Andreas Platthaus: Kloakenarbeiter im Meinungssumpf

Kathrin Klingners „Über Spanien lacht die Sonne“ führt in eine Arbeitswelt, die sich niemand vorstellen mag. Kommentarmanagement im Internet ist eine Wachstumsbranche und schmutzige Arbeit in Reinkultur.

Über Spanien mag die Sonne lachen, aber ein strahlenderes Gelb, als es der Umschlag von Kathrin Klingners Comic mit dem Namen „Über Spanien lacht die Sonne“ bietet, ist auch im tiefsten Süden nicht vorstellbar. Das ist der einzige Farbakzent im ganzen Buch, denn Klingner zeichnet schwarzweiß (siehe die Leseprobe hier), manchmal sogar auf schwarzem Fonds, aber ihr Buchtitel soll ja auch gar nicht auf Spanien anspielen, sondern eine polemische Bemerkung zitieren, die da lautet: „Über Spanien lacht die Sonne, über Deutschland die ganze Welt.“ Selten so wenig gelacht, denn den Spruch kenne ich mutmaßlich seit mehr als vierzig Jahren.

Heute scheint er fröhliche Urständ zu feiern und zwar dort, wo Originalität besonders selten ist: in den Kommentarspalten des Internets. Zumindest wird der Satz von den Mitarbeitern des Unternehmers Holger F. als ein Beispiel dafür genannt, wie einfallslos viele Leserkommentare ausfallen. In Holger F.s Hamburger Büro arbeiten zwei Handvoll prekäre Existenzen am Kommentarmanagement, sie übernehmen also für institutionelle Auftraggeber die Sichtung und gegebenenfalls Entfernung von Netzkommentaren auf deren Internetseiten. Wenig geschätzt und deshalb meist nicht geduldet sind Beschimpfungen, rassistische oder sexistische Bemerkungen, Extremismus. Just deren Urheber aber scheinen sich besonders dadurch auszuzeichnen, immer wieder dieselben Floskeln zu verwenden.

Kathrin Klingner weiß, wovon sie schreibt, und so wissen ihre Figuren auch, wovon sie reden. Klingner, Jahrgang 1979, arbeitet zur Finanzierung ihrer Comiczeichner-Leidenschaft in just dem Beruf, um den es in „Über Spanien lacht die Sonne geht“, und sofern man ihre Schilderungen für akkurat hält, darf man sich wundern, dass und wie sie das verkraftet. Mit Kitty W., einer Novizin des Kommentarmanagements, die zu Beginn des Comics von Holger F. eingestellt wird, hat Klingner sich ein Alter Ego geschaffen – als eine Figur, die als einzige keine Gesichtsumrisslinien besitzt, sondern nur kleine schwarze Ellipsen für Nase, Augen und zwei Ohren: eine Art Phantombild eines Hasen oder Kaninchens, wie überhaupt viele Figuren des Comics Tiergestalt aufweisen: Hunde, Vögel, Wölfe, teilweise heißen sie sogar so. Das war schon 2015 in Klingners Debüt „Katze hasst Welt“ so, an deren Figurendarstellung sich Kitty und Co. optisch orientieren. Die Protagonistin mag also auch als Katze durchgehen.

Mit Disney-Stil hat das nichts zu tun, eher mit einer kindlichen Lust am Charakterisieren durch gängige Klischees. So ist etwa Wolf ein ehemaliger Kneipenbetreiber, der durchaus gewisse Raubtierallüren den Tag legt, Vogel dagegen ist als früherer Weihnachtsbaumverkäufer ein flatterhaftes Naturell, der es selten lange irgendwo aushält. Stück für Stück entfalten sich auf den knapp 130 Seiten immer mehr Details übers Privatleben und die charakterliche Dispositionen der Belegschaft, und Kitty hat ganz en passant eine Affäre mit dem Betreiber eines Nachbarbüros, von dem man nie erfährt, was er eigentlich tut. Man erfährt auch nicht, was Kitty und er an einander finden.

„Über Spanien lacht die Sonne“ ist ein im besten Sinne lapidares Stück Arbeitsweltbeschreibung, das sich als Comic maskiert. In Wahrheit ist alles tragisch, vom simulierten Idealismus des Chefs bis zur fehlenden Solidarität unter den Angestellten. Und ganz besonders tragisch sind die zitierten Kommentare, die wohl aus der Zeit der großen deutschen Flüchtlingsdebatte der Jahre 2015/16 stammen und deshalb meist gegen Merkel oder die „Systempresse“ gerichtet sind: Sie präsentieren eine monotone Misanthropie und Selbstgerechtigkeit, dass man hoffen möchte, sie wären ausgedacht. Doch wer käme auf derartigen Stuss? Sicher nicht eine Autorin, die einen solche aufklärerischen Comic macht.

Womöglich sind die genannten User-Namen sogar authentisch; es wäre leicht herauszubekommen, aber wozu sich in solche Tiefen hinabbewegen. Die auch von den fleißigsten Kloakenarbeitern der Datenverarbeitung nicht ausgemistet werden können.  Kathrin Klingners Blick aufs Netz, auf die Welt und was das Ganze virtuell zusammenhält,  ist ein denkbar dunkler. Mancher Zynismus, auch manche Frivolität provoziert Gelächter, doch eine Komödie ist dieser Einblick in eine deprimierende Dienstleistungswelt nicht. Trotzdem lesenswert. Oder gerade deswegen. Dank an den Reprodukt Verlag, dass er den Mut beweisen hat, den Band herauszubringen. Man darf wohl nicht hoffen, dass damit Beifall beim netzaffinen Publikum zu ernten ist. Aber das darf solche Lebensformbeschreibungen nicht verhindern. Oder auch einen Blog-Eintrag darüber.

Andreas Platthaus: An vorderster Linie

Wer hat noch nichts von Mattias Adolfsson gesehen? Der schwedische Illustrator ist ein ganz Großer seines Metiers, aber er zeichnet sich selbst als kleinen Kahlkopf. In dem steckt aber eine überschäumend witzige Phantasie.

Wer keine Zeit mehr in Museen, Kinos, Konzertsälen verbringen darf, hat mehr Muße zum Lesen. So schrumpfen gegenwärtig die im Laufe der Monate gewachsenen Stapel neben den Ruhemöbeln kontinuierlich zusammen, und so manches Buch ist auch nach langer Wartezeit inhaltlich taufrisch geblieben.

Dieser Befund gilt für Mattias Adolfsson gleich dreifach: Seine Heft-Trilogie mit Arbeiten aus den Notizbüchern ist das Heilsamste, was man derzeit lesen kann – ungeachtet der Tatsache, dass sie in einem Kleinverlag verlegt wurden, der den unheilschwangeren Namen „Sanatorium Förlag“ trägt. Die Schreibweise dieser Firma und der Namen des Zeichners verraten natürlich sofort, dass wir es hier mit schwedischen Comics zu tun haben. Jawohl – mit Comics, denn Adolfsson fertigt in seinen Notizbüchern gerne ganze Geschichten an. Im Grunde genommen erzählt er sogar in all diesen Notizbüchern eine einzige Bildergeschichte.

Es ist die eines niedlichen nickelbebrillten Mannes mit einer Art Wasserkopf, auf dessen Glatze sich (meist zumindest) ein einzelnes Haar kringelt – wenn man will, kann man darin eine „Tintin“-Hommage erkennen. Im zweiten Auswahlband (er heißt „The Second in Line“, während der erste und der dritte logischerweise die Titel „The First“ beziehungsweise „The Third in Line“ tragen – was für ein wunderbares Wortspiel!) stellt das Männchen gleich zu Beginn fest: „My name is Mattias Adolfsson. I am a freelance illustrator.“ Also keine Sorge für den, der – wie der Verfasser dieses Blogs – des Schwedischen nicht mächtig ist: Adolfsson verfasst alle seine Texte auf Englisch. Und viele seiner Zeichnungen brauchen gar keine Worte, so etwa die herrlichen Wimmelbilder mit imaginierten Zimmern in der Behausung des kahlköpfigen Männchens. Das Soane’s House in London ist nichts dagegen. Wer jemals da war, wird sich nun vorstellen können, was dem Betrachter von Adolfsson an Detailfülle geboten werden muss.

Verheiratet ist sein gezeichnetes Alter Ego mit einer Frau, die er in den Notizbüchern mit „the lion“ bezeichnet, obwohl ihre Verhaltensweise kein wildes oder gar räuberisches Naturell zeigt. Das Ehepaar lebt exzentrisch nebeneinander her, und je länger man in den drei japanisch gebundenen Din-A5-Büchern blättert, desto lieber gewinnt man die beiden Hauptfiguren. Inwieweit sie etwas mit dem echten Adolfsson und dessen Gattin zu tun haben (die übrigens anders als in den Notizbüchern zwei Töchter haben), will ich gar nicht wissen. Warum soll ich eine derart sympathische Vorstellung der Gefahr einer Überprüfung an der Realität aussetzen?

Adolfssons drei Zeichnungsbände lagen lange ganz tief in einem meiner Stapel; ich hatte sie vor mehr als einem Jahr bestellt, nachdem ich den Illustrator Peter Schössow in Hamburg besucht hatte (ja, das konnte man damals noch einfach so machen), dessen Wohnung so überreich an Liebhaberobjekten ist, dass man eine starke Affinität zum schwedischen Kollegen vermute darf. Jedenfalls schätzt Schössow dessen Zeichnungen und zeigte mir die drei Hefte. Sie sehen und sofort bestellen, war gleichbedeutend.

Auf Adolfssons Homepage kann man übrigens alle seine Notizbücher virtuell einsehen – und so manches andere, was er graphisch in den letzten elf Jahren gemacht hat. Wer ein schönes, reichbebildertes  Interview mit ihm lesen will, sei auf dieses hier verwiesen. Und am wichtigsten: Wer die bislang drei Auswahlbände bestellen will, der kann das beim Sanatorium Förlag direkt tun, für zusammen 450 Kronen, also nicht einmal fünfzig Euro – ein Witz für so viel Witziges. Und meine Exemplare hatte Adolfsson vor dem Versand auch noch um jeweils eine kleine Zeichnung und seine Signatur ergänzt.

Andreas Platthaus: Berserker mit Herz

Der Splitter Verlag zieht zur Ankurbelung von Comic-Käufen in diesen harten Tagen einen Band vor, der das Barbaren-Genre ziert: „Berserker Unbound“ von Jeff Lemire und Mike Deodato Jr.

Zu den kleinen Gesten, die mir in diesen Corona-Tagen große Achtung eingeflößt haben, gehört die Entscheidung des Bielefelder Splitter-Verlags, einen Teil seiner Neuerscheinungen vorzuziehen. Wieso das? Etliche Literaturverlage verschieben doch gerade Teile ihrer Programme nach hinten und überlegen angeblich sogar, im Herbst den Ausstoß zu reduzieren, um die jetzt publizierten Titel doch noch zur Geltung kommen zu lassen. Splitter argumentiert anders: In einer Zeit, in der die Buchhandlungen schließen müssen, sind diese und die Autoren darauf angewiesen, dass Leser weiterhin Comics bestellen und sich ins Haus liefern lassen (idealerweise von der Spezialbuchhandlung). Je attraktiver da das aktuelle Angebot ist, umso besser.

Und so hat Splitter eine echte Perle vorgezogen: „Berserker Unbound“. Nicht, dass ich selbst für das Genre „Sword & Sandal“ (leichtgemacht für Laien: Das bezeichnet Fantasy à la „Conan der Barbar“) etwas übrig hätte, aber hier hat sich ein Autorengespann an die Arbeit gemacht, das zu schönsten Erwartungen Anlass gibt: Jeff Lemire und Mike Deodato Jr.

Lemire hat vor mehr als zehn Jahren mit „Essex County“ (seine kanadische Heimatregion) einen wunderbaren Independent-Comiczyklus gezeichnet und seitdem mit Bänden wie „Der Unterwasserschweißer“ bewiesen, dass er ein ebenso brillanter Zeichner wie Autor ist. Wobei er erst richtig berühmt wurde, als er 2009 für die großen Superhelden-Verlage zu schreiben begann. Mittlerweile arbeitet er vor allem für DC und hat dort Geschichten um Superboy, Animal Man oder den Joker geschrieben. Und seine eigene Erfindung „Black Hammer“, die Dean Ormston zeichnet, ist im Verlag Dark Horse seit 2016 ein Hit.

Mike Deodato Jr. (einen Deodato Senior gibt’s nicht, der Name ist ein nom de plume des Brasilianers Deodato Taumaturgo Borges Filho – wozu braucht so jemand überhaupt ein Pseudonym?) dagegen wurde nach Anfängen bei DC erst bei Marvel wirklich groß und gestaltete dort unter anderem Hefte mit Thor, Spider-Man, Avengers, Hulk und X-Men, also das Erfolgreichste vom Erfolgreichen. Der brasilianische Zeichner ist berühmt-berüchtigt für seine überbetonte Körperlichkeit, also genau das Richtige fürs Barbaren-Fantasy-Genre.

Und so sieht das Ganze aus: gewaltig und gewalttätig. Gleich zu Beginn rollen die Köpfe im Halbdutzend, nachdem ein namenloser Stammeskönig, der sich selbst Berserker nennt, sein Dorf zerstört und seine Familie ermordet vorgefunden hat. Er begibt sich auf die Jagd nach den Mördern, und bei seiner blutigen Rache verschlägt es ihn in eine Höhle, durch die er in eine andere Dimension fällt – der Klappentext des Comics spricht für diesen Übergang von einem „Wurmloch“, aber wen interessiert’s? Jene andere Dimension ist die unsere: eine amerikanische Großstadt der Gegenwart, und ein Barbarenkönig passt da nicht gut hinein. Nun ja, zumindest äußerlich nicht, aber eigentlich ist ein Berserker – daran lässt der Comic keinen Zweifel – genau das, was man in einer amerikanischen Großstadt neben sich braucht.

Zumindest ist das im Falle von Cobb so, einem schon etwas älteren Schwarzen, dessen Familie bei einem Autounfall gestorben ist und der danach abrutschte in die Obdachlosigkeit. Als die beiden Männer im Wald nahe der Stadt aufeinandertreffen, nimmt sich Cobb des einigermaßen ratlosen Berserkers an und macht ihn streetwise. Wofür sich der Berserker durch tatkräftige Hilfe gegen unerfreuliche Besucher revanchiert. Verstehen können sich die beiden nicht (Cobb hält die Sprache des Berserkers für Österreichisch; das ist eine witzige Hommage an Arnold Schwarzenegger, der durch die Genre-Paraderolle als Conan groß wurde), aber wechselseitiges Verständnis füreinander entsteht: Zwei Witwer teilen ihren Schmerz. Und irgendwann auch den Kampf gegen die Mörderbande aus dem Barbarenreich, die es schließlich in unsere Welt verschlägt. Pech für sie. Nach abermals reichlich blutiger Abrechnung kehrt der Berserker in seine Dimension zurück, nicht mehr allein.

Das ist keine große Comicliteratur, aber ein großer Spaß, wenn man sich fürs Pulp-Metier begeistern kann. Lemire kann das offensichtlich, und seine Begeisterung steckt an. Allemal jedenfalls Deodato, der hier zu Hochform aufläuft und vor allem bei der Seitenarchitektur unglaublich kreativ ist, ohne dabei auf die in Amerika übliche Effekthascherei zu setzen. Nun ist „Berserker Unbound“ im Original nicht bei einem der typischen Superhelden-Verlage erschienen, sondern auch bei Dark Horse, einem durchaus kommerziellen, aber anspruchsvollen kleineren Haus, das seit Mike Mignolas Serie „Hell Boy“ eine Referenz für originelle Genre-Comics darstellt. Die vier Hefte von „Berserker Unbound“, die in der deutschen Ausgabe zu einem großformatigen Band mit allen Umschlagzeichnungen, Variant Covers und ein paar zusätzlichen Skizzen vereinigt sind, sollen als einmalige Zusammenarbeit von Lemire und Deodato gedacht sein. Das wäre schade. Nun aber rasch bei der nächsten Buchhandlung bestellen, was da ist.

Andreas Platthaus: Ich erinnere mich an Uderzo

Einmal bin ich dem jetzt verstorbenen Asterix-Zeichner begegnet. Eine Reminiszenz in Splittern.

Ich erinnere mich … an den 12. Juni 2004, an die Stadt Erlangen im schönsten Spätfrühlingslicht. Albert Uderzo war angekommen, und alle, die sich für Comics interessierten – und das tun in Erlangen seit 1984 mehr Bürger als in jeder anderen deutschen Stadt, weil hier alle zwei Jahre der Internationale Comicsalon stattfindet –, freute sich auf den Asterix-Zeichner. Ein veritabler Weltstar zu Gast. Das passiert der kleinen Universitätsstadt nicht alle Tage. Das Goldene Buch der Stadt lag für den Franzosen schon bereit.

Ich erinnere mich … an die Sitzung der Jury des Max-und-Moritz-Preises, der ich damals angehörte, einige Monate zuvor. Eine feste Kategorie dieser angesehensten deutschen Comicauszeichnung ist der Preis für ein Lebenswerk, und es war jedes Mal eine Gratwanderung, den aktuellen Gewinner zu bestimmen. Nicht, weil es an Auswahl gefehlt hätte, sondern weil man einerseits einen echten Großen des Metiers prämieren will (wobei der Preis undotiert ist), andererseits aber auch sicherstellen möchte, dass er wirklich nach Erlangen zur Preisverleihung kommt. Diesmal hatte das Kulturamt der Stadt ein Signal aus Frankreich bekommen, dass Albert Uderzo sich vorstellen könnte anzureisen. Eine Überraschung, denn es gab gar kein neues Album zu bewerben. „Asterix und Latraviata“ war 2001 erschienen, von „Gallien in Gefahr“, das 2005 herauskommen würde, ahnte noch niemand etwas (was für ein Glück!). Wahrscheinlich hatte der damals bereits siebenundsiebzigjährige Uderzo einfach Zeit übrig. Und Lust, gefeiert zu werden. Aber kann man sich als Jury dadurch die Entscheidung so leicht machen? Zumal angesichts der bescheidenen Qualität der jüngeren „Asterix“-Bände? Aber die älteren! Was gäbe es Besseres. Also fiel der Beschluss einstimmig, Uderzo den Lebenswerkpreis zu geben.

Ich erinnere mich … an die Bauchschmerzen, die es mir bereitete, als im Rahmen der Vorbereitungen zur Preisverleihungsgala im Markgrafentheater die Idee aufkam, dass ich auf der Bühne ein Gespräch mit Uderzo führen sollte. Mein aktives Französisch ist bestenfalls holprig zu nennen. Ob niemand sonst sich berufen fühlte, daran erinnere ich mich nicht.

Ich erinnere mich … an mein frühnachmittägliches Treffen mit dem erst seit wenigen Stunden angereisten Uderzo im Hotel „Bayrischer Hof“, wo der Comicsalon seine Stargäste unterzubringen pflegt. Im Foyer waren Asterix-Aufsteller zum Empfang des Zeichners arrangiert. Er erwartete mich aber zusammen mit einer Übersetzerin auf seinem Zimmer. Taubenblauer Anzug über himmelblauem Hemd, blau gemusterte Krawatte, die Pressekonferenz hatte er gerade hinter sich gebracht. Aber keine Spur von Müdigkeit, fester Händedruck und freundliche Reaktion auf mein gestammeltes Französisch. Dann zur Sicherheit weiter mit der Hilfe der Dolmetscherin. Denn Uderzo hatte sehr genaue Vorstellungen von der abendlichen Vorstellung.

Ich erinnere mich … dass er nicht nur exakt wissen wollte, wie der Ablauf seines Auftritts bei der Preisverleihung sein würde, sondern auch alle Fragen, die ich auf der Bühne stellen wollte, im Voraus schriftlich ausformuliert erwartete. Das war einerseits gut, denn es würde jedes Stocken verhindern. Und es war andererseits schlecht, denn nichts wirkt langweiliger auf ein Publikum als ein Gesprächspartner, der seine Fragen von einem Zettel abliest. Und Uderzo bestand darauf, dass es keine Abweichungen vom abgesegneten Text gebe. Für mehr als drei oder vier Fragen sollte eh keine Zeit sein. In seinem Hotelzimmer immerhin hatten wir gemeinsam eine runde halbe Stunde. Dann wollte er sich ausruhen.

Ich erinnere mich … dass Uderzo wie alle anderen anwesenden Preisträger im Parkett des Markgrafentheaters Platz nahm. Das waren immerhin Ulf K., Volker Reiche und Flix, also gleich drei deutsche Zeichner, die ich sehr bewundere. Aber nur Uderzo wusste schon, dass er auch wirklich einen Max-und-Moritz-Preis erhalten würde, denn die anderen Gewinner wurden erst während der Gala bekanntgegeben. Deshalb fehlte ihm die Spannung, und in Erlangen dauern Preisverleihungen immer viel länger, als geplant. Und Uderzo war selbstverständlich als Höhepunkt vorgesehen. Gut, dass er vorgeschlafen hatte.

Ich erinnere mich … dass, als es endlich doch soweit war, Uderzo mit drei als Asterix, Obelix und Miraculix kostümierten Menschen auf die Bühne kam, wo ihn der damalige Erlanger Oberbürgermeister Siegfried Balleis anstrahlte wie ein Honigkuchenpferd. Apropos Kuchen: Ob der französische Ehrengast wusste, was er mit den ihm übergebenden Max-und-Moritz-förmigen Broten anfangen sollte? Ich erinnere mich lieber nicht an all die vergessenen oder später von den Preisträgern entsorgten Gebäckstücke.

Ich erinnere mich … dass der Jubel im Saal kein Ende nehmen wollte. Und dass Uderzo strahlte. Ein Profi. Der sich herzlich bedankte, auf Französisch. Aber ob ich dann auch nur ein Wort von meinen vorgefertigten und abgesegneten Fragen an ihn losgeworden bin, daran erinnere ich mich seltsamerweise auch nicht. Interessant wären die Fragen eh nicht gewesen, denn natürlich war jeder ursprünglich kritische Anklang, etwa zur Qualität der „Asterix“-Alben nach René Goscinnys Tod, herausgestrichen worden. Daran erinnere ich mich noch richtig gut, vulgo: schlecht.

Ich erinnere mich … dass Albert Uderzo mir beim Abgang von der Bühne auf die Schulter geklopft hat. Habe ich ihn also doch etwas gefragt. Oder drückte er damit nur Zufriedenheit darüber aus, dass ich mich gar nicht erst in seinen Auftritt eingemischt hatte?

Ich erinnere mich … dass ich für verrückt erklärt worden bin, mir von Uderzo kein Album signieren zu lassen.

Ich erinnere mich … dass ich mich erinnern wollte, am Schluss dieser Erinnerungsfolge auf den Leipziger Autor Marcel Raabe zu verweisen, der bis zu diesem März im monatlich erscheinenden Leipziger Stadtmagazin „Kreuzer“ die von Phillip Janta illustrierte Serie „Westen werden“ veröffentlicht hat: mit lauter kurzen Texten, die alle mit der Formulierung „Ich erinnere mich“ anheben. Und dass ich mich deshalb daran erinnert habe, dass schon jemand anderer auf diese Idee gekommen war: der leider mittlerweile verstummte Schriftsteller Uli Becker in seinem 1985 erschienenen Büchlein „Alles kurz und klein“. Ich habe es sehr geliebt. Daran wollte ich auch erinnern. Vor allem aber an den vergangene Woche gestorbenen Albert Uderzo. Der mir so viele Erinnerungen geschenkt hat. Nicht er selbst als Person (dafür gibt es Fotos aus Erlangen). Aber mit seinem „Asterix“.

Andreas Platthaus: Per Asterix ad astra

Zum Tod des französischen Comiczeichners Albert Uderzo

Als Asterix und Obelix ins griechische Olympia einziehen, um als Athleten an den dortigen Wettkämpfen teilzunehmen, durchschreiten sie ein Stadttor, dessen linken Pfeiler ein Relief mit zwei in Togas gehüllten Männern schmückt: Gemeinsam haben sie einen Stier niedergerungen, aber aus dem Mund des einen kommt auf Griechisch das Wort „Despot“, der andere gibt ihm ein „Tyrann“ zurück. Am Fuß des Reliefs ist eingemeißelt, welche zwei Herren hier dargestellt sind: Goscinny und Uderzo.

Man könnte nun meinen, da beschimpften sich zwei. Tatsächlich aber waren René Goscinny und Albert Uderzo enge Freunde, und zusammen hatten sie jene Welt geschaffen, in der sie sich nun selbst ihren buchstäblichen Cameoauftritt bescherten: die Welt von Asterix, dem kleinen gallischen Krieger, der um das Jahr 50 vor Christus unbeugsam Widerstand gegen die Großmacht der römischen Besatzer leistet. Dadurch sind die Namen Goscinny und Uderzo in der Kulturwelt so untrennbar miteinander verbunden wie die von Lennon und McCartney, Laurel und Hardy, Rogers und Hammerstein, Fischli und Weiss oder Fruttero und Lucentini: als in der ganzen Welt bekannte Künstlerduos, deren Werke ihre jeweiligen Disziplinen geprägt haben.

Aber das war 1968, als der eine der beiden, René Goscinny, sich für das Album „Asterix bei den Olympischen Spielen“ diese Selbstreferenz ausdachte und der andere, Albert Uderzo, sie zeichnete, noch nicht klar. Ihre gemeinsame Comicserie gab es da zwar schon neun Jahre, und ganz Frankreich ergötzte sich mittlerweile an den Abenteuern der wehrhaften Bewohner des gallischen Dorfs, aber der Erfolg jenseits der Grenzen ließ noch auf sich warten. Doch just in jenem Jahr 1968 startete endlich auch die deutsche Albenausgabe mit den Geschichten von Asterix dem Gallier, und ausgerechnet bei den Nachbarn, die 1963 im dritten Band der Serie, „Asterix bei den Goten“, noch so böse verspottet worden waren, sollte die Begeisterung noch größere Ausmaße annehmen als im Ursprungsland des Comics. Übersetzungen in Dutzende anderer Sprachen folgten, und heute gibt es achtunddreißig „Asterix“-Bände, deren weltweite Verkaufszahlen nurmehr zu schätzen sind: Mehr als dreihundert Millionen sollen es insgesamt sein. „Harry Potter“ ist nichts dagegen.

Vierundzwanzig dieser Bände stammen von Goscinny und Uderzo, und es wären noch viel mehr geworden, wenn Goscinny nicht 1977 im Alter von nur einundfünfzig Jahren gestorben wäre. In der Woche darauf setzte die Illustrierte „Paris Match“ einen weinenden Asterix aufs Titelblatt, den Uderzo gezeichnet hatte. Wer wird der französischen Presse nun in Tränen aufgelöste Gallier liefern, die den Tod von Albert Uderzo beklagen, der gestern im Alter von zeeiundneunzig Jahren in Neuilly-sur-Seine gestorben ist?

Er hatte nach dem Tod des Freundes „Asterix“ alleine fortgeführt, aber der Einfallsreichtum eines Goscinny war Uderzo nicht gegeben. In mehr als drei Jahrzehnten brachte er es nur auf zehn Alben. Dem gemeinsamen Erbe jedoch fühlte er sich derart verpflichtet, dass er mehrfach verkündete, mit ihm würde auch „Asterix“ sterben – Vorbild war ihm dabei Hergé, der 1983 seine Comicserie „Tim und Struppi“, den anderen ikonischen Comiczyklus der französischsprachigen Welt, mit ins Grab genommen hatte. Es waren dann unerfreuliche familiäre Umstände, die ihn 2012, mit Mitte achtzig, doch noch bewogen, gemeinsam mit der Tochter Goscinnys die Rechte an „Asterix“ einem französischen Großverlag zu verkaufen und damit auch erstmals zu ermöglichen, dass jemand anderer als er „Asterix“ zeichnen durfte. Sein Nachfolger Didier Conrad wird also die tapferen Gallier um Uderzo weinen lassen.

Dass es Conrad in seinen bisