Neues

Comic-Blog

UnbenanntNeues Jahr, neues Leseglück
von Andreas Platthaus

Sofort loslesen: Hamed Eshrat zeigt mit seiner Lebens- und Liebesgeschichte „Venustransit“, wie gut erzählt deutsche Comics mittlerweile sein können.

Das neue Jahr fängt mit „Venustransit“ denkbar gut an. Venustransit? Das war doch 2012 das große astronomische Ereignis. Ja, genau, aber für den Comic „Venustransit“ gibt das Phänomen lediglich eine Metapher mit vielfachen Assoziationen her: Venus als Göttin der Liebe, durchkreuzte Bahnen, spannende Konstellationen.
Und das Buchdebüt des 1979 in Teheran geborenen, aber seit vielen Jahren in Berlin lebenden Hamed Eshrat bietet einiges an Spannung, unerwarteten Wendungen und Liebeswirren. Das klingt jetzt nach einem Herz-Schmerz-Comic, aber es ist ein – mutmaßlich tief autobiographisch grundierter – Bildungscomicroman, in dem über ein halbes Jahr im Leben von Ben Rama erzählt wird.

Ben ist ein junger Mann mit großen bildkünstlerischen Ambitionen, der sich in Berlin mit einem tristen IT-Bürojob durchschlägt und seine Liebe zu Julia durch seine Unzufriedenheit über die eigene Lebenslage aufs Spiel setzt. So zerbricht diese Liebe auch, und Ben rettet sich aus der resultierenden Niedergeschlagenheit in einen ehemals als gemeinsame Reise geplanten Trip nach Indien. Zurück kommt er verwandelt, findet neue Liebe, neues Glück, wird sogar einen ambitionierten Comic beginnen. Kurz: Es geht gut aus.
Aber bis es soweit ist, lässt Hamed Eshrat uns in einer Intensität und Beobachtungsgenauigkeit an Bens Nöten teilhaben, die ungewöhnlich ist. Diese Elemente hatten mich schon 2014 überzeugt, als Eshrat die damals noch unfertige Geschichte für das erste Berthold-Leibinger-Comicstipendium eingereicht hatte. Er kam damit unter die zehn Finalisten, und er fand einen Verlag (Interesse an dem Band hatten sogar mehrere).

Ins experimentierfreudige Programm von Avant, einem Haus, das mit Ulli Lust eines der wichtigsten Graphic-Novel-Debüts des letzten Jahrzehnts gestemmt hat, passt „Venustransit“ exzellent.
Denn experimentierfreudig ist Eshrat allemal. Allein die Schilderung der Indienreise ist ein Meisterwerk: Dieses umfangreiche „Zwischenspiel“ von „Venustransit“ ist nicht als klassischer Comic erzählt, sondern als Faksimile eines auf der Reise mitgeführten Skizzenbuchs, in das auch zahlreiche Dokumente wie Fahrkarten, Prospekte, Eintrittskarten etc. eingeklebt wurden. Das Prinzip des reproduzierten Reisetagebuchs hat vor nicht allzu langer Zeit (und seltsamerweise auch zum Thema Indien) Sebastian Lörscher mit „Making Friends in Bangalore“ vorgeführt – wobei das eine augenzwinkernde Schilderung weniger Wochen war, während Bens Flucht nach Asien fast einen Winter lang währt und nicht Selbstironie, sondern Selbstfindung im Mittelpunkt steht. Die elliptische Methode (Auslassen der eigentlichen Ereignisse auf der Reise, dafür Präsentation der Resultate in Form der Andenken und vor allem von Bens Skizzen) lässt uns beim Lesen weiter rätseln, in welcher Verfassung Ben wohl nach Berlin zurückkehren wird. Zugleich vollzieht man über die bisweilen rätselhaften Faksimileseiten die Irritation nach, die der Protagonist in der Fremde empfunden haben wird.

Erzählerisch agiert Hamed Eshrat also höchst subtil. Wie sieht es graphisch aus? Ansehen kann man es sich zum Beispiel hier. Dass derzeit Gott und die Welt in Deutschland schwarzweiße Bleistiftcomics zeichnet, dürfte beim Beginn der Arbeit an „Venustransit“ nicht absehbar gewesen sein. Ulli Lusts stilistisches Vorbild ist bereits beim Titelbild klar erkennbar, auch die psychologische Dichte der Beschreibung hat da eine Vorläuferin. Panelrahmen setzt Eshrad nicht, dafür gibt es Stilwechsel, um die Seelenzustände von Ben zu illustrieren. Dass die Grenzen zwischen seinen eigenen Comicversuchen und dem Comic, der von ihm erzählt, bisweilen verwischen, ist ein klug eingesetztes Verfahren.
In den 250 Seiten lernen wir aber nicht nur Ben und seine beiden Freundinnen Julia und später Imma kennen, sondern auch eine kleine Freundesgruppe, die sich in einem von dem Türken Ali betriebenen Berliner Spätkauf trifft. Über Alis Leben wird ebenso geschickt nebenbei in „Venustransit“ erzählt wie über das von Beule, Bens bestem Freund noch aus gemeinsamen Punkzeiten. Wie sich da die Sympathien verschieben (untereinander, aber auch zwischen Leser und Figuren), das gehört zum Interessantesten, was deutsche Comics zuletzt hervorgebracht haben. Wenn dieses Jahr so weiter geht, wie es anfängt, dann dürfen wir das Beste erwarten.

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UnbenanntUnaussprechliche Bilder
von Andreas Platthaus

Ein Grundpfeiler nicht nur der Comicgeschichte erscheint nach 45 Jahren zum ersten Mal auf Deutsch: „Die sechs Reisen des Lone Sloane“ von Philippe Druillet sind der ästhetische Prägestempel der siebziger Jahre

Wie recht hat doch die Verlagsankündigung: Die Geschichten um Lone Sloane erinnern an die Texte von H.P. Lovecraft, den Meister des Horrors, der in den Gehirnen seiner Leser Vorstellungen von namenlosen Schrecken zu erzeugen versteht (schon allein die Rede von „namenlosen Schrecken“ ist eine typisch lovecraftsche Formulierung). Aber der amerikanische Schriftsteller nutzte dazu eben unsere Phantasie, die er nur entzündete, während der französische Comiczeichner Philippe Druillet seine eigene ins Spiel bringt. Bringen muss, denn der Comic ist notgedrungen graphisch explizit und gibt uns Bilder vor. Nur einmal reingesehen, und es wird jedem klar sein.

