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Comic-Blogger Andreas Platthaus über gemobbte Elefanten und gewaltige Himalaya-Bilderwelten

Ein Elefant wird gemobbt

Fünf Jahre haben wir auf das neue Bilderbuch von Blexbolex warten müssen. „Unsere Ferien“ knüpft als Comic wieder da an, wo der französische Zeichner aus Leipzig ehedem begonnen hatte.

© Jacoby & Stuart

Der erfreulichste lebende Comic-Export, den Frankreich Deutschland hat zukommen lassen, ist Bernard Granger alias Blexbolex, der seit einigen Jahren in Leipzig lebt. Und dort offensichtlich zufrieden ist, denn seine dort gezeichneten Bücher sind  zauberhaft: „Jahreszeiten“ (2010), „Leute (2012), „Ein Märchen“ (2013) und nun nach immerhin fünfjähriger Pause „Unsere Ferien“. Gezeichnet werden sie immer noch für den französischen Markt, aber mit Jacoby & Stuart hat Blexbolex auch einen treuen deutschen Verlag gefunden.

Zu übersetzen gibt es bei ihm nicht viel, im neuen Band sogar überhaupt nichts außer dem Titel; Blexbolex erzählt seine Geschichte stumm. Sie ist simpel: Ein Vater, der mit seiner Tochter in den Ferien weilt, holt plötzlich noch ein weiteres Kind am Bahnhof ab, das die bisherige traute Zweisamkeit stört, zumindest aus der Sicht des Mädchens. Das versucht, den unerwünschten Gast wegzuekeln, und das gelingt auch. Nicht gerade der naheliegendste Stoff für ein Kinderbuch.

Aber ist „Unsere Ferien“ ein Kinderbuch? Aber zunächst einmal: Ist es ein Comic? Die zweite Frage stellte sich bei den drei Vorgängerbüchern von Blexbolex drängende, obwohl der Künstler in den neunziger Jahren zu den beeindruckendsten jungen Comiczeichnern in Frankreich gehörte und mit der Edition Cornelius auch einen der wichtigsten unabhängigen Comicverlage mitgründete. In seinem neuen Buch gibt es nun wieder Bildsequenzen, auch wenn einige Doppelseiten nur mit einer einzigen Illustration gefüllt sind. Doch wesentlich häufiger werden in die großen doppelseitigen Bilder kleine Panels eingesetzt, die das Geschehen fokussieren. Und es gibt auch Doppelseiten mit mehreren gleichgewichtigen Bildern, wobei Blexbolex stets auf Panelrahmen verzichtet: Gedruckt werden die Bilder bis an den Buchschnitt, und die kleinen stehen wie aufgelegt in den Seiten (Leseprobe). Aber auch wenn dieses seitenarchitektonische Element fehlt und es keine Sprechblasen gibt – „unsere Ferien“ ist ein Comic.

Als Bilderbuch mag es auch durchgehen, zumal Blexbolex seinen nostalgischen Stil noch einmal verstärkt hat. Alles wirkt wie in den fünfziger Jahren oder gar früher, was seinen Grund auch im erstaunlichsten Kunstgriff des Buchs hat: Den ungebetenen Gast zeichnet Blexbolex nicht als Mensch, sondern als kleinen Elefant. Die Assoziationen zu „Babar“, der erfolgreichen französischen Bilderbuchserie, sind evident, und durch die Fremdartigkeit des Tiers, das aber so agiert. Als wäre es ein kleiner Junge, bekommt die Verstörung des Mädchens über den Besuch eine Berechtigung, die nicht allein in Eifersucht besteht. Wobei man andererseits mit einem kleinen Elefanten, der fies behandelt wird, noch mehr mitleidet, als es bei einem realistisch gezeichneten Jungen der Fall wäre.

„Realistisch“ meint übrigens einen Realismus à la Hergé. Er ist der erkennbar wichtigste Einfluss für Blexbolex, gerade auch in den Bewegungen und Positionen seiner Figuren. „Flip und Flupke“ sind da Vorbild gewesen, mehr jedenfalls als „Tim und Struppi“ – schon allein des weniger abenteuerlichen Geschehens wegen. Seine Ligne claire, die hergétypisch gezeichnete Protagonisten wie in Puppenhäuser oder auf Modelleisenbahnanlagen versetzt, ist eine irritierende Erfahrung, weil Blexbolex die Farben mit dem Computer erzeugt und dabei eine leicht verwischte Druckqualität simuliert, die zur düsteren Gesamtstimmung entscheidend beiträgt.

Kein Buch also, das man unbesehen jedem in die Hand drücken sollte; ein gerüttelt Maß an Skepsis gegenüber Kinderverhalten sollte schon toleriert werden. Dann aber wird man belohnt durch eine melancholische Nostalgie, die etwa von solchen Details ausgeht wie einem roten Schienenbus, der den kleinen grauen Gast befördert. Solche Gefährte konnte man in den siebziger Jahren auch auf deutschen Nebenstrecken noch im Einsatz sehen; in der Nähe meines Kindheitsdomizils bezeichnete man diese Nahverkehrsverbindung ironisch als „Balkanexpress“. So etwas wiederzusehen, ist eine Art Madeleine-Erlebnis. Aber Blexbolex ist ja auch im selben Jahr geboren wie ich.

„Unsere Ferien“ hat auch ein phantastisches Moment zu bieten: über nacht- und Tagträume des Mädchens, die an Hayao Miyazakis Filme erinnern. Große Bezugsgrößen also für einen eher kleinformatigen Band, der aber einmal mehr beweist, was wir an Blexbolex haben.


Auf dem Gipfel – thematisch und ästhetisch

Eine Überraschung aus Veteranenfeder kommt nach Deutschland: Der von Jean-Claude Fournier gezeichnete Himalaya-Comic „Die Windpferde“.

Wer kennt noch Jean-Claude Fournier? Jenen bald fünfundsiebzigjährigen französischen Comiczeichner, dem in jungen Jahren, mit fünfundzwanzig, die Bürde auferlegt wurde, eine der erfolgreichsten Comicserien der Welt fortzuführen, „Spirou“, und das auch noch als Nachfolger eines Publikumslieblings, nämlich des zuvor seit zwanzig Jahren dafür verantwortlichen André Franquins – der wenig später auch noch die Verwendung der beim Publikum populärsten Figur, das Marsipulami, in der Serie untersagte. Ein schwerer Start, aber Fournier machte einiges daraus, und weil seine Geschichten, die er im Gegensatz zu Franquin auch alle selbst schrieb, damals in den deutschen „Fix und Foxi“-Taschenbüchern erschienen, war er in den siebziger Jahren hierzulande eine Berühmtheit.

Das war dann 1980 vorbei, als nun Fournier „Spirou“ in andere Hände gab. Er wollte nicht länger festgelegt sein auf Figuren, die er nicht selbst entwickelt hatte, und mit seiner Arbeit an der Serie war deren zweitbeste Zeit ebenso vorbei wie Fourniers Ruhm in Deutschland. Zwar bleiben seine insgesamt neun „Spirou“-Abenteuer permanent verfügbar, aber von den zahlreichen weiteren Comics des Zeichners schaffte es nur die ähnlich gestaltete Serie „Bizu“ über die Sprachgrenze. Sie blieb erfolglos, es erschien kaum etwas von der umfangreichen Reihe, Fournier wurde vergessen.

Ganz vergessen? Nein, ein kleiner Verlag im pfälzischen Wattenheim, Salleck Publications, und sein nimmermüder Chef und einziger Mitarbeiter Eckhart Schott, haben einen Narren an Fournier gefressen. Ein Sonderband zu seinem Schaffen erschien schon 1995, und jetzt, mehr als zwanzig Jahre später, hat Schott noch einmal zugeschlagen und Fourniers im Original zweibändigen Comic „Die Windpferde“  als Gesamtausgabe auf Deutsch herausgebracht. Ein Prachtband mit einem schönen Anhang, der Skizzen zur Geschichte enthält, und das für nicht einmal dreißig Euro.

„Die Windpferde“ kamen 2008 und 2012 in Frankreich heraus, in der anspruchsvollen Reihe „Aire libre“ des Dupuis-Verlags, bei dem auch „Spirou“ erscheint. Dort begab sich Fournier in Gesellschaft von solchen Großmeistern wie Baru, Christophe Blain, Blutch, David B., Nicolas de Crécy, Dupuy & Berberian und Emmanuel Guibert, um nur die mir Sympathischsten zu nennen. Das traute er sich nicht mit seinen eher auf humoristische Aspekte abstellenden eigenen Geschichten, sondern er setzte ein Szenario seines Kollegen Christian Lacroix alias Lax um. Das hatte Fournier selbst angeregt, allerdings nicht das Thema, und als ihm die Idee von Lax auf den Tisch kam, staunte er, denn weder mit Gebirgen im Allgemeinen noch mit dem Himalaya im Speziellen hatte der Bretone je etwas am Hut. Aber die Geschichte überzeugte ihn.

„Die Windpferde“ erzählen vom Leben einer Hirtenfamilie im indische Teil des Himalaya des mittleren neunzehnten Jahrhunderts. Nicht das historische Setting ist dabei entscheidend für den Reiz, sondern die Konstellation der Figuren: Ein stummer Sohn der Familie wird in die Obhut eines buddhistischen Klosters gegeben, um dort Mönch zu werden. Doch mit dieser aus der Not geborenen Entscheidung kommt der Vater nie zurecht, und Jahre später macht er sich auf die Suche nach dem verlorenen Sohn. Da die einzige Möglichkeit, ins abgeschottete Reich Mustang, in dem das Kloster liegt, zu gelangen, darin besteht, es als Spion für die englische Kolonialverwaltung in Indien zu versuchen, tut der Hirte genau dies. Und so kommt eine Abenteuerhandlung in Gang, die man sich auch von Kipling erdacht vorstellen könnte.

Aber das eigentliche Ereignis sind die Bilder von Fournier. Seine Bergwelt ist ein fest für die Augen, und die Aquarellfarben, die er benutzt, beschwören das ausgebleichte Hochgebirgslicht grandios herauf, in dem aber immer wieder winzige Zeugnisse menschlicher Anwesenheit kräftige Farbtupfer setzen. Bis dann das Kloster erreicht wird, und eine Orgie in Rot die Seiten füllt. Es ist oft in der Analyse von Bildern von Farbdramaturgie die Rede, aber selten sieht man sie so anschaulich vorgeführt wie in „Die Windpferde“. Und die Druckqualität der deutschen Ausgabe entspricht genau der französischen.

Der Titel verdankt sich übrigens den buddhistischen Gebetsfahnen, die im Himalaya mit dieser Metapher benannt werden, und man erfährt nebenbei einiges über die dortige Glaubenspraxis. Wie auch über die Geschichte einer Region, die selten im Fokus unserer Aufmerksamkeit steht, wenn es nicht um Alpinismus geht. Nur das Lettering von Michael Beck fällt gegenüber Fourniers Original drastisch ab: zu dick die Buchstaben, zu gedränt die Zeilen. Marcel Le Comte hat aber flüssig und präzise übersetzt. Die Herausgabe dieses Buches ist eine Großtat. Und dass es Fournier auch noch gelingt, die wenigen europäischen Akteure eher karikaturesk zu zeichnen, während die Einheimischen realistisch dargeboten werden, das ist eine intelligente Umkehrung der klassischen frankobelgischen Comictradition.

Daniel Sibbe: „Mein Vorbild Sondermann…“ (5)

Daniel Sibbe, Sondermann-Stipendiat 2017, mit einer exklusiven Werkschau.

MEIN VORBILD SONDERMANN… und was daraus wurde (Folge 5)

Von Berufs- und Irrwegen

Um meine Karriere zum gefeierten Literaten voranzutreiben, habe ich mich zu einem radialen… pardon… radikalen Weg entschlossen. Denn wieschon… wiesch… wie schon die Werke von Hemingway, Bukowski und Fallala… hoppla, hihihi… Fallada zeigen: Die besten Geschichten schreibt immer noch die Leber selbst.

Unter Dichtern: „Darf ich Ihnen das lyrische Du anbieten?“

Alternative Romanenden:

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Als freischaffender Autor kann man sich seine Arbeit oft nicht aussuchen. Momentan bestreite ich meinen Lebensunterhalt mit der Realisierung obszön-ekliger Klappentexte für pornografische E-Books wie „Endstation Eros-Center“ oder „Bumsfidel im Bahnhofsklo“. Das ist zwar nicht befriedigend, aber immerhin sind mit solchen Sauereien 15 Euro die Stunde schnell zusammengeschrubbelt. Ganz ohne Schreiben.

(Fortsetzung folgt)

Andreas Platthaus sieht nur Licht auf Antonia Kühns „Lichtung“

Familiensplitter

Großartig vieldeutig: Antonia Kühn erzählt in „Lichtung“ bildmächtig von einem Elfjährigen, der nach dem Tod seiner Mutter mit den Trümmern des Familienlebens klarkommen muss.

Früher als gedacht – zumindest deutlich früher, als in diesem Blog noch vor zwei Wochen angekündigt –, erscheint ein bemerkenswerter heimischer Comic: „Lichtung“. Seine Zeichnerin stammt aus der Hamburger Talentschmiede der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW), wo Anke Feuchtenberger seit zwanzig Jahren in ihrer Illustrationsklasse Comiczeichner ausbildet: Antonia Kühn. Nicht, dass die 1979 geborene Künstlerin eine Anfängerin wäre, aber „Lichtung“ ist ihr erstes Comicbuch, während sie ansonsten vor allem als Animatorin arbeitet. Das dürfte sich nun ändern.

Denn mit einer Geschichte wie „Lichtung“ gehört man in den engen Kreis der deutschen Spitzenzeichner, und mit Reprodukt hat das Buch auch gleich einen Spitzenverlag gefunden. Worum geht es? Erst einmal – bemerkenswert genug – nicht um eine autobiographische Geschichte. Oder zumindest nicht um eine, die man sofort als solche identifizieren könnte, denn der Protagonist von „Lichtung“ ist ein elfjähriger Junge namens Paul. Dessen Mutter ist vor einigen Jahren unter für ihn einigermaßen rätselhafte Umständen gestorben, und seitdem bemüht sich der im Schichtdienst berufstätige Vater mehr schlecht als recht, die Familie zusammenzuhalten. Was im Falle von Pauls älterer Schwester Laura bereits gründlich schiefgegangen ist: Die Jugendliche treibt sich in einer Gang herum, bei der Drogenkonsum, Sachbeschädigung und Diebstahl zum guten Ton gehören. Das Vakuum, das der Tod der Mutter hinterlassen hat, hat sie mit destruktivem Freiheitsdrang gefüllt.

© Reprodukt

Antonia Kühn macht kein Geheimnis daraus, dass es doch eine autobiographische Keimzelle für ihre Geschichte gab: eine Fotosammlung, die ein verstorbener Verwandter hinterließ. Solch einen rätselhaften Schatz gibt es auch in „Lichtung“, und Paul versucht, mit den Fotos, aus dem Besitz seiner Mutter die eigenen Erinnerungen an sie und das ehedem ungetrübte Familienleben zu vervollständigen. Allerdings lässt die Handlung offen, ob denn zu Lebzeiten der Mutter wirklich alles eine derartig Welt gewesen ist. Die große Stärke von „Lichtung“ liegt in der Mehrdeutigkeit des Erzählten, weil wir als Leser zwar auch nicht mehr wissen als Paul, dafür aber über Lebenserfahrung verfügen, die uns vermuten lässt, dass einige Konstellationen nicht so harmlos waren, wie das Kind sie sieht.

„Lichtung“ als Titel bezieht sich einmal auf ein regelmäßiges Ausflugsziel der noch vollständigen Familie und dann auf die die Lichtung des dunklen Geheimnisses um den Muttertod und der düsteren Stimmung danach. Der Band lässt durchaus optimistische Deutungen zu, aber er schließt mit einer allegorischen Traumszene, die mindestens so uneindeutig ist wie das zuvor Erzählte. Dadurch ist auch der Gesamtgeschichte ein Grundton des Phantastischen beigegeben, der sich nicht einfach in Kategorien wie Gut und Böse verharmlosen lässt, wie es das Schwarzweiß der Geschichte vermuten lassen könnte (Leseprobe: hier).

