralbert, so etwa die zahlreichen Dreharbeiten in der Stadt oder die Demonstrationsvielfalt. Oder auch der Niedergang von Hertha BSC, ein Gag, den man leider jedes Jahr mit neuer Aktualität abdrucken könnte.

Was diesen Olaf Schwarzbach (wie OL bürgerlich heißt) auszeichnet, ist seine Zeichnungskunst. Früher, in den Neunzigern, als er berühmt wurde, hatte er grandios verzerrte Protagonisten, die das Proletentum in jeder Hinsicht kultivierten: in Aussehen, Verhalten, Wortwahl. Mit seinen jüngeren gezeichneten Berlinsatiren, zu denen neben „Cosmoprolet“ auch „Die Mütter vom Kollwitzplatz“ gehören (letztere in der Berliner Zeitung), hat er sich aber ein Feld als Stadtchronist erschlossen, auf dem er sich graphisch milde tummelt. Seine Figuren haben den simplen Strich eines Bosc oder, noch passender, Avril (vor allem in Kombination mit der Begeisterung für den Stadtraum), und gleichzeitig hat er sich doch die Drastik zumindest im Humor bewahrt. Und in der Bosheit, mit der er uns uns, wenn denn die Wahl dazu besteht, gewiß nicht das himmlische, sondern das schimmelige Berlin präsentiert.

Ich merke gerade: Bei OLs „Cosmoprolet“ handelt es sich gar nicht um ein guilty pleasure. Sondern um ein reines Vergnügen, auf das wir stolz sein können: daß es so etwas Witziges gibt.

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Neonazis in Dortmund
von Andreas Platthaus

David Schraven ist ein überzeugter Rechercheur. In seinem neuen Comic setzt er sich auf die Spur eines rechtsradikalen Netzwerks.

Jetzt ging es aus traurigem Anlass wieder mal durch die Nachrichten: Dortmund hat die als aktivste eingeschätzte Neonazi-Szene in Nordrhein-Westfalen. Wieder mal wurde ein Asylantenheim bedroht, wieder mal konnte niemand dafür belangt werden. Aber immerhin schweigt die Lokalpresse die Ereignisse nicht tot.

Einer der dafür verantwortlichen Journalisten ist David Schraven, bis vor neun Monaten Chef des Recherche-Ressorts der WAZ-Gruppe, deren Zeitungen sich das Ruhrgebiet in schöner Eintracht aufteilen. Mittlerweile hat er eine neue Aufgabe: Schraven leitet ein von ihm mitbegründetes gemeinnütziges Recherchebüro namens „Correct!v“, das einer kommerziellen Monopolbildung der Presse entgegenwirken soll und dazu auf Förderung durch unabhängige Gönner setzt. Einen Preis als „Journalist des Jahres“ in der Kategorie Newcomer gab es dafür schon vom Fachblatt „Medium Magazin“; einen Wächterpreis gewann Schraven 2008.

Ein hochdekorierter Journalist also und einer, der auch den Comic für sich entdeckt hat. Vor vier Jahren schrieb er „Die wahre Geschichte vom Untergang der Alexander Kielland“ über eine 1980 gekenterte norwegische Ölförderplattform, die mehr als hundert Menschen in den Tod riß. Dieser Comic war eine Recherche, und Vincent Burmeister als Zeichner setzte die Ergebnisse von Schravens Arbeit eindrucksvoll duster um. Im Jahr darauf fanden sich beide noch einmal zusammen: für den Comic „Kriegszeiten“ zum militärischen Afghanistan-Einsatz der westlichen Staaten. Das brachte ihnen 2013 eine Nominierung für den Deutschen Jugendliteraturpreis ein.

Nun hat Schraven sich einen neuen Zeichner für ein neues Projekt gesucht. Jan Feindt ist seit Jahren im Geschäft, lebte allerdings einige Jahre in Tel Aviv, weshalb er in Deutschland nicht so präsent war, wie es sein sicherer Stil vermuten ließe. Lediglich in zwei deutsch-israelischen Comic-Anthologien war er vertreten, hatte daneben aber als Zeitschriftenillustrator einiges zu tun. Jetzt bringt er gemeinsam mit David Schraven seinen ersten großen Band heraus.