Deshalb taugt der Lovecraft-Vergleich nur bedingt. Man lässt sich da zu sehr mitreißen von Druillets Texten, die genau den Duktus des großen 1937 gestorbenen Vorbilds aufnehmen: „Gebadet in infernalisches Licht, gleitet Sloane bewusstlos im teuflischen Rhythmus der monströsen Maschinen und der Anrufungen der Priester. Der Ruf seines Lebens hallt wider im Herzen des ungeheuren Nichts, in dem der Schwarze Gott schläft.“ O là là, ginge es nicht auch ein bisschen kleiner oder zumindest weniger epigonal?

Da hilft selbst der beste derzeit aktive deutsche Comicübersetzer, Uli Pröfrock, nicht. Er bleibt nahe am Original, aber Druillet war ja de facto auch schon Übersetzer von Lovecrafts Stil ins Französische, und so verstärken sich mit der abermaligen Übertragung die spezifischen Marotten noch, und aus dem epischen Ton der Saga wird unfreiwillig ein fast schon satirischer. Das aber bringt Text und Bilder in einen Konflikt, denn eines ist Druillets „Lone Sloane“ ganz gewiss nicht: komisch.

Andererseits muss man realistisch sein und fragen, ob denn überhaupt jemand diesen Comic „liest“. Seine Bilder überwältigen derart, dass man es ohnehin besser nicht tun sollte, denn die Geschichte ist ein bloßes Vehikel für gigantische Seitenarchitekturen, in denen organische, mechanische und exotische Formen eine visionäre Mischung eingehen, von der später HR Giger bei seinen berühmten Entwürfen für den Science-Fiction-Klassiker „Alien“ profitieren sollte. Druillet brachte den Comic an die Grenze zum Erzählen, sein Zyklus der ersten sechs Sloane-Geschichten ist eher Trip im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes als Abenteuerreise. Als die Episoden 1970/71 im Comicmagazin „Pilote“ erschienen, müssen sie verstörend gewirkt haben, obwohl sie da nur im Heftformat publiziert wurden, was Druillet bisweilen dazu verführte, für einzelne besonders detailreiche Seiten (als Originalzeichnungen sind sie bis zu fast einem Meter hoch) einfach eine ganze Doppelseite in Beschlag zu nehmen, die dann der Leser eben um neunzig Grad drehen musste, um sie richtig betrachten zu können.

Die deutsche Erstausgabe dagegen bietet nun ein Album im Überformat, und selbst da sind die doppelseitigen Einschübe beibehalten, obwohl nunmehr die schiere Fläche ausgereicht hätte, um ihnen gerecht zu werden. Doch längst sind Druillets Kurzgeschichten ihr eigener Mythos, und dazu gehört eben auch die Maßlosigkeit des Spiels mit dem Format, was hier dann ebne ins noch Gigantischere gesteigert wird. Zudem hat der Avant Verlag, der dieses publizistische Wagnis eingeht – denn Druillet zählt anders als in Frankreich hierzulande nicht zu den Stars –, ein faszinierendes Titelbild gewählt, dass weitaus plakativer ist als das der französischen Ausgabe von 2012, die ansonsten das Vorbild abgab: Sloanes feuerrote Augen scheinen aus den Höhlen herauszubrennen. Damit wird ein Detail sichtbar gemacht, dass in den Geschichten selbst immer mehr behauptet als gezeigt wurde.

Damit aber wird nur noch weiter verstärkt, dass Druillet uns keine Freiheit zur eigenen Vorstellung zu lassen gewillt ist. Er zeichnet uns vor, was wir zu sehen haben. Seine Weltraum-Saga um den irdischen Rebellen Sloane, dem durch dämonische Kräfte eine geradezu göttliche Kraft verliehen wird und der sich dann auf den Rückweg zur Erde begibt, verdankt viel mehr als Lovecrafts Stimmungen dem höchst konkreten Vorbild des amerikanischen Superheldenmeisters Jack Kirby, der in den sechziger Jahren immer pathetischere Posen und Dekors für seine Comicbilder entwickelte und sie 1972 in die Serie der „New Gods“ kulminieren ließ. Darin allerdings war ihm Druillet zwei Jahre voraus – er brachte Kirbys Welt bereits früher an den Punkt, zu dem deren Schöpfer noch unterwegs war. Das zeigt Druillets in der Tat epochales Stilgefühl, denn er nimmt mit „Lone Sloane“ auch Moebius und Mezières vorweg – kein Wunder, dass er dann wenig später auch zu den Gründern der Zeitschrift „Métal Hurlant“ gehörte, die in der amerikanischen Version „Heavy Metal“ zum graphischen Ausdruck der siebziger Jahre wurde.

Daran hatte auch das erste Plattencover, das Druillet schuf, seinen Anteil. 1970 gestaltete er es für die Londoner Rockgruppe Grail, und im Bonusmaterial zu „Die sechs Reisen des Lone Sloane“ ist es mit Vorder- und Rückseite abgebildet. Verwendet hatte Druillet dafür das Splashpanel der zweiten Episode von „Lone Sloane“ und die spektakulärste Seite der sechsten und somit letzten der im Album abgedruckten Geschichten. Die aber erschien in „Pilote“ erst im April 1971, also lange nach der Grail-Platte. Was den Schluss erlaubt, dass Druillet seinen ganzen assoziativen Erzählzyklus in einem Rutsch geschrieben und gezeichnet hat, nicht, wie bislang angenommen, als einzelne Abschnitte. Dadurch stellt sich die Frage der inhaltlichen Geschlossenheit neu: Als aus einem Guss gefertigte Geschichte muss man den „Sechs Reisen“ gravierendere erzählerische Mängel bescheinigen, als wenn Druillet sie jeweils nach monatelangen Pausen wieder aufgenommen hätte.

Doch gleichzeitig wird nun auch klar, wie diese überwältigende Zeichenwelt ihre graphische Geschlossenheit finden konnte. Sie ist offenbar Ergebnis eines Schaffensrausches des damals Mittzwanzigers, und das Magazin streckte den Abdruck über ein ganzes Jahr hinweg. Die Redaktion wollte ihrem Publikum damals diesen Trip nur in einer Dosierung zumuten, die nicht gleich süchtig machen würde. Geschadet es Druillets Karriere nicht. Er ist ein großer Visionär des Comics. Immer noch.

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UnbenanntAußerirdisch witzig
von Andreas Platthaus

Wer nicht regelmäßig die einzelnen Episoden von „Q-R-T“, dem Kindercomic von Ferdinand Lutz, gelesen hat, dem ist etwas entgangen. Aber nun kann man die Lektüre nachholen, und sie wird sogar noch besser

Ja, Comics in Fortsetzungen sind eine gute Sache. Und nein, ich lese sie trotzdem lieber gesammelt, also als abgeschlossenes Buch. Was damit zu tun hat, dass es schöner ist, eine in Fortsetzungen oder zumindest Einzelepisoden erzählte Geschichte komplett zu lesen. Zehn Folgen von „Calvin und Hobbes“ oder den „Peanuts“ amüsieren mich mehr als nur eine, auch wenn ich weiß, dass sie als einzelne Strips konzipiert worden sind. Aber auch die amerikanischen Heftserien sind ja erfolgreicher als Sammelbände denn in Einzelausgaben. Das ist dasselbe Phänomen wie der Triumph von Fernsehserien, die heute fast alle Liebhaber als Download oder DVD hintereinander wegschauen.

