Spanien, aber was liegt mir daran
von Andreas Platthaus
Schön dick, schön vertraute Graphik: Pep Domingo alias Nadar hat scheinbar alles richtig gemacht. Doch was stimmt da nicht mit seinem Comic „Wie zerknülltes Papier“?
Der Graphc-Novel-Boom in Deutschland ermöglicht mittlerweile Wagnisse, die vor wenigen Jahren noch niemand eingegangen wäre. Vierhundertseitige Erzählungen über die spanische Gegenwart etwa, gezeichnet von einem hierzulande völlig unbekannten Autor und für immerhin 25 Euro angeboten. Sobald man den Band aufschlägt, ist man allerdings auf vertrautem Gelände: Es sieht alles sehr nach Jason Lutes und David Mazzucchelli aus, also zwei amerikanischen Comicgrößen, die schon Graphic Novels zeichneten, als der Begriff noch nicht Mode war. Der Zeitlosigkeit ihrer Arbeiten „Berlin“ sowie „Stadt aus Glas“ ist das durchaus gut bekommen.
Der unbekannte Autor ist, wenig überraschend angesichts des Sujets, Spnier und publiziert unter dem Künstlernamen Nadar. Das kann man dreist oder respektvoll nennen, je nachdem, wie man die Rolle des berühmten Nadar, des französischen Fotografen (1820 bis 1910), der auch als Zeichner aktiv war, einschätzt. Aber ob Hommage oder Namensdiebstahl – das was der 1985 geborene Pep Domingo hier erzählt, hat mit dem historischen Nadar nur insofern inhaltlich etwas zu tun, als auch dessen Fotografien sich für alle Aspekte des Alltagslebens interessierten.
Das jedenfalls ist die Stärke des dicken Bandes „Wie zerknülltes Papier“ vom spanischen Nadar. Mehrere Generationen von Protagonisten agieren da, womit es auch sehr unterschiedliche Lebensentwürfe und Weltwahrnehmungen gibt. Obwohl allen Hauptfiguren eines gemeinsam ist: Sie sind in gewissem Sinne Aussteiger. Manche wollen ihr altes Haus nicht verlassen, obwohl ringsherum alles abgerissen wird, manche haben ihre Familien aufgegeben, andere ihre exotischen Karrieren gegen stinknormale Brotberufe eingetauscht, und wieder jemand anderer verdient sich ein Zubrot als Kleinkrimineller.
Wenn ich hier nicht konkreter werde, liegt das daran, dass „Wie zerknülltes Papier“ wohl rasch zu dem würde, was der Titel benennt, wenn man vorher allzu viel über die Handlung verraten würde (übrigens ist das Titelbild schon ein unangenehmer Spoiler). Denn gesetzt den Fall, Nadar erzählte seine Geschichte brav chronologisch, dann entfiele der Reiz des Zusammenpuzzelns der einzelnen Elemente, das dem Leser abverlangt wird. Und es bliebe etwas ziemlich Banales. Aber dadurch, dass man erst im Laufe fortschreitender Lektüre erkennt, wer hier wer ist und vor allem, wie alle die Einzelschicksale zusammenhängen, bekommt die Sache Spannung.
Jedoch auch wieder nicht genug, um den Band loben zu können. Nicht nur die schwarzweiße Graphik (Leseprobe) ist geradezu traditionell, die erzählerische Struktur des Ganzen ist es letztlich auch, denn das Zusammenfügen von narrativen Fragmenten ist keine neue Entdeckung mehr. Und Nadar ist auch kein virtuoser Zeichner, sondern ähnlich wie Jason Lutes (aber ganz unähnlich zu David Mazzucchelli) ein „Techniker“, dem an intelligenten Panelarrangements und Seitenarchitekturen viel mehr liegt als an lebendigen Darstellungen seines Personals. Entsprechend schlecht kann man die Figuren bisweilen auseinanderhalten, und entsprechend statisch sieht das Ganze aus.
Der Band ist 2013 in Spanien erschienen, aber das taugt nicht als Erklärung dafür, warum die gesellschaftliche Wirklichkeit der jüngeren Krisenjahre darin so gut wie keine Rolle spielt. Nadar blendet alles aus, was nicht dem Fortgang seiner komplexen Handlung dient, die viel umfasst, aber eben doch wie ein Laborexperiment wirkt, bei dem bisweilen eben noch ein paar besonders drastische Bedingungen geschaffen werden müssen. So sind die beiden Verbrechen, die „Wie zerknülltes Papier“ vorkommen, denkbar schlicht motiviert – wenn man davon überhaupt reden will. Es ist schon erstaunlich, für wie wenig die 400 Seiten gut sind, wenn es um Charakterisierungen von Nebenfiguren geht.
Warum wird so etwas ins Deutsche übersetzt? Einmal, weil Hannes Ulrich, der immer neugierige Verleger von Avant, auch ein Faible für spanische Comics hat. Und dann weil leider das Missverständnis eingetreten ist, Graphic Novels verkauften sich dann besonders gut, wenn sie nur schön dick sind und an bereits etablierte Stile anknüpfen. Beides muss kein Nachteil sein, aber ein Erfolgsgarant ist dieses Rezept ganz sicher auch nicht. Wer sich für Nadars Buch begeistern soll, das ist mir einigermaßen schleierhaft.