„Weiße Wölfe“ heißt er, und da der Titel in Großbuchsatben auf dem Cover prangt, kann das ß typographisch wie Himmlers SS gesetzt werden. Der Untertitel verheißt eine graphische Reportage über rechten Terror, allerdings beschreitet Schraven als Szenarist ungewöhnliche Wege. Wie etliche seiner Reportagecomickollegen arbeitet er sich selbst als Figur mit ein, doch die Perspektive wechselt zwischen seinen Recherchen und dem Weg eines jugendlichen Punkers aus Dortmund an den äußersten rechten Rand. Ob und wie dieser Teil der Geschichte recherchiert ist, läßt der Comic offen.

Das Nachwort läßt immerhin vermuten, daß auch diese Biographie zu einem Mitglied des 1987 begründeten international vertretenen Neonazi-Forums „Blood & Honour“ gehört. Die deutsche Untergruppe gilt als aufgelöst – wenn man dem nordrhein-westfälischen Innenministerium vertraut. Das tut Schraven aber nicht, und was er in seinem Comic zutage fördert, gibt nicht zu großen Hoffnungen, daß es anders wäre. Schon die banale Frage, die gleich am Anfang gestellt wird: Warum der NSU eines seiner Opfer 2006 in Dortmund erschossen hat (den türkischen Kioskbetreiber Mehmet Kubasik), führt zu einer Spur, die auf ein Netzwerk hinweist, in dem sich die beiden thüringischen Mörder und ihre mutmaßliche Verbündete Beate Zschäpe bewegt haben. Davon ist aber im Prozess gegen Zschäpe keine Rede. Schraven steuert nun neben den bereits bekannten weitere Indizien bei, daß man es hier mit mehr als drei Tätern zu tun hat – und daß ein Zentrum für Planung und Ausführung in Dortmund lag.

Und es wäre ja schön, wenn man in der Vergangenheitsform bleiben könnte. Oder nur in Dortmund. Doch Stand dieses Comics ist die Gegenwart, und wenn am Schluß auf drei Doppelseiten die Perspektive sich zu einem Satellitenbild weitet, das erst Dortmunds Innenstadt, dann die Umgebung der Stadt und schließlich ganz Deutschland in den Blick nimmt, finden Feindt und Schraven eine bedrückend kongeniale Bildlösung für den überregionalen rechten Terror. Wie auch mit dem kalten Schwarzweiß des ganzen Buchs (einige Seiten kann man hier finden).

Erschienen ist der Band übrigens nicht, wie man hätte erwarten dürfen, bei Carlsen, wo Schravens erste beiden Comics herauskamen, sondern im Eigenverlag von Correct!v. Gewagt, aber ermöglicht durch eine Förderung der Rudolf-Augstein-Stiftung. Ob allerdings ein kritisches Lektorat nicht zumindest die regelmäßig eingestreuten Notate, die Schraven dem rechtsradikalen Roman „The Turner Diaries“ von William L. Pierce entnahm und von Feindt wie wirkliche beschriebene Seiten gestalten ließ, hätte herausnehmen lassen, weil hier noch eine Fiktionsebene ins angeblich recherchierte Geschehen eindringt, darf man fragen. Allerdings dankt Schraven seinen alten Carlsen-Redakteuren. Vielleicht war dieses Thema einfach zu heiß, als das er den Verlag den mit der Publikation verbundenen Risiken aussetzen wollte.

Eine Netzversion ist derzeit in Vorbereitung. Die wird dann auch gratis sein, wie es eigentlich die Aktivitäten von Correct!v allgemein sein sollen. Für den mehr als zweihundertseitigen Comic ist aber mit 15 Euro eher ein symbolischer Preis fällig. Und man ermöglicht damit weitere Recherche. So etwas wie David Schraven macht in Deutschland sonst niemand.