Fortsetzungscomics gibt es auch in „Dein Spiegel“, dem Jugendmagazin des Nachrichtenmagazins. Als es 2009 erstmals erschien, war sofort „Ferdinand“ dabei, der Comic von Ralf Ruthe und Flix über einen Reporterhund. Den habe ich aber auch erst gelesen, als er bei Carlsen als Buchreihe herauskam. 2011 kam in „Dein Spiegel“ eine neue Serie hinzu: „Q-R-T“, gezeichnet von dem 1987 geborenen Ferdinand Lutz, der in Köln arbeitet. Und die ist nur endlich auch als Buch erschienen, bei Reprodukt im kaum genug zu preisenden Kindercomicprogramm dieses Verlags: nicht komplett natürlich (dafür gibt es schon zu viele Episoden), aber als 130-Seiten-Band, der inhaltlich einen ganz anderen Sog entfaltet als die Einzelgeschichten im Magazin.

Hier sieht man nämlich, wie geschickt Lutz seinen Leitfaden spinnt, der alle Episoden verbindet. Nicht, dass nicht jede für sich lustig wäre (o.k., einige sind sehr lustig – zum Beispiel „Kurt ist deutlich zu laut“ –, andere weniger – wie die direkt darauf folgende sehr klischeebehaftete „Eine teure Vase zerbricht“), aber wie schön bestimmte Marotten wiederaufgenommen werden, wie sich Figurenkonstellationen fortsetzen, ja selbst, dass ein innerer Zusammenhang, der über die Handelnden hinausgeht, besteht – das alles merkt man bei Komplettlektüre besser. Und da Lutz über sie seltene Fähigkeit verfügt, kindgerecht zu erzählen (einfach, aber nicht naiv), liest man das Ganze aals Erwachsener auch sehr schnell.

Es sieht übrigens auch sehr gut aus (Leseprobe hier): Ferdinand Lutz hat als zentrale Figur mit seinem Außerirdischen Q-R-T (was manche Erdlinge als „Kurt“ missverstehen) eine wunderbare Kinderfigur und durch seinen Begleiter, den Formwandler Flummi, eine sichere Bank für visuelle Gags. Die Seitenarchitektur ist unaufgeregt, jedoch nie eintönig, denn bisweilen lässt Lutz seine Episoden auch mal mit zwei seitengroßen Panels enden. Oder er signalisiert den Gemütszustand von Q-R-T durch zwei Bilder, die in immer tieferes Rot getaucht sind, während der kleine Außerirdische immer kleiner wird.

Selbstverständlich erinnert das Personal ein wenig an „Calvin und Hobbes“: kleiner, durchaus altkluger Junge und dessen treuer Freund, der für niemanden außer ihm als solcher erkennbar ist. Auch das naseweise Mädchen aus der Nachbarschaft gibt es, aber Lara aus „Q-R-T“ ist weitaus vielschichtiger als Susie Derkins. Im Laufe des Buchs deckt sie die Identität des scheinbaren Nachbarsjungen auf, und just, als das Geheimnis ganz gelüftet ist, endet auch dieser Sammelband, so dass man doch versucht ist, wieder mal „Dein Spiegel“ zu lesen, denn jetzt will man wissen, wie es weitergegangen ist.

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ottitschStrahlemann, schwarzhumorig
von Andreas Platthaus

Als junger Cartoonist hat man’s nicht leicht, denn an den Stars kommt man nicht vorbei, und die Publikationsforen sind unbefriedigend. Umso schöner, wenn ein schönes Buch herauskommt wie Oliver Ottitschs „Einfach ausrasten“

Bis zum 24-Stunden-Cartoonfestival, das vom Duo Hauck & Bauer im vergangenen August in Berlin organisiert wurde und bei dem ich ein Sechstel moderieren durfte, kannte ich Oliver Ottitsch nicht. Den Zeichner zwar schon, durch seine Bilder, die in etlichen Zeitschriften zu finden waren und sind, aber nicht diesen freundlichen Österreicher – was für ein akustischer Genuss: Oliver Ottitsch aus Österreich; ich hatte diesen Wohlklang prompt verdreht – mit den blitzenden Augen, der so gar nichts vom schwarzen Humor seiner Cartoons hat.

Wie kommt also der reizende, 1983 geborene Grazer zu so boshaften Bildern wie dem Wechselspiel im Trainingscamp von Selbstmordattentätern („Jetzt du“, ruft der abgerissene Kopf dem noch heilen Kollegen zu) oder dem durch einen abgefallenen (und ich drücke mich hier harmlos aus) Körper des Gekreuzigten bebilderten Umsetzung der Volksweisheit „Nichts hält ewig“? Die finden sich in einem ausgesprochen schön gestalteten Band mit dem Titel „Endlich ausrasten“, den der mir zuvor unbekannte Linzer Verlag Scherz & Schund produziert hat – nach Kein und Aber jetzt mein Lieblingsverlagsname. Fast hundert Cartoons werden da gesammelt, eine Dramaturgie ist zwar nicht erkennbar, aber das Bestreben nach schöner Präsentation, was soweit geht, das es in der Mitte sogar eine Ausklappseite gibt, die den durch die plötzliche Panoramawirkung geschaffenen Überraschungseffekt zur Grundlage des Gags macht. Das muss sich ein Verlag erstmal leisten wollen.

Mit Ottitsch hat Scherz & Schund aber auch eines der wenigen echten Talente gewonnen, die der Cartoonsektor in Deutschland zu bieten hat. Nicht, dass der Markt daniederläge – die Erfolge von Joscha Sauer oder Ralf Ruthe, der mittlerweile legendäre Ruf von Rattelschneck oder beck (bei jeweils leider geringerem Erfolg) und das neue Vertrauen des „Spiegels“ in die Form des Cartoons, die jüngst zu einem festen Platz im Blatt für die Zeichnerin Kitty Hawk geführt hat, stimmen verheißungsvoll, doch in der Flut von Netzforen hat man zwar zahllose Publikations-, aber wenige Profilierungsmöglichkeiten. Daran scheitern manche begabte Zeichner und landen lieber in der Werbung oder arbeiten an umfangreichen Comicvorhaben, denn wenn man sich schon ausbeutet, dann wenigstens für etwas, an dem das eigene Herz wirklich hängt. Da kommt ein so schönes Buch wie das von Ottitsch gerade recht, um zu signalisieren, dass hier jemand kommt, mit dem man als Cartoonist rechnen sollte (Leseprobe hier).