Besonders meisterhaft ist Antonia Kühns Umgang mit Bildmetaphern, vor allem ihr Gebrauch eines Mobiles, das sich in Pauls Kinderzimmer befand, seit er denken konnte, und bei einem Umzug auseinandergenommen und wieder zusammengefügt wurde – allerdings unter Verzicht auf eine Figur. Dieses fehlende Element, das die ganze Sache aus dem Gleichgewicht bringt oder zumindest weniger komplex macht, wird im Laufe der Geschichte immer wieder mit der toten Mutter gleichgesetzt. Das mag naheliegend klingen, doch wie Antonia Kühn es graphisch umsetzt, ist beeindruckend. Die Mobile-Sequenzen gehorchen anderen seitenarchitektonischen Konzepten als der Rest der Handlung – wie überhaupt die ständig variierende Gestaltung und dabei entstehende variable Verzahnung verschiedener Realitätsebenen ein markanter Zug dieses erstaunlichen Debüts ist.

250 Seiten sind zudem eine Strecke, die erst einmal schlüssig erzählt werden will. Durch Perspektivenwechsel und Zeitsprünge gelingt es Antonia Kühn, ein stetes Gefühl der Verunsicherung, aber auch der Spannung aufrechtzuerhalten. Und dazu kommen Motivassoziationen wie etwa die zu klassischen Totentanz-Darstellungen, die von einem Bildverständnis der Autorin künden, das auch nicht gerade alltäglich genannt werden kann. „Lichtung“ ist der rundum eindrucksvolle Comic einer Erzählerin, der man die eigene Lebenserfahrung anmerkt – etwa so, wie es vor einem Jahrzehnt bei Birgit Weyhe der Fall war, als die (auch bei Anke Feuchtenberger) ihr spätes Debüt vorlegte. Dass in Hamburg das Alter von Comic-Novizen kaum eine Rolle zu spielen scheint, trägt nicht unerheblich zur Vielfalt der entstehenden Bände bei. Ein Glücksfall im Großen (HAW) wie im Kleinen „Lichtung“) für den deutschen Comic.

Sondermann stipendiert

Jedes Jahr ermöglicht der Sondermann e.V. einem Talent aus dem Bereich der zeitgenössischen Komischen Kunst einen dreimonatigen Arbeitsaufenthalt in Frankfurt.

Nun ist es amtlich: Die Sondermann-Stipendiatin des Jahres 2018 ist niemand geringeres als die fabelhafte Paula Irmschler. Seit Februar unterstützt sie der Verein bei ihrem Praktikum bei TITANIC (u.a. bekannt aus „Bild“).

Paula Irmschler wurde 1989 in Dresden geboren, studierte in Chemnitz Politikwissenschaft und zog 2015 nach Köln. Seither arbeitet sie nachts in einem Club als Garderobiere und schreibt tagsüber für Intro, Musikexpress, laut.de, Neues Deutschland, Titanic und Facebook.

Doppelter Ostergruß von Comic-Blogger Andreas Platthaus

Was verstehen wir Deutschen denn schon?

Der Schotte Tom Gauld zeichnet die derzeit geistvollsten Comic-Strips, aber in „Kochen mit Kafka“ werden uns nicht alle zugetraut.

Es beginnt mit dem Titel: „Kochen mit Kafka“. Der klingt schön, denn Alliterationen machen sich immer gut, aber im Original des Verlags Draw & Quarterly heißt der Band „Baking with Kafka“, und wenn man sieht, dass die Coverzeichnung einen hilflosen Kafka mit Ofenhandschuhen vor einer Qualmwolke zeigt, die aus dem Backofen eines Herdes aufsteigt, fragt man sich, warum es vom Übersetzer Christoph Schuler für die deutsche Ausgabe geändert wurde. Aber es stellen sich generell einige Fragen bei dieser Übersetzung.

Nicht, dass man kein Vergnügen bei der Lektüre von „Kochen mit Kafka“ hätte. Geistreicher als der 1976 geborene Tom Gauld witzelt derzeit wohl kein anderer Comiczeichner über die Hochkultur. Denn seine Comic-Strips, von denen hier 152 versammelt sind, haben vor allem Anspielungen auf und groteske Variationen von Literatur zum Thema. Wobei auch Film, bildende Kunst und Geschichtsschreibung veralbert werden. Aber stets so, dass Gauld ein hochgebildetes Publikum voraussetzt. Nicht umsonst erschien der Großteil der querformatigen Strips als wöchentliche Serie in der englischen Tageszeitung „The Guardian“ und der Rest im „New Yorker“ und der „New York Times“. Gauld, der Mann mit der simplen Linie und Figuren, die wie Strichmännchen aussehen, ist derzeit einer der gefragtesten intellektuellen Comic-Autoren. Gut, dass sein letztes Buch so rasch von der Edition Moderne auf Deutsch verlegt worden ist.

Aber warum hat man nicht nur den Titel, sondern auch die Aufmachung des Bandes geändert? Die Titelzeichnung ist gleich geblieben, aber der Titelschriftzug steht jetzt exzentrisch oben links satt wie im Original mittig auf einem Titelschild, das sofort Assoziationen an klassische Buchreihen weckt (im Deutschen etwa an die Insel-Bücherei). Damit ist ein graphischer Gag schon weg, und die gleichfalls auf eine ferne Vergangenheit (Kafkas Lebenszeit eben) verweisende Grün-Braun-Farbkombination für den Hintergrund des Covers ist in der deutschen Ausgabe einem modischen Hellblau gewichen. Das sieht schick zeitgenössisch aus, aber genauso möchte Tom Gauld nicht, dass sein Comic aussieht.

Acht Strips aus „Baking with Kafka“ sind in „Kochen mit Kafka“ nicht enthalten. Sie wurden durch solche ersetzt, die wiederum nicht in der Originalausgabe enthalten waren, so dass kein quantitativer Verlust zu beklagen ist, aber warum just diese acht Episoden ausgetauscht wurden, ist rätselhaft. Gut, sie alle beziehen sich auf englische Kulturphänomene, aber das tut der Großteil der verbliebenen Folgen auch, und Shakespeare oder David Bowie dürften auch in Deutschland bekannt genug sein, dass man über sie Witze reißen kann. Und dass gerade in den Moment, wo der Bertelsmann-Konzern seinen Verlagsnamen Penguin auch in Deutschland heimisch macht, ein wunderbarer Gag über Penguin-Bücher wegfällt, zeigt, dass dem Schweizer Verlag oder seinem Übersetzer oder gar beiden die für eine Gauld-Übersetzung unabdingbare kulturelle Qualifikation fehlt: Vertrautheit mit Tradition und Gegenwart. Es wäre jedenfalls denkbar leicht gewesen, die betreffende Episode ins Deutsch zu bringen; aber man fürchtete wohl, dass Penguin hierzulande zu unbekannt wäre. Ob aber mehr hiesige Leser einen Comic-Strip über Emily Brontes „Sturmhöhe“ verstehen?

Nun aber genug gemeckert, den Lob verdient das Buch auch. Wie da über Autoren, Leser, Verleger, Kritiker gelästert wird, ist wunderbar, weil es mit einer Liebe zu diesen Metiers geschieht, die von größter Liebe kündet. Manchmal erinnert Gaulds Humor an Steven Appleby, aber er zeichnet schematischer und damit gefälliger. Und er ist boshafter. So etwa, wenn – als nur eines von vielen ähnlichen Beispielen – Krimischreiber einen ersten Satz kommentiert bekommen: „‚Verflucht, das führt zu nichts‘, sagte sich der Kommissar, als er über den Indizien saß und die erste Zigarette des Tages rauchte.“ Der abschließende Relativsatz wird von Gaulds Autor gestrichen, die Ersetzung „den ersten Kaffee des Tages kochte“ auch, ehe er bei „den ersten Avocado-Grünkohl-Smoothie des Tages trank“. Das ist zeitgemäßes Schreiben. Aber Tipps für aktuelle Bartmode oder die richtige Lesehaltungen, neueste Erkenntnisse der archäologischen Forschung (Plato als Skateboard-Fahrer auf einem Vasenbild) oder Ausblicke auf die Bibliophilie im Jahr 2500 sind auch nicht zu verachten in diesem reinen Lese- und Schauvergnügen.

vom 27.03.2018


Glaubensfrage

Ein Comic wie ein Faustschlag, den sich die Autorin selbst verpasst: Magdalena Kaszuba erzählt in „Ein leeres Gefäß“ mit großer Intensität vom Identitätsbruch, den ihr der katholische Glaube der Kindheit abverlangt.

© Avant-Verlag

Was ist das? Ein Bilderbuch? Ein Comic? Eine Beichte? Eine Selbstbefreiung? Eine polnische Geschichte? Eine deutsche? Eine alte? Eine gegenwärtige? Eine katholische? Eine atheistische? Magdalena Kaszuba, 1988 in Polen geboren und mit ihren Eltern 1990 nach Deutschland gezogen, erzählt in „Das leere Gefäß“ (Avant Verlag) von sich selbst, von dem kleinen Mädchen der ersten zehn Lebensjahre, bis kurz nach der Erstkommunion. Es ist, so viel sei vorweggenommen, beinahe eine Horrorgeschichte.

Das leere Gefäß des Titels ist Magdalena Kaszuba selbst. Dabei hat sie als Kind so viele Eindrücke sammeln können: im neuen Land, aber auch im alten, denn jeden Sommer fuhr die Familie in den Ferien zurück nach Polen. Und sie hatte die dortige Lebensweise mit nach Deutschland genommen, darunter auch die tiefe Verwurzelung im Katholizismus. Im Alter von sechs Jahren bekam Magdalena Tag für Tag aus einer Kinderbibel vorgelesen, und die polnische Großmutter lebte ihr in den Sommermonaten vor, was Religiosität bedeutet. Doch schon damals verstörten die biblischen Geschichten und die Alltagspraxis des Katholizismus die kleine Magdalena.

Dass sie den Namen der größten Büßerin im Neuen Testament trägt, wird im Comic gar nicht thematisiert; aber die Buße erweist sich als die psychologisch schwerste Last für das Kind, vor allem im Moment der ersten Beichte, die Katholiken vor der Erstkommunion ablegen, um für die Aufnahme ins Gemeindeleben gereinigt zu sein. Die angeblich befreiende Wirkung des katholischen Prinzips der Beichte ist oft beschrieben worden, Magdalena Kaszuba aber berichtet von der Belastung, beichten zu müssen, als Neunjährige, die noch gar nicht hat sündigen können, deren größtes Vergehen es war, die eigene Schuld an einem zerstörten Haushaltobjekt dem Familienhund zugeschoben zu haben. Doch der Priester dringt in sie, und schließlich erfindet sie Sünden, um ihn zufriedenzustellen. Dadurch fühlt sie sich schuldiger als zuvor, ja zum ersten Mal überhaupt schuldig gegenüber Gott: als Lügnerin.

Der Gebrauch von Worten wie „in sie dringen“ oder „zufriedenstellen“ im Kontext von Beziehungen zwischen Priestern und minderjährigen Gemeindemitgliedern ist heikel; wir haben durch die aufgedeckten sexuellen Übergriffe Augen und Ohren weit offen auch nur für Andeutungen eines Missbrauchs. Den gibt es hier aber nur in geistiger Form, als womöglich mit bestem Gewissen vollzogene Schreckensausübung. Diese Vergewaltigung des Schuldgefühls eines Kindes mag nicht justiziabel sein, es ist aber ähnlich schlimm. Zumindest, wenn es sich wie im Falle von Magdalena um ein bereits tief indoktriniertes Mädchen handelt, das aus dem Dilemma von simulierter und echter Schuld nur noch um den Preis herauskommt, radikal mit der eigenen Identität zu brechen. „Das leere Gefäß“ erzählt von diesem Bruch, und der Titel des Comics beschreibt, wie sich Magdalena danach selbst empfand.

Soviel zum Inhalt, der eindrucksvoll genug ist (wenn auch recht schlicht erzählt, aber das trägt hier zur Intensität der Lektüre nur noch mehr bei). Bemerkenswert ist aber auch die Form – eine Lesprobe ist hier zu finden. Zunächst ist da die Rahmenhandlung eines Spaziergangs der mittlerweile fast dreißigjährigen Ich-Erzählerin an einem regnerischen Novembertag durch Hamburg, während dessen sie sich an ihre Kindheit erinnert. Die ganze Stadt, all die Orte, an denen sie vorbeigeht – von Flanieren ist angesichts der Gedankenschwere keine Rede –, werden ihr zu Erinnerungsstützen oder Erinnerungsverstärkungen. Man kann diesen Gang auf der Karte nachvollziehen, wenn man will, einige Plätze sind auch für Nicht-Hamburger leicht zu identifizieren, andere weniger bekannte sind von Magdalena Kaszuba ausgewählt wegen ihrer metaphorischen Nähe zu dem, was ihre Protagonistin wieder heraufbeschwört

Man erkennt sofort die Schulung, die die Autorin durchlaufen hat: An der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften studierte sie bei Anke Feuchtenberger, und aus dieser Talentschmiede sind schon einige der eindrucksvollsten Erzähler des deutschen Comics hervorgegangen (in zwei Monaten darf man die nächste feiern: Antonia Kühn, aber dazu dann mehr, wenn pünktlich zum Erlanger Comicsalon ihr fulminanter Band „Lichtung“ erscheint). Es ist Anke Feuchtenberger hoch anzurechnen, dass sie in ihrer Klasse offenbar keine anderen inhaltlichen Prämissen macht als die der Intensität. Umso wirksamer ist das Beharren auf formalen Aspekten, die nicht im Sinne eines Regelkanons zu verstehen sind, sondern als Konsequenz der Form. Man erkennt Feuchtenberger-Schüler längst nicht mehr an ihrem Strich, sondern am Einfallsreichtum ihrer Seitenarchitektur. Niemand sonst setzt als akademischer Lehrer derzeit beim Zeichnernachwuchs solche künstlerischen Energien frei.

Ein nicht unwesentlicher Teil von Magdalena Kaszubas Comic in seinem klassisch-kleinen Graphic-Novel-Format besteht aus ganz- oder auch doppelseitigen Bildern, Aquarellen, die auf die bei in Panels unterteilten Seiten verwendeten dünnen Tuscheumrahmungen verzichten. Wie Bilder aus einem Skizzenbuch kommen die Stadt- und Vergangenheitsimpressionen daher, stark allegorisch aufgeladen. So etwa jene Doppelseite bei der Ankündigung der bevorstehenden Erstkommunion, die eine Gruppe von Nonnen zeigt, in deren Mitte eine Novizin mit ausgestreckten Armen auf dem Boden liegt – die gewöhnliche Szene des Übertritts in den geistlichen Stand, der Weihe, doch auch eine Szene bedingungsloser Unterwerfung und Ich-Auslöschung, noch gesteigert dadurch, dass Magdalena Kaszuba die Gesichter unter dem Habit blank lässt. Auch diese Frauen, die Gott ihr Leben geweiht haben, sind leere Gefäße.

Mit dem, was der Text erzählt, der Vorbereitung zur Erstkommunion, hat dieses Bild oberflächlich gar nichts zu tun, aber Magdalena Kaszuba agiert auf mehreren Ebenen, zeitlich, inhaltlich, metaphorisch. Und ihre Aquarelltechnik, die meist auf blasse Farben, vor allem Gelb, setzt (einmal allerdings durchfährt eine kräftiger kolorierte Doppelseite die Geschichte wie ein Messer, und tatsächlich ist auf der linken Hälfte prompt der gekreuzigte Christus zu sehen), bringt eine Stimmung der Auslöschung in das Geschehen, die perfekt illustriert, was berichtet wird.

Dieses Debüt ist von einer künstlerischen Kraft, die selten ist, nicht nur im deutschen Comic.

Vor allem auch, weil es keine Befreiungsgeschichte ist, keine Philippika gegen den Glauben, sondern eine konsequente Selbstanalyse, die die Kirche nicht heftiger anklagt, als es Magdalena Kaszuba sich selbst gegenüber tut. Der aus der Verzweiflung geborene Bruch mit dem eigenen kindlichen Ich hat ein leeres Gefäß hinterlassen, und ob es jemals wieder gefüllt werden kann, bleibt bewusst offen. Dadurch ist das Buch auch ein immens mutiger Comic, weil sich darin eine junge Frau zeigt, die immer noch Sehnsucht nach der Geborgenheit ihres kindlichen Glaubens hegt – keine populäre Position in unserer Gesellschaft und Zeit. Aber zugleich auch eine, die womöglich doch einmal einen Weg dazu eröffnen wird, den Hass, den die neunjährige Magdalena sich selbst gegenüber empfand und den sie dann zusammen mit der eigenen Identität austrieb, zu überwinden. Wer über 150 Seiten hinweg so graphisch zu erzählen versteht, der ist ohnehin in jeder Beziehung auf dem besten Weg.

vom 20.03.2018

Comic-Blogger Andreas Platthaus über Regina Hofers „Blad“

Das Mädchen mit der Essstörung

Wer hier auf Ratschläge hofft, wird enttäuscht. Wer sich einfach ein gutes Buch wünscht, dessen Erwartungen werden übertroffen: Regina Hofers eindrucksvoller autobiographischer Comic „Blad“.

„Blad“ ist kein sehr gängiges deutsches Wort, aber wer weiß, dass es für „füllig geformt“ steht (man könnte auch einfach sagen: „dick“), der wird sich des subtilen Witzes nicht entziehen können, den Regina Hofers erster Comic bietet, wenn er dieses Wort zum Titel wählt. Denn blad ist die auf dem Umschlag abgebildete junge Frau gerade nicht. Sie leidet vielmehr, seit sie fünfzehn Jahre alt wurde, an einer Essstörung und ist extrem hager. Bisweilen überkommen sie regelrechte Fressanfälle, weil der Körper ja irgendwie an Nahrung kommen will. Aber schon einer der ersten Sätze beschreibt das entsprechende Dilemma: „Ich habe Hunger und Angst vor dem Essen.“

© Luftschacht

Die Ich-Erzählerin, das wird schnell klar, ist Regina Hofer selbst, der Comic von einer autobiographischen Offenheit, die verblüfft. Wobei seine große Kunst darin besteht, dass denkbar lapidar in Worten und denkbar einfallsreich in Bildern erzählt wird. Die Die Seitenarchitektur ist im Regelfall quadratisch mit vier Panels, die sich aber immer wieder zu größeren Gesamtpositionen ergänzen. Das ist kein originelles, aber unverändert ein extrem wirkungsvolles Stilmittel. Und wenn dann noch so viel mit Symbolen und Abstraktion gearbeitet wird, wie Hofer es tut, hat man einen Band, der aus der Masse deutschsprachiger Comicpublikationen geradezu herausspringt. Leider gibt es im Netz keine Leseprobe.

Verlegt hat den Band der emsige Wiener Luftschacht-Verlag, und auch Regina Hofer, geboren 1976 in Linz, aufgewachsen im Mühlviertel, dann zum Studium ins nahe Salzburg gewechselt, lebt mittlerweile in der österreichischen Hauptstadt. Sie ist Künstlerin, war mir aber bislang noch nicht aufgefallen: Als Animatorin (die sie auch ist) geht man in der Masse des arbeitsteiligen Kollektivs unter, als Zeichnerin findet man selten Beachtung – wenn man nicht publiziert. So viel weiß ich jedenfalls: Auf das, was Regina Hofer neben ihrem Comic noch gemacht hat, bin ich jetzt neugierig.

„Blad“ besteht aus zwei Erzählungen ungefähr gleicher Länge, der Titelgeschichte mit dem Thema Essstörung und aus „Schlachten“, die sich dem Beginn der künstlerischen Kariere im Studium widmet. Dass dabei auch die gesundheitliche Einschränkung eine Rolle spielt, ist unvermeidlich, doch im zweiten Teil geht es viel mehr um die psychologische Herausforderung, die die neue Welt des Hochschul- und Studentinnenlebens abseits des vertrauten familiären Umfelds für die Protagonistin bedeuten. Während sich im ersten Teil just das vertraute Umfeld als besonders abgründig erweist, denn auf Verständnis darf die essgestörte Tochter nicht hoffen.

Die Bedrohung, die ihr eigener Zustand darstellt, wird beklemmend plastisch in den streng schwarzweißen Tuschezeichnungen, die gerne mit schweren Schwarzflächen arbeiten. Wiedererkennbarkeit der handelnden Personen steht nicht im Zentrum von Regina Hofers Interesse, wobei man sie selbst an dem kleinen Muttermal über der Oberlippe zuverlässig identifizieren kann – auch in Bildern, die stark verfremdend agieren. Es gibt aber wiederkehrende visuelle Metaphern wie den Astronauten, dessen Isolation zum Selbstporträt der Autorin taugt (und außerdem wird die Figur von Buzz Lightyear aus „Toy Story“ zum wichtigen Anker zwischen Kindheitsperspektive und rückblickender Betrachtung.

Manchmal zeichnet Regina Hofer wie Tomi Ungerer in den Jahren von „Wild Party“, dann wieder in der Schematisierung traditioneller Bildtopoi wie der Berliner Cartoonist Kriki. Zu Birgit Weyhe kann man Verwandtschaft erkennen und natürlich zu Anke Feuchtenberger, aber die gänzlich unpathetische Erzählhaltung ist ganz Regina Hofers Leistung. Und ihr Umgang mit geometrischen Symbolen ist bemerkenswert: Ist der Kreis mit dem Punkt darin jetzt eine Zielscheibe, steht er für die weibliche Brust, oder ist er Platzhalter für Hofer selbst (das Muttermal!)? Bisweilen macht der Text solche Fragen eindeutig beantwortbar, oft aber obliegt die Deutungsfrage uns. Dieses Vertrauen der Autorin ehrt.

Unberührt wird man aus dieser Lektüre nicht herauskommen. Und unbelehrt auch nicht. Dabei gibt es keine Ratschläge; ja, man erfährt nicht einmal, ob Regina Hofer mittlerweile die Krankheit im Griff hat oder nicht. Aber das vermisst man nicht. Ich habe einiges gelesen, vor allem als Comic, was über Anorexie, Bulimie und ähnliche Phänomene erzählt worden ist. Hier wird ein neuer Ton angeschlagen, der einer abgeklärten Persönlichkeit, die nie weinerlich wirkt und auch nicht verkopft. Es ist geradezu der Musterfall eines Erzähldebüts: Man möchte meinen, mit dieser Stimme schon längst vertraut zu sein, so unaufgeregt klingt sie.

Stammtisch-Nachlese vom 14.02.18

Der Sondermannverein e.V. freut sich über den regen Besuch des ersten Stammtischs in diesem Jahr. Etwa 20 illustre Gäste, u.a. Bernd Eilert, Pit Knorr, Andreas Platthaus, Hans Zippert, Achim Frenz und Bernd Gieseking (nicht in alphabetischer Reihenfolge) fanden sich teilweise pünktlich um 20.00 Uhr in der Gaststätte „Zur Stalburg“ ein und blieben dort (mitunter altersbedingt) bis ca. 23.30 Uhr sitzen. Augen- und Ohrenzeugen berichten von einer heiteren bis gar lustigen Atmosphäre. Zur Überraschung des Besitzers konnten alle Künstler ihre gewaltige Zeche zahlen, was nur einen Schluss zulässt: Nie ging es dem Frankfurter Kulturbetrieb besser – Sondermann e.V. sei Dank!

Andreas Platthaus bloggt und bloggt

Kein Anlass für Katzenjammer, aber ein Anlass für die „Katzenjammer Kids“

In der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Heide findet derzeit eine Ausstellung statt, die sich Rudolph Dirks widmet, dem hierher stammenden amerikanischen Comicpionier. Und dazu gibt es einen hinreißend schönen Katalog.

Ganz hoch oben in der Republik läuft seit einer Woche eine Comic-Ausstellung. Nein, nicht in Oldenburg, das sind es gleich drei, und außerdem geht es noch viel nördlicher. Heide zum Beispiel, eine kleine Stadt in Schleswig-Holstein, genauer gesagt im Dithmarschen, von der Elbemündung ein Stück weiter an der Nordseeküste herauf. Aus der Mitte der Republik nicht leicht zu erreichen. Und deshalb werde ich wohl auch in der Restlaufzeit von noch sieben Wochen (bis zum 22. April) nicht dort hingelangen. Ein Jammer. Aber kein Grund für Katzenjammer. Pardon, aber diese bemühte Überleitung musste sein, denn die Ausstellung widmet sich Rudolph Dirks, einem Kind der Stadt Heide, geboren 1877, aber wer weiß das schon. Was viele wissen: Dirks hat die „Katzenjammer Kids“ gezeichnet, einen Comic-Strip, der seit 1897 in amerikanische Zeitungen gedruckt wird, bis heute. Man merkt schon: Lange geblieben sein kann Dirks in Heide nicht. Aber nun holt sich die Stadt ihren großen, ja man kann sagen: größten Sohn zurück.

Nicht nur mit der Ausstellung, sondern auch mit dem dazu erarbeiteten Katalog. Und der ist der Grund, dass von Katzenjammer für die Leute, die es nicht bis zum 22. April nach Heide schaffen werden, keine Rede sein kann. Denn der Katalog ist länger zu haben, weil er im Verlagsprogramm von Christoph A. Bachmann erschienen ist, dem eifrigsten und qualitativ auch besten deutschen Verlag für Comicforschung. Da passt der großformatige, farbig gedruckte du 136 Seiten starke Katalog glänzend hin, denn es wird profund darin geschrieben. Mit Alexander Braun hat man den größten Expe4rten für alte Zeitungscomics gewonnen (übrigens auch als Leihgeber etlicher Originale und gedruckten Seiten, die bis ins späte neunzehnte Jahrhundert zurückgehen. Dazu kommen Texte des jungen Kurators der Ausstellung, Benedikt Brebeck, deren Qualität zu den schönsten Hoffnungen Anlass gibt. Und auch die übrigen Beiträge, die sich nicht zuletzt auch der Lokalgeschichte der Auswanderung widmen, sind alle lesenswert. Der Band ist einfach sorgfältig gemacht.

© Ch. A. Bachmann Verlag

Alles, was die Ausstellung zeigt, hat auch den Weg ins Buch gefunden. Wobei selbst dessen Bilderbuchformat nicht der Anmutung alter Zeitungsseiten ger4echt wird, und die Dirksschen Originale (ganz alte tauchen seltsamerweise nie auf, nicht auf Auktionen, anderen Ausstellungen oder in Sammlungen die meisten bekannten stammen aus den dreißiger und vierziger Jahren) sind auch sehr groß. Also dürfte der Weg auf die Museumsinsel Lüttenheid in Heide, wo die Schau zu sehen ist, allemal lohnen. Schade, dass die ursprüngliche Planung, das Ganze im Hannoveraner Busch-Museum für Karikatur und Zeichenkunst zu zeigen, nicht einmal mehr zu einem späteren Gastspiel dort führen wird.

Die Ausstellung summiert mehr als anderthalb Jahrzehnte Forschung, die in Gang kam, als Dirks Geburtsort identifiziert wurde (zuvor war er fälschlich als „Heinde“ überliefert worden) und Abgesandte der Stadt den damals noch lebenden Sohn John Dirks in Connecticut besuchten, der später den noch vorhandenen Familiennachlass nach Schleswig-Holstein – so erklärt sich die materielle Grundlage der Ausstellung. John Dirks war seinem Vater in den fünfziger Jahren als Zeichner der „Katzenjammer Kids“ gefolgt (die aus rechtlichen Gründen damals „The Captain and the Kids“ hießen, denn gleichzeitig gab es eine Serie unter dem alten Namen, die von jenem Pressekonzern vertrieben wurde, bei dem Dirks 1897 angefangen und den er 1912 verlassen hatte. Die Figuren durfte er mitnehmen, den Namen der Serie nicht. So gab es den eimaligen Fall, dass zwei beinahe gleiche Comic-Strips für Jahrzehnte parallel liefen. Doch „The Captain and the Kids“ hatte den Vorzug, den Erfinder und dann dessen Sohn als Urheber zu haben.

Ausstellung und Katalog dokumentieren aber auch die andere Serie, die „Katzenjammer Kids“ nach 1912, die lange Jahre in den Händen von Harold H. Knerr lagen, der pikanterweise zuvor schon einige Plagiate von Dirks‘ Stil angefertigt hatte. Die Zeitungen kämpften im frühen zwanzigsten Jahrhundert untereinander mit harten Bandagen, und die Rechtslage war alles andere als klar. Der Streit um die Rechte an den „Katzenjammer Kids“ endete in einem Musterprozess, der dann einiges festschrieb, was seitdem in den Vereinigten Staaten urheberrechtlich gilt.

Noch interessanter als diese Aspekte ist allerdings der Blick, den das Dirks-Forschungsprojekt auf einen weiteren Mann dieses Namens wirft: auf Gustav Dirks, den um vier Jahren jüngeren Bruder von Rudolph, der in Amerika auch als Comiczeichner reüssierte und drauf und dran war, den längst etablierten Älteren in der Gunst des Publikums zu überholen – mit seinem Comic-Strip „Bugville“ –, als er sich 1902 im Alter von nur 21 Jahren umbrachte. Warum, ist unklar, auch die jüngste Forschung hat da keine letzte Erklärung parat: Gus Dirks (wie er sich in Amerika nannte) war aller Wahrscheinlichkeit nach depressiv, und es gibt auch Gerüchte, die von Liebeskummer über eine Frau sprechen, die sich für den Bruder entschieden habe. Aber das klingt eine Idee zu spektakulär, als dass ich es glauben mag.

Von Gus Dirks hat sich allein seiner kurzen Schaffenszeit wegen nur wenig erhalten, aber hier wurden für Heide Entdeckungen gemacht. Etwa, dass er den Bruder bei einigen Folgen der jeweils sonntags erscheinenden „Katzenjammer Kids“ im Jahr 1898 als Zeichner vertrat – der Katalog mutmaßt, Rudolph habe sich als Freiwilliger im Spanisch-amerikanischen Krieg gemeldet, während das für den noch minderjährigen Gus nicht in Frage kam. Außerdem hat Alexander Braun einen Cartoon des legendären Zeichners Frederick Burr Opper aus dem Jahr 1899 gefunden, der auf einer Idee von Gus Dirks beruht (was unter Oppers Signatur akribisch vermerkt wurde).  Der junge Mann war also schon mitten drin im Comic-Geschäft und arbeitete mit den großen Pionieren zusammen.

Wem das jetzt alles viel zu historiographisch ist, der erfreue ich einfach an den grandiosen Zeichnungen, die – dafür sind die „Katzenjammer Kids“ ja berühmt – von Wilhelm Buschs Vorbild ausgehend die Prinzipien des Comics beinahe im Alleingang entwickeln. Oder besser gesagt: im Passgang, denn offenbar haben sich die Dirks-Brüder gegenseitig in ihren Ideen befeuert. Um diese These zu stützen, bräuchte man indes noch mehr Material von Gus. Aber viel inspirierender als das Heider Projekt kann eine Comic-Ausstellung kaum sein. Der Katalog kostet den Spottpreis von 19,99 Euro und kann hier bestellt werden (eine Leseprobe gibt es nicht, aber hier findet man noch Näheres zur Ausstellung). Natürlich gibt es den Katalog auch im Buchhandel, aber warum soll man dem engagierten Ein-Mann-Verlag nicht das ganze Geld gönnen?

vom 01.03.2018


Fabelhafte Fake News

Staunen Sie, den von diesem Comic-Star haben Sie noch nie gehört. Zu Recht, denn Charlie Chan Hock Chye aus Singapur ist eine Erfindung seines Landsmannes Sonny Liew. Und darum nur umso brillanter.

Was wissen Sie über Singapur? Klar: Stadtstaat, größte Sauberkeit (wegen rigider Strafen), Wirtschaftsmetropole, brutale Eroberung durch die Japaner im Zweiten Weltkrieg, fabelhafte Fluglinie. So viel wissen wir alle. Aber über die politischen Zustände dort, die jüngere Geschichte, die knapp zweijährige Zugehörigkeit zu Malaysia? Oder gar über Comics aus Singapur?

Über all das und noch viel mehr erfährt man in „The Art of Charlie Chan Hock Chye“, einer – man kann es nicht anders sagen – grandiosen Comicbiographie eines 1938 geborenen Zeichners aus Singapur. Erschienen ist der mehr als dreihundert Seiten starke Band schon vor drei Jahren, aber bis mir ein Freund aus Djakarta davon erzählte, war es schon 2017. Und nachdem der Band eingetroffen war, schob ich die Lektüre monatelang vor mir her. Bis jetzt. Und nach dieser Lektüre sieht meine Comicwelt anders aus.

© Epigram Books

Sie ist größer geworden, denn nun kenne ich einen fulminanten Zeichner aus Singapur. Und zwar nicht Charlie Chan Hock Chye, denn den gibt es gar nicht wirklich. Ausgedacht hat sich diesen Künstler der 1974 in Malaysia geborene, aber seit langem in Singapur lebende und zeichnende Sonny Liew. Die ganze Biographie Chans ist also fiktiv, die Begleitumstände seines Lebens aber sind es nicht. Es umfasst die ganze Nachkriegsgeschichte Singapurs, also die Befreiung von japanischer Besetzung, den Widerstand gegen die wiederhergestellte englische Herrschaft, die Unabhängigkeit 1959, den erwähnten kurzfristigen Zusammenschluss mit Malaysia und das Aufblühen als Wirtschaftsmacht danach. Aber betrachtet wird das alles aus der Perspektive des Werks von Charlie Chan Hock Chye. Denn Liew dichtet seinem Protagonisten ein politisch engagiertes Schaffen an. Und LIew hat diese Geschichten dann auch eigens gezeichnet.

Und hier wird es spektakulär. Der heute Dreiundvierzigjährige simuliert die Zeichenstile der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, als wäre er bei den großen Meistern in die Schule gegangen. Sein Charlie Chan ist es nämlich zumindest als Leser: Der junge Mann, so erzählt die ihm gewidmete Geschichte, hat Comics von Osamu Tezuka gelesen und deshalb Singapur-Comics im Manga-Stil gezeichnet. Aber auch amerikanische Pulp-Comics, Zeitungsstrips und Disney-Comics, und jeweils nahm er die entsprechenden Gestaltungselemente ins eigene Zeichen auf. Oder Superhelden-Comics. Oder Gekiga (also Manga mit erwachsenen Themen).

In „The Art of Charlie Chan Hock Chye“ finden sich auch Seiten, die von Walt Kelly gezeichnet sein könnten, von Will Eisner, von Harvey Kurtzman, Frank Miller oder sogar Carl Barks. So gut soll dieser Chan gewesen sein. Und so gut ist tatsächlich dieser Sonny Liew (auf der Homepage zum Comic kann man sich das ansehen). Das unterscheidet ihn etwa von dem kanadischen Zeichner Seth, der in „It‘s a Good Life if You Don’t Weaken“ ebenfalls eine imaginäre Zeichnerexistenz samt deren angeblichen Werken geschaffen hatte. Aber da handelte es sich um einen einzigen Stil. Liews Chan dagegen wandelt den seinen im Laufe seiner sechzigjährigen Karriere immer wieder. Was für ein Geniestreich! Was für ein Geniestrich!

In den Vereinigten Staaten, dem Land, wo die meisten der Vorbilder des imaginäre Meisterzeichners stammen, hat man das natürlich rasch gemerkt. „The Art of Charlie Chan Hock Chye“ erschien dort bei Pantheon, also der besten Verlagsadresse für anspruchsvolle Comics in Amerika („Maus“, „Jimmy Corrigan“, „Asterios Polyp“ und viele mehr). Letztes Jahre haben es dann auch die Franzosen gemerkt; dort griff mit Urban Comics ein allerdings noch nicht sehr bekanntes Haus zu. Aber immerhin wurde der Band dort gedruckt, während sich noch kein deutscher Verlag darum gekümmert hat. Um einen der besten Comics der letzten zwanzig Jahre.

Dieses Prädikat hat der Band verdient, weil er einerseits so unglaublich gut gezeichnet ist und weil er andererseits ein Erzählgeschick besitzt, das seinesgleichen sucht. Denn über die angeblich aus früheren Jahrzehnten stammenden Chan-Comics werden in dieser fiktiven Biographie Gespräche geführt, Materialien zusammengetragen und vor allem wiederum Geschichten erzählt, die Politik und Gesellschaft im Singapur seit 1945 anschaulich machen. Fußnoten liefern weitere Informationen zu den realen Hintergründen, und Sonny Liew wiederum tritt selbst als handelnde und kommentierende Figur auf, so dass der Schleier der Illusion immer leicht angehoben bleibt. So gewitzt du vieldeutig ist im Comic wohl noch nie erzählt worden.

Und so herrlich lustvoll gefälscht wohl auch noch nicht. Das Buch quillt über vor Faksimiles von alten Comic-Heften oder Originalseiten, die Chan gezeichnet haben soll, akkurat auf alt getrimmt bis hin zu vergilbtem Papier und Resten von Klebestreifen. Ganze Serien von Probeseiten für nie verwirklichte Projekte werden vorgestellt, und aus der Absage diverser Verlage wird ein neues Comic-Kapitel, das ein Stück Pressegeschichte des Fernen Ostens erzählt. Bis zu vier Erzählebenen finden sich auf einer Seite von Liews Buch, doch deren Trennung wird immer deutlich gemacht durch die graphische Gestaltung: Dem imaginären Chan gehören dabei alle anspruchsvollen Arbeiten, dem echten Liew dagegen die cartonartigen.

Das alles mag komplizierte klingen, als es ist, auch weniger amüsant, als es ist, hermetischer, als es ist. Man braucht Zeit für dieses Buch, viel Zeit sogar, denn es gibt unglaublich viel Text, und fast alles, was erzählt wird, dürfe deutschen Lesern neue sein. Aber wie bei den besten Geschichten von Alan Moore ist der Aufwand, den die Lektüre erfordert, ein reines Vergnügen, weil man Panel für Panel und Fußnote für Fußnote immer klüger wird und auch das Buch selbst immer besser versteht, so dass man am Schluss „The Art of Charlie Chan Hock Chye“ doch fast so schnell lesen kann wie einen vertrauten westlichen Comic. Das ist die Kunst von Sonny Liew, einem Zeichner, der mit diesem Band zu den ganz Großen seiner Zunft gerechnet werden muss.

vom 23.02.2018

Daniel Sibbe: „Mein Vorbild Sondermann…“ (4)

Der 2017er Sondermann-Stipendiat Daniel Sibbe wird Vater.

MEIN VORBILD SONDERMANN… und was daraus wurde (Folge 4)

Familie und Freunde (II)

Was hat man über Hochzeiten nicht alles schon für Sachen gehört. Da erbricht sich der Bräutigam, noch meterbreit vom Vorabend, mitten in der Trauung vor des Pfarrers Füße, die sich plötzlich hintergangen fühlende Ex schreit den Standesbeamten zusammen, oder die Schwiegermutter schneewalzert ihre zwei Zentner volle Breitseite ins Büffet. Nicht so leider bei der Hochzeit meines besten Freundes. Brautpaar, Aufgebot und Gäste erschienen aufgeräumt und pünktlich in Standesamt und Kirche, niemand hatte versehentlich die Trauringe zu Hause liegenlassen, und die anschließende Feier im Gemeindehaus endete Schlag zwei mit Udo Jürgens’ „Ich war noch niemals in New York“. Ich will es meinem Freund nicht so direkt sagen, aber meiner Meinung nach ist diese Ehe jetzt schon zum Scheitern verurteilt.

Wie sehr man sich doch auf den Volksmund verlassen kann, erfuhr ich erst unlängst wieder am sprichwörtlich eigenen Leib. Als frischgebackener Vater überkam mich nach einer langen, harten Nacht ohne Schlaf das plötzliche Bedürfnis, meine Zerschlagenheit durch körperliche Arbeit abzuschütteln. Flugs hatte ich Stehleiter, Kabeltrommel und Elektroschere parat, um die auf über drei Meter hochgewucherte Hecke unseres Gartens auf Gardemaß zurechtzustutzen. Verantwortungsbewusst positionierte ich den Kinderwagen mit meinem mich neugierig betrachtenden Filius in ausreichendem Sicherheitsabstand zur Leiter. Kaum hatte ich die oberste Sprosse erklommen, das anfängliche Schwindelgefühl abgeschüttelt und den ersten schwungvollen Schnitt getätigt, passierte das Malheur. Mein Fuß verhedderte sich unglücklich in einer Schlaufe des Verlängerungskabels. Die, um mein Kind nicht in Gefahr zu bringen, noch arbeitende Heckenschere fest im Griff, versuchte ich mit Ruderbewegungen beider Arme vergeblich das Gleichgewicht zu halten und kippte in hohem Bogen kopfüber von der Leiter. Mein freier Fall wurde lediglich dadurch gebremst, dass sich das rotierende Scherenblatt im Verdeck des Kinderwagens verfing. Wieder auf wackeligen Beinen stehend, konnte ich meine im Schlafanzug herbeieilende, vor Sorge um ihre Liebsten hysterisch kreischende Freundin, welcher Teufel mich geritten habe, um fünf Uhr morgens ihr Baby umzubringen, nach kurzer Feststellung der körperlichen Unversehrtheit von Sohn und Vater mit noch schwerer Zunge direkt beruhigen. Denn wie heißt es doch so schön: Betrunkene und Kinder schützt der liebe Gott.

Bei seinen Streifzügen auf allen Vieren in die geheimnisvollsten Ecken und Winkel seines Elternhauses hat unser Sohn (neun Monate) jetzt den Friedhof der vergessenen Bücher entdeckt und zielsicher das für ihn bestimmte Buch aus dem Regal gezogen. Dem elterlicher Fürsorge geschuldeten ersten Schrecken, dass es sich dabei um „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ handelte, folgte schnell eine nüchterne Abwägung seiner Wahl. Vorteil: Das bereits angesparte Geld zur Finanzierung seines Studiums können wir nun selbst verprassen. Nachteil: David Bowie.

Andreas Platthaus über Florent Sillorays „Capa – Die Wahrheit ist das beste Bild“ (Knesebeck)

Bildergeschichte eines Bilderstreits

Ein biographischer Comic über den Fotografen Robert Capa, der anfangs nur die aus kommerziellen Aspekten geschaffene Kunstfigur eines in Paris lebenden Bildreporterpaars war.

Im Osten der Innenstadt von Leipzig, auf dem Weg durch die Straße des 18.Oktober zur Nationalbibliothek, stehen plötzlich links vor den herausgeputzten Plattenbauten einige Schautafeln auf den Rasenflächen. Sie erinnern an eine berühmte Leipzigerin, deren Namen kaum jemand kennt: Gerda Taro.

©Knesebeck

Aber einige ihre Bilder kennt man: Fotografien aus dem Spanischen Bürgerkrieg, wo die Mittzwanzigerin als mutmaßlich erste Kriegsfotografin der Welt agierte. Allerdings tragen diese Aufnahmen meist nicht ihren Namen, der bereits ein Pseudonym war (eigentlich hieß sie Gerta Pohorylle), sondern den von Robert Capa, dem zweifellos berühmtesten Fotoreporter der Welt. Mit dem Amerikaner war Gerda Taro liiert. Und auch wiederum nicht, denn zusammenleben tat sie mit dem Ungarn Endre Friedman – in Paris, wo beide seit Mitte der dreißiger Jahre lebten; Taro als Jüdin auf der Flucht vor den Nazis, Friedman als Sohn einer armen jüdischen Familie auf der Suche nach einer Karriere. Beide fotografierten, und gemeinsam dachten sie sich 1936 für die gemeinsame Arbeit die fiktive Existenz von Robert Capa aus, der fortan als Urheber der Fotos von Taro und Friedman galt. Und da sich die Bild- und Presseagenturen der damaligen Zeit nur Männer als Fotoreporter vorstellen konnten, spielte Friedman diesen ausgedachten Amerikaner. Und bleib es dann zeit seines restlichen Lebens auch.

Gerda Taro war begreiflicherweise nicht glücklich über die Perfektion, mit der ihr gemeinsamer Plan aufging. Denn dadurch musste sie ihre Urheberschaft an manchen Capa-Aufnahmen der Jahre 1936 und 1937 verleugnen. Ob es auf die Dauer gut gegangen wäre mit dem gemeinsamen Pseudonym, das aber nur einen von beiden ins Rampenlicht rückte, darüber kann man nur spekulieren: Taro starb im Einsatz als Fotografin an der spanischen Front im Juli 1937; sie wurde von einem Panzer der Republikaner überrollt, für deren Seite sie in dem Konflikt entschieden eingetreten war, Ihr Tod kam just zu dem Zeitpunkt, als sie doch noch Aufnahmen unter eigenem Namen veröffentlicht hatte, weil Friedman wieder nach Paris zurückgekehrt war und man also den Kunden gegenüber schwer behaupten konnte, Capa fotografiere noch in Spanien.

So ausführlich erzählen die Schautafeln in Leipzig die gemeinsame Zeit von Taro und Friedman nicht; hier wird an der Einmündung der kleinen Gerda-Taro-Straße in die große Straße des 18. Oktober ans ganze Leben der Fotografin erinnert, und dabei können die letzten beiden Jahre nur kurz Thema sein. Im Sommer 2016 erregte eine mutwillige Beschädigung der Schautafeln Aufsehen; über das Motiv der Tat ist nichts Sicheres bekannt. Jetzt sind sie wieder gereinigt, und man kann das abenteuerliche Leben dieser Leipzigerin kennenlernen. Es hätte einen Comic verdient.

Und im Grunde genommen gibt es den auch, zumindest teilweise, denn Gerda Taro ist auf den ersten 25 Seiten eines kürzlich erschienenen Bandes eine der beiden Hauptpersonen. Die andere aber bleibt es dann allein auf den noch folgenden sechzig Seiten, denn der Comic erzählt von Robert Capa und deshalb ist Endre Friedman die Hauptfigur. Der Knesebeck-Verlag hat den Band ausgerechnet „Capa – Die Wahrheit ist das beste Bild“ betitelt, als hätte es die anfänglicher Schwindelei nie gegeben. Im französischen Original hat der Zeichner Florent Silloray seine Bildergeschichte „Capa – L’étoile filante“ genannt.

Diese Charakterisierung als Sternschnuppe passt auf Friedman wie auf Taro und ist deshalb höchst geschickt gewählt, auch wenn alles aus der Sicht des Mannes erzählt wird. Aber der hatte ja auch den Löwenanteil an Capas Existenz, bis er im August 1954 in Indochina-Krieg auf eine Miene trat und dadurch getötet wurde. Erzählt werden die nicht einmal zwanzig Jahre von Capas Karriere weitgehend chronologisch; nur ganz am Anfang gibt es einen Rückblick auf die Anfänge und dadurch auch auf Gerda Taro. Ansonsten ist das, was Silloray hier macht, so konventionell, wie nur denkbar.

Ist es denn wenigstens dem Bildkünstler Capa adäquat? Keinesfalls. Das Gros der Bilder dieses Comics ist in Sepia gehalten (siehe die Leseprobe des Verlags), und das ist die billigste Methode, eine historische Handlung zu visualisieren. Einige wenige Male gibt es rote Einsprengsel (Titelköpfe von Zeitschriften, Entwicklerflüssigkeit in der Dunkelkammer, Capas Blut nach seiner tödlichen Verwundung), und nach zwei Dritteln der Handlung wird eine dreiseitige Sequenz eingeschoben, die im Grau klassischer Fotoabzüge gehalten ist – das sind die drei Seiten, die von Capas Dokumentation des D-Day, also der alliierten Invasion an den Stränden der Normandie im Sommer 1944, erzählen. Warum dann später noch eine Reminiszenz an die Budapester Kindheit sechs graue Einzelpanels bekommt, ist unerfindlich. Die Farbgebung gehorcht offensichtlich keinem schlüssigen Konzept.

Viele Bilder sind verständlicherweise berühmten Aufnahmen Capas nachempfunden, aber auch das gehorcht eher der Willkür als einem ästhetischen Plan. Es handelt sich beim „Capa“-Comic um einen weiteren der gängigen biographisch-historischen Bände, die ohne künstlerische Originalität oder erzählerisches Raffinement allein von der Prominenz ihrer Gegenstände leben. Anschaulich machen ist ja schön und gut, aber als alleiniger Daseinszweck für einen Comic doch zu wenig. Es sollte schon auch noch etwas durchdrungen werden.

Auf Seite 68 trifft Robert Capa mit den vorrückenden amerikanischen Truppen in Leipzig ein, der Heimatstadt seiner toten Geliebten. Dort wird er eines seiner berühmtesten Fotos aufnehmen: das des angeblich letzten Toten des Zweiten Weltkriegs (so der Titel beim späteren Abdruck) – eines jungen G.I., der von deutschen Heckenschütze erschossen wurde. Das Haus an der Jahn-Allee, wo sich dieses Ereignis abspielte, wurde erst vor wenigen Jahren durch private Initiative vor dem Verfall gerettet; nun steht es renoviert westlich der Innenstadt, in Leipzig als „Robert-Capa-Haus“ bekannt, und es gibt im dort ansässigen Café auch einen kleinen Gedenkraum für den Fotografen. Dort erfährt man nichts von Gerda Taro, dafür muss man drei Kilometer weiter durch die Stadt. Aber aus beiden Leipziger Erinnerungsstätten zusammen ergibt sich doch ein interessanteres Bild als im Comic von Florent Silloray.