Die Erbschaft, die Ottitsch antritt, ist unschwer zu erkennen: natürlich Rattelschneck betreffs der Drastik des Humors, aber auch Til Mette, OL oder Stefan Rürup scheinen Pate gestanden zu haben. Das Themenspektrum ist breit, und nicht zuletzt die Genreparodien oder noch besser gesagt: Genreverhohnepiepelungen sind äußerst amüsant. Etwa er Superheld Captain Paradoxon, der einem – auch extrem witzig gezeichneten – Superschurken auf dessen Todesdrohung antwortet: „Nur über meine Leiche!“ Oder der Hinkelsteinlieferant Obelix auf dem Weg zur Steinigung. Oder am allerschönsten: Unlucky Luke, der Mann, der sich schneller erschießt als sein Schatten. Auf diesen Bildwitz sollte die ganze Zunft neidisch sein.

Natürlich gibt es auch einiges Bemühtes, für ein Best-of ist Ottitsch denn doch noch nicht lange genug im Geschäft. Bisweilen verlässt er sich zu sehr auf den Wortwitz und vernachlässigt die Zeichnung. Für einen Einfall wie die Verballhornung von Pontius Pilatus zu Pontius Pilates aber braucht man das Bild, und gerade dann ist der im besten Sinne aufs Notwendige reduzierte Strich von Ottitsch perfekt. Der Schriftsteller, der auf einem Blatt unter seinen Vorlesetisch greift und dazu mit Blick aufs Publikum denkt: „Wenn das Pathos nicht wirkt, habe ich immer noch das Tränengas!“, könnte auch einfach „Endlich ausrasten“ einsetzen. Tränen sind da garantiert, und es sind keine aus Traurigkeit.

So schön war der 11.11.!

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Die Überlebenden der glorreichen Sondermann-Gala vom 11.11.15 im übersichtlichen Schaubild. V.l.n.r.: Oliver Maria Schmit (Moderation), Horst Evers (Stargast), Leo Riegel (Förderpreis), Hans Zippert (Witze), Gabi Roth-Pfarr, Andreas Platthaus (Laudationes), Michael Sowa (Hauptpreis), Jens Friebe (Musik) und Leo Fischer (Geschrei). Wir danken allen An- und Abwesenden! Foto: Tom Hintner

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kruemelWeltraum-Tour-de-farce
von Andreas Platthaus

Die Religion wird er nicht los: Craig Thompson bringt einen neuen vielhundertseitigen Comic heraus, diesmal für Kinder. So viel Spaß die Bilder auch machen mögen, der metaphysische Gehalt ist bedenklich

Craig Thompson ist ein Weltstar des Comics, seit er 2003 seine autobiographische Geschichte „Blankets“ veröffentlichte. Das war ein auf vielen hundert Seiten ausgebreitetes Exerzitium in Einfallsreichtum: Den originellen Bildfindungen und organischen Verschmelzungen von Bildern sah man einen sprühenden Geist an, der die eigene gegen den Widerstand der christlich-fundamentalistischen Eltern gewonnene Freiheit – davon nämlich wird erzählt – zu nutzen versteht. Selten haben Form und Inhalt eines Comics so zu Übereinstimmung gefunden wie im Falle von „Blankets“.

Dann kamen acht Jahre Pause mit allerdings einer Unterbrechung: einem gezeichneten Tagebuch, das Thompson auf einer Reise durch Nordafrika und Europa geführt hatte. Es hätte nach der Vorstellung des Zeichners beim französischen Verlag L’Association erschienen sollen, dessen Bücher er bewunderte, doch das Verlegerkollektiv lehnte die Publikation als zu epigonal ab. Mir schien das damals einerseits konsequent, denn das, was Thompson in seinem „Tagebuch einer Reise“ machte, hatten tatsächlich die Association-Autoren längst vorgemacht, andererseits aber auch arrogant, denn immerhin gaben sie dem Shooting-Star des amerikanischen Independent-Comics einen Korb. Doch die versierten Franzosen erkannten, was ich, geblendet durch „Blankets“, noch übersehen hatte: Thompsons versöhnlerisches Erzählpathos, das sich im Tagebuch schon zu einer Masche entwickelte, die dann 2011 im weltweit publizierten „Habibi“ (auf Deutsch bekam Reprodukt den Zuschlag) seine traurige Fortsetzung fand.

Dieser gegenüber „Blankets“ noch voluminösere Band erzählte eine phantastische Abenteuergeschichte aus dem muslimischen Kulturkreis, die vom unbedingten Willen getragen war, den Lesern die Schönheit und Menschlichkeit dieser Kultur deutlich zu machen. Die Bilder waren aufwendig und prachtvoll, der Inhalt aber klischeesüchtig und banal. Thompson schien sich verrannt zu haben, zumal eben das, was er nach eigener Darstellung so mühsam seinem Elternhaus abgetrotzt hatte – das von religiösen Verboten unabhängige Denken – hier zugunsten einer verständnisseligen Darstellung des Islams geopfert wurde. Plötzlich erkannte man in Thompsons Comics just jene intellektuellen Muster wieder, gegen die er mit „Blankets“ doch angetreten war.

Nun ist etwas auf den ersten Blick ganz anderes von ihm erschienen, wieder bei Reprodukt: ein Kindercomic mit dem schönen Titel „Weltraumkrümel“ (im gleichzeitig erschienenen amerikanischen Original „Space Dumplins“). Es ist die Geschichte eines kleinen Mädchens, die mit ihren Eltern in einer Art Wohnrakete am Rande der besiedelten Galaxis lebt; der Vater verrichtet eine Art Recycling-Dienst (anders gesagt: er ist Müllmann), die Mutter ist als Schneiderin in einer großen heruntergekommenen Textilfabrik tätig. Man könnte sagen: eine White-Trash-Familie wie aus dem Bilderbuch oder das in die Zukunft fortgeschriebene Prinzip einer Dritte-Welt-Gesellschaft mit all den Exzessen an Ausbeutung und Wohlstandsunterschieden, wie wir sie kennen.

Das ist interessant, und zudem nimmt Thompson für seine Figuren den ungebärdigen Funny-Stil seines Debütcomics „Good-bye, Chunkie Rice“ von 1999 wieder auf. Vor allem die sidekicks der kleinen Violet, ein etwa gleichalter Junge in Hühnchengestalt und der freche Schrottplatz-Gehilfe Zacchäus, sind wie aus dem Frühwerk übernommen. Dadurch bekommt „Weltraumkrümel“ den Anschein einer Verjüngungskur – nicht nur betreffs des Zielpublikums, sondern auch seiner Graphik wegen. Und erstmals erscheint auch ein Craig-Thompson-Comic in Farbe, was sich allerdings der Mitwirkung des erfahrenen Koloristen David Stewart verdankt, der mit geradezu psychedelischer Palette an die Arbeit gegangen ist, um der rasanten Handlung des Bandes zu entsprechen. Ansehen kann man sich das hier.

Die Handlung auch nur anzudeuten würde angesichts des Umfangs von mehr als dreihundert Seiten voller Action und Verwicklungen vergebliche Liebesmühe bedeuten. Nur so viel: Violet muss sich mit ihren beiden Gefährten auf die Suche nach dem verschollenen Vater machen; ein bisschen lassen da motivisch die „Kinder des Kapitän Grant“ von Jules Verne grüßen, aber was daraus wird, ist zwar ein ähnliches Verwirrspiel, doch zugleich ein gigantischer Spaß. Was nicht zuletzt an der Sorgfalt liegt, mit der Thompson seine Weltraumwelt ausgestaltet hat. Die überbordende Detailfülle seiner oft wieder ineinander greifenden oder komplex verschachtelten Panels ist stets motiviert, und es macht einen Heidenspaß, sich von den Eigenschaften seiner phantastischen Weltraumfahrzeuge oder -siedlungen immer wieder neu überraschen zu lassen, obwohl die dann scheinbar spontan hervorgezauberten technischen Einrichtungen schon Dutzende von Seiten zuvor graphisch angedeutet wurden. Hier ist ein extrem kluger Zeichner am Werk, der in seiner Phantasiewelt stets die Kontrolle behält.

Was aber auch auffällt, ist eine Fülle dezidierter biblischer Anspielungen, die das Geschehen durchdringen und wie im Religionsunterricht immer neue Erklärungsmuster bieten. Offenbar kann sich Craig Thompson nicht von seinen Kindheitserfahrungen im amerikanischen bible belt lösen, und mittlerweile regt sich bei mir Mitleid für diese gebeutelte Seele, die zwanghaft das, was ihr damals eingetrichtert wurde, wieder hervorkramt, um daraus ihre Geschichten zu basteln. Dabei bietet Thompsons visuelle Vorstellungskraft ein Feuerwerk an optischen Gags bis zum Höhepunkt eines in der Müllstraße (tolles Wortspiel, das der Übersetzer Matthias Wieland da gefunden hat) herumwirbelnden Barbarella-Kalenders, dem man ablesen kann, wo der Amerikaner seine Inspiration für diese Weltraum-Tour-de-farce gefunden hat. Als großes Entdeckungsspiel taugt „Weltraumkrümel“ allemal, sobald man aber anfängt, hinter die Kulissen der Story zu blicken, sollte man sich lieber wieder abwenden. Da wird gepredigt, wo wir lieber weiter lachen wollen.

Veranstaltungshinweis

PlakatZum fünften Mal in Frankfurt:

Die große SONDERMANN-Gala 2015
mit Pausen und Trompeten
und den Stargästen Horst Evers und Jens Friebe

Tatata-taa: Der „Sondermann 2015“, der Oscar der Komischen Kunst, geht an den Berliner Maler, Zeichner und Wanderprediger Michael Sowa!

Der Preisträger begeistert seit Jahrzehnten seine weltweit und beständig wachsende Fangemeinde mit grandiosen Bildern aus einer geheimnisvollen Region zwischen Traum und subtiler Komik. Wie kein Zweiter beherrscht er, wie Robert Gernhardt es einmal nannte, das „traditionsreiche Spiel aller sogenannten realistischen Malerei: das Spiel der Täuschung, Verführung und Bezauberung“.

Am 11.11. jährt sich der 57. Geburtstag des 2004 verstorbenen Frankfurter Zeichners Bernd Pfarr, nach dessen Figur „Sondermann“ der seit 2004 verliehene Preis benannt ist. Nun ist er zum fünften Mal in Folge mit der Preissumme von 5000 Euro dotiert. Preisträger des „Bernd Pfarr Sondermanns für komische Kunst“, wie der Preis mit vollem Namen heißt, waren u. a. Rudi Hurzlmeier, Christoph Niemann, Greser & Lenz, Rattelschneck, Eugen Egner und Ernst Kahl.

Vorlese-Stargast des Galaabends mit Scheck und Statue ist der Berliner Bestsellerautor Horst Evers, dessen zahlreiche Bestsellerbuchumschläge (u. a. „Für Eile fehlt mir die Zeit“) durchweg mit Bernd-Pfarr-Motiven gestaltet sind. Für die musikalische Umrahmung sorgt der Berliner Sänger, Liedermacher und Autor Jens Friebe („Nackte Angst, zieh dich an, wir gehen aus“). Außerdem treten auf: Der Preisträger Michael Sowa, Moderator Oliver Maria Schmitt, Andreas Platthaus, Leo Fischer, Leo Riegel, Hans Zippert u. a.

Die Veranstaltung ist lactosefrei, kann aber Spuren von Erdnüssen enthalten!

11. 11. Mousonturm, Waldschmidtstr. 4, 60316 Frankfurt
VVK € 17,40 + Gebühr / AK € 19,- – Tickets hier!

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koenigWenn’s explizit wird, übernimmt der Kollege
von Andreas Platthaus

Ralf König erzählt in seinem neuen Comic von Risiken und Nebenwirkungen der Pornographie. Die dafür notwendigen Filmszenen lässt er von Nicolas Mahle zeichnen. Heraus kommt ein Geniestreich: „Porn Story“

Man kann nicht behaupten, dass sich Ralf König übertriebener Zurückhaltung befleißigte, wenn es um explizite Sexualität geht. Doch seine Comics waren immer geschickt aufgeteilt in Hardcore und Softcore. Letzterer fand sich meist beim großen Rowohlt Verlag, bei dem König schon 1987 seinen kommerziellen Durchbruch mit „Der bewegte Mann“ erlebt hatte, ersterer kam meist Männerschwarm zugute, Königs ursprünglicher Heimat in der schwulen Verlagsszene. Das beste Beispiel für diese „Arbeitsteilung“ war der Doppelband „Raumstation Sehnsucht“ und „Barry Hoden“ aus der Serie „Konrad und Paul“, dessen erster, eher konventioneller Teil bei Rowohlt erschien, während die Science-Fiction-Parodie „Barry Hoden“ bei Männerschwarm herauskam. Dort konnte es naturgemäß unverbrämter zugehen als im Programm eines Publikumsverlags, wobei man König bescheinigen muss, dass er in den fast dreißig Jahren seit „Der bewegte Mann“ immer drastischer, aber auch immer geschickter bei der Darstellung von Sexszenen geworden ist. Die dramaturgische Einbindung in die Geschichten ist so zwingend, dass man als Leser an der Notwendigkeit ihrer Darstellung nicht zweifelt.

Das unterscheidet Königs Comics von Pornographie, und so ist es auch beim neuesten Band, der sich pikanterweise Pornofilmen widmet. Den heterosexuellen allerdings, denn wie es im Comic einmal so schön heißt: „Schwule Pornos sind politisch korrekt“ – keine Erniedrigung eines Geschlechts. Gegen politische Korrektheit zeichnet König an, also konnte ihn das homosexuelle Pornogeschäft als Thema nicht reizen. Und so ist eine Geschichte entstanden, die weitgehend unter Heterosexuellen spielt (eine kurze schule Episode gibt’s zum Ende hin). Sie heißt „Porn Story“.

Der Handlungszeitraum deckt das bisherige Leben des in der Provinz lebenden Familienvaters Eberhard ab, von der Kindheit, in der er die versteckten Super-8-Pronofilme seines Vaters entdeckt, über die Zeit als junger Erwachsener, der seinem besten Freund Friedhelm zum Geburtstag die gemeinsame Teilnahme als Laiendarsteller bei Dreharbeiten für ein Porno-Video schenkt, bis zu dem Tag, als seine Frau Sophia zufällig auf dem Speicher die Porno-DVDs ihres Mannes findet und zunächst ihren elfjährigen Sohn Florian verdächtigt, der aber für solche Dinge längst das Internet nutzt. Die rund dreißig Jahre der – wieder einmal komplett schwarzweiß gehaltenen – Handlung sind also auch eine Mediengeschichte ihres zentralen Vehikels (Leseprobe hier).
Doch das Verhältnis zur Pornographie hat sich nicht wesentlich verändert, und das Verhalten der Männer schon gar nicht. König hat einen sichtbaren Heidenspaß am abermaligen Ausflug in die sexuellen Verdruckst- und Verlogenheiten heterosexueller Paare, denen er sich so gern widmet. Dass seine Frauen dabei entweder nahe an der Hysterie oder als abgeklärte Zynikerinnen auftreten, dürfte sein Publikum gewöhnt sein. Und die Homophobie der niemals braven Ehemänner, die irgendwann durch die Zuschaltung eines grundvernünftigen schwulen Freundes als grotesk entlarvt wird, hat man auch schon oft gelesen.

Das vermindert aber das Vergnügen bei der Lektüre um keine Nuance, denn König bietet auch einiges Neues. Vor allem wenig expliziten Sex (wir sind bei Rowohlt), vor allem aber gar keinen homosexuellen. Wobei es durchaus explizit zur Sache geht, nämlich in den Filmen. Deren Darstellung aber hat König dem Wiener Kollegen Nicolas Mahler überlassen, der diese Aufgabe mit seinem bekannt abstrakt-karikaturesken Figurenstil brillant löst. Die in der Tat geschmacklosen Filmszenen, die sämtlich nach authentischen Pornovideos entstanden sind, kommen so apathisch daher, dass nichts davon sexuelle schockieren, geschweige denn reizen könnte. Dafür amüsieren sie aufs Beste.

Die Porno-Dreharbeiten in Frankfurt (ein Lieblingsort von König in den letzten Jahren; immer wieder verschlägt es Figuren hierhin) zeichnet allerdings Ralf König selbst, allerdings sieht man nie das Resultat. Das ist nur konsequent, denn so ist die Porno-Ästhetik im Buch allein Mahlers Sache. „Das könnte ich mir als angenehme Abwechslung zu Robert Musil vorstellen“, schreibt typisch lakonisch der Wiener Zeichner, der damals gerade die Adaption des „Manns ohne Eigenschaften“ beendet hatte, im vorbereitenden E-Mail-Wechsel an König. Dass dieses die Arbeit am gemeinsamen Band begleitende Korrespondenz im Anhang als „Bonus-Material“ zusammen mit einigen Skizzen abgedruckt ist, darf als letzter Geniestreich dieses Comics gelten. Er ist hochkomisch und hochvirtuos, und er setzt unerwartet nach einem Vierteljahrhundert etwas fort, was König damals mit Walter Moers in dem Piccoloband „Schwulxx-Comix“ schon begonnen hatte (und mit dem Elefant von Otto Waalkes in „Dschinn Dschinn“ immerhin schon einmal zitiert hatte): die Zusammenarbeit mit einem anderen stilistisch unverkennbaren Zeichner. König erweist sich hier einmal mehr als überaus intelligenter Szenarist, der die spezifischen Stärken seiner Kollegen in den eigenen Geschichten perfekt einzusetzen weiß. „Porn Story“ ist ein veritables Meisterwerk. Allerdings wohl nicht so leicht verfilmbar wie „Der bewegte Mann“.

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dickensVariation auf „Oliver Twist“
von Andreas Platthaus

Warum heißt Will Eisners „Fagin the Jew“ auf Deutsch „Ich bin Fagin“? Das ist nur eine Frage, deren Antwort zurückzuführen ist auf das traurige Erbe des Antisemitismus, das dieser Comicband am Beispiel einer Figur von Charles Dickens zu korrigieren versucht

In diesem Band gibt es ein Vorwort von Brian Michael Bendis, dem derzeitigen Szenaristen der „Avengers“ und generell einem der bekanntesten Comic-Autoren der Vereinigten Staaten. Darin schreibt Bendis, dass er, als man ihn 2012 um dieses Vorwort bat, erst einmal an sein Regal gegangen sei, um nachzuprüfen, ob er den Band nicht schon habe. Denn es handelt sich um den Comic eines jener Zeichner, von denen man alles haben sollte: Will Eisner. Bendis aber besaß den Band nicht. Und mir ging es genauso, denn als mich jetzt die deutsche Fassung erreichte, trat auch ich vors Eisner-Regal und stellte fest: Fehlanzeige. Das ist noch blamabler, denn Bendis hat wenigstens nur die amerikanische Erstausgabe von 2003 versäumt, ich dagegen habe auch die Zweitausgabe übersehen, für die er sein Vorwort geschrieben hat.

Um welchen Band geht es? „Fagin the Jew“ aus Eisners späten Jahren (er starb 2005). Oder nun auf Deutsch: „Ich bin Fagin“. Die alles andere als wörtliche Übersetzung führt mitten hinein in das, worum es Eisner ging. Denn sein knapp hundertzwanzigseitiger Comic nahm sich einer literarischen Figur an, die als Inbegriff eines antisemitischen Klischees gilt: dem Bandenchef Fagin aus Charles Dickens 1837/38 in Fortsetzungen erschienenem Roman „Oliver Twist“. Dieser Fagin erscheint darin fast ausschließlich als „Fagin the Jew“ oder auch nur „the jew“, bis Dickens selbst den Roman dreißig Jahre nach der Erstpublikation überarbeitete und das Attribut fast überall strich. Aber da war das Buch längst schon so erfolgreich, dass die Figur Fagin in aller Gedächtnis war.

Sie ist in der Tat unvergesslich, wie ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Ich habe „Oliver Twist“ über eine Kinderschallplatte kennengelernt, die eine radikal gekürzte und natürlich dramatisierte Version der Handlung bot, in der – wenn ich mich recht erinnere – keine Rede mehr davon war, dass es sich bei Fagin um einen Juden handelte. Das wäre bei einer wohl in den frühen siebziger Jahren produzierten deutschen Kinderschallplatte auch seltsam gewesen. Aber dass Fagin ein Erzschurke, der wahrhaft böse Geist dieser Geschichte ist, das wurde auch dem Kind, das noch gar nicht lesen konnte, sehr deutlich. Kaum ein anderer Roman ist derart in Schwarzweiß gezeichnet wie „Oliver Twist“.

Auch heute noch scheut man in Deutschland, wie die Übersetzung von Eisners Buchttitel zeigt, vor der pauschalen Bezeichnung als „der Jude“ zurück. Mit „Ich bin Fagin“ hat der Egmont Verlag eine exzellente Lösung gefunden, denn man muss diesen Titel lesen als eine Absetzung von Dickens: „Ich bin Fagin“, sagt die Hauptfigur aus Eisners Band, der böse Mann aus dem Roman ist es nicht, denn er ist reines Klischee. In einem Nachwort, das vor allem auf die zeitgenössischen Karikaturen in Dickens‘ Epoche und die konkreten Buchillustrationen zu „Oliver Twist“ verweist, erläutert Eisner akribisch, mit was für Vorurteilen im Roman gearbeitet wurde.

Dem setzt er mit seinem Comic eine andere Lesart entgegen. Die ganze Fagin-Geschichte aus „Oliver Twist“ bleibt erhalten, der Protagonist also weiterhin Kopf einer Bande jugendlicher Diebe, die ihm ihre Beute abliefert, damit Fagin sie als Hehler verkauft. Doch das radikal Böse dieser Figur wird von Eisner korrigiert. Bei ihm wird Fagin zum durch eine eigene dunkle Vergangenheit ins Elend Gestürzten, der in der antisemitischen englischen Gesellschaft des frühen neunzehnten Jahrhunderts gar kein anderes Auskommen finden kann als kriminelle Geschäfte. Dabei aber hilft er den Bettlerjungen, die für ihn klauen, zum Überleben, und er ist auch nicht der Denunziant und Intrigant wie bei Dickens, sondern jemand, der selbst vor den Verbrechen, die er begünstigt, zurückschreckt – eine janusköpfige Figur.

Damit ist die Eindimensionalität von Fagin gebrochen, und Eisner liefert uns die Zwischentöne zum Dickensschen Schwarzweißbild. Dass der amerikanische Zeichner das seinerseits in seiner fürs Alterswerk typischen lavierten Tuschetechnik tut, ist nur konsequent: Alle Grauschattierungen kommen hier zum Einsatz. Es ist im wörtlichen Sinne eine Graphic Novel, ein gezeichneter Roman, den wir hier geboten bekommen, und niemand anderer als Eisner hat ja diesen Begriff geprägt, als er 1978 seinen berühmten „Contract With God“ herausbrachte. Damals begann sein autobiographisch begründetes Interesse an jüdischer Geschichte und Kultur publizistische Früchte zu tragen, denn im „Vertrag mit Gott“ schilderte er die Welt der eigenen Kindheit in den zehner und zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in der Bronx, und spätere Bände kamen immer wieder auf die eigenen Erlebnisse als Jude in Amerika zurück, am stärksten 1991 in „To the Eye of the Storm“, in dem er seinen Eintritt in die amerikanische Armee schildert, mit der er Hitler bekämpfen wollte. Als Höhepunkt von Eisners Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus erschien dann kurz vor seinem Tod „The Plot“, sein dokumentarischer Comic über die Fälschung der angeblichen „Protokolle der Weisen von Zion“, in dem er die Publikationsgeschichte dieser berüchtigten Schrift recherchiert hatte. „Fagin the Jew“ war wenige Jahre zuvor eine Fingerübung dazu, hier ausgelöst durch einen Roman, der keine ähnlich verheerende Wirkung entfaltete wie die „Protokolle“, aber doch das negative Bild von Juden in ganz Europa mitprägte. Wie geschickt Eisner sich die Motive von Dickens zueigen macht, sei nur daran gezeigt, dass ganz zum Schluss herauskommt, dass auf Fagin eine reiche Erbschaft gewartet hat – genau wie auf Oliver Twist. Aber der Jude ist hingerichtet worden, wie es im Roman ja vorgeschrieben ist, wenn auch nicht mehr aus eigener Schuld wie bei Dickens, sondern weil ihm Sikes‘ Mord an Nancy hier zu unrecht in die Schuhe geschoben wurde. Die Moral: Oliver Twist und Moses Fagin sind gleich, aber Letzterer hat als Jude niemals eine Chance. Nur deshalb rutscht er ab in die Unterwelt, und aus ihr gibt es für ihn kein Entkommen.

Graphisch ist Eisner, der schon älter als achtzig war, als er „Fagin the Jew“ schrieb und zeichnete, immer noch auf der Höhe seines Könnens (Leseprobe hier). Allein das entsetzte Gesicht Fagins, auf das Eisner blendet, als Sikes Nancy erschlägt, ist schon ein Meisterwerk, nicht nur des elliptischen Erzählens in Bildern, sondern auch der Emotionalität. Wie immer arbeitet er auch ohne Panelumrahmungen, wodurch die Bilder in der Seitenarchitektur ineinander fließen und eine immense Dynamik schaffen. Der Kulturhistoriker und Comic-Kenner Jeet Heer erinnert in seinem Nachwort an Eisners Literaturadaptionen „Don Quijote“, „Hamlet“ und „Moby-Dick“, doch gerade im Verglech mit der Letztgenannten erweist sich die Stärke von „Fagin the Jew“: Bei der Übersetzung von Melvilles Walfang-Roman fiel Eisner nichts Originelles ein, bei der Variation auf „Oliver Twist“ dagegen ging er mit Herzblut zur Sache.

Dass er dabei selbst Klischees benutzt, dürfte ihm bewusst gewesen sein. Er war ja auch gebranntes Kind als Täter, denn in seiner Erfolgsserie „The Sprit“, die 1941 begonnen hatte, war das Zerrbild des schwarzen Jungen Ebony White harsch kritisiert worden – so heftig, dass Eisner (wie Dickens im falle Fagins) später einen Rückzieher machte, nur entfernte er dann Ebony White ganz aus der Serie. Dass Fagin bei ihm nun als Gaunerchef wie ein weißbärtiger Großvater gezeichnet wird, ist ebenso Absicht wie die gnadenlose Darstellung der staatlichen Autorität. Fagin indes als deutschstämmig zu bezeichnen, ist angesichts des alles andere als typischen Namens schon wieder fahrlässig, auch wenn verständlich ist, dass Eisner ihn der aschkenasischen Gruppe englischer Juden zuschlägt und nicht mehr, wie es die Illustrationen zu Dickens taten, den Sepharden. Denn die waren meist wohlhabend, hätten also gar keinen Grund zur Kriminalität gehabt, während die später ins Land gekommenen mitteleuropäischen Juden lange Zeit dem Bodensatz der Gesellschaft angehörten. Doch da merkt man wiederum, dass Eisner zwar viel Sekundärliteraturstudium betrieben hat und trotzdem sein amerikanisches Verständnis von Emigration und Integration dem europäischen einer anderen Epoche überstülpte.
Dem literaturgeschichtlichen Vergnügen bei der Lektüre dieses Komplementärromans zu „Oliver Twist“ tut das indes keinerlei Abbruch. Es macht nur noch neugieriger auf all das, was wir bis heute mit dem Bild „des Juden“ verbinden. Will Eisners Buch ist ein Antidot zur vergiftenden Macht des Zerrbildes.

Comic-Blog

townboyMalaysia bitte für die ganze Welt!
von Andreas Platthaus

Wie blind kann man sein für Meisterleistungen? Durch Zufall habe ich neun Jahre nach dessen Erscheinen einen der Comics meines Lebens entdeckt.

Vor ein paar Wochen habe ich an dieser Stelle Sean Chuangs autobiographischen Comic über seine Jugend in den achtziger Jahren in Taiwan vorgestellt. Dann fuhr ich in Urlaub nach Frankreich und fand dort in einem Comicladen in Dijon einen Band, der bereits vor neun Jahren erschienen ist und ein verwandtes Thema hat: wieder eine asiatische Jugend in schwarzweißen Zeichnungen, allerdings diesmal in Malaysia und in den sechziger Jahren – und vor allem noch besser. Es ist mir unbegreiflich, wie ich dieses Buch neun Jahre lang habe übersehen können.

Denn erst einmal ist es groß: ein prachtvolles broschiertes Querformat, das aus den meisten Bücherreihen herausragt. Es erinnert mich an Cartoonbände von Sempé, und das ist kein Zufall, denn der Autor dieser Jugendreminiszenz namens „Town Boy“ – der 1951 geborene Mohammad Nor Khalid, der sich als Künstler Lat nennt – ist auch viel eher Cartoonist als Comiczeichner. Er nutzt das ungewöhnliche Format seines im malayischen Original 1981 erschienenen Buches für überwiegend ganz-, manchmal gar doppelseitige Einzelbilder, die aber trotzdem erst in ihrer Gesamtheit als Geschichte den ganzen Reiz entfalten. Und diese Bilder sind graphisch mindestens so eigenständig wie die von Sempé.

Obwohl man sich manchmal auch an den berühmten „Mad“-Zeichner Don Martin erinnert fühlt, wenn die Figuren mit verdrehten Beinen einherstolzieren. Kein Wunder, dass umgekehrt wieder der „Mad“-Veteran Sergio Aragones zu seinen größten Bewunderern gehört. Lat hat das Groteske zu seiner Domäne erhoben, aber die Figuren sind dabei immer noch sehr liebevoll porträtiert. Über allem liegt die Bezauberung eines Heranwachsenden für die neue Welt in der malaysischen Großstadt Ipoh, wohin er als Zwölfjähriger mit seiner Familie umgezogen ist. Zuvor lebte man in einem kleinen Dorf.

Auch über diese ländliche Kindheit hat Lat eine Geschichte gezeichnet, die in Frankreich 2003 als „Kampung Boy“ erschienen ist, aber den Band habe ich in Frankreich nicht erwerben können. Ich könnte ihn aber auch in fünfzehn anderen Sprachen suchen – auch auf Deutsch, denn dort ist Lats erster Comic 2008 beim Horlemann-Verlag erschienen und weitgehend unbeachtet untergegangen. „Kampung Boy“ war jedoch der Grundstein für Lats Erfolg in seiner Heimat, wo diese Kindheitserinnerung viele hunderttausend Mal verkauft und 1997 sogar zu einer Trickfilmfernsehserie wurde. Das hat ihm im Westen aber nur bedingt geholfen. Vom französischen Verlag Thé-Troc, der 2006 „Town Boy“ und zuvor auch schon „Kampung Boy“ herausgebracht hat, hört man auch nicht mehr viel Aktuelles. Ein großer Erfolg scheinen die französischen Übersetzungen von Lats Büchern somit ebenso wenig gewesen zu sein (deshalb gibt es auch keine Leseprobe im Netz, übrigens auch nicht von der englischsprachigen Ausgabe von „Town Boy“, die 2008 erschienen ist). Mein Band lag ja offenbar auch jahrelang im Laden herum.

Was darin erzählt wird ist nicht immens witzig, sondern auch interessant. Denn Hand aufs Herz: Was wissen die meisten Europäer von Malaysia? Ich jedenfalls wusste so gut wie nichts, wie ich dann gemerkt habe, denn dem Comic ist ein instruktives Vorwort zur malaysischen Nachkriegsgeschichte aus der Feder der Übersetzerin des Buchs, Christiane Kaddour, beigegeben, und vor allem Lats Schelmengeschichten, die dann folgen, lassen das Bild einer Gesellschaft in einer jungen Nation (Unabhängigkeit erst 1957) entstehen, die sich in allem erst noch finden muss. Ganz wie der Protagonist Lat selbst also, und durch diese Parallele der Kindheit von Hauptfigur und Land, wird subkutan sehr viel klar, was damals in dem südostasiatischen Staat geschehen ist.

Doch ungeachtet allen zeitgeschichtlichen und politischen Interesses an der Herausbildung einer Nation, die heute zu den sehr dynamischen in dieser Region gehört, herrscht die größte Freude über den unglaublich lebendigen Zeichenstil von Lat. Und über den Abwechslungsreichtum seiner Seitenarrangements, den Rhythmuswechsel der Bilder, das untrügliche Gespür für Bilddramaturgie durch Heran- oder auch Wegzoomen. „Town Boy“ ist geradezu ein Kompendium des Zeichnens und hat gleichzeitig durch seine Lockerheit des Strichs eine ästhetische Unschuld, die einem das Gefühl vermittelt, da sei jemand ganz aus dem Augenblick heraus, im Zuge der eigenen Begeisterung fürs Thema, ans Zeichenbrett gegangen. Es gibt selten solche Erlebnisse beim Comiclesen. Ich bin hin und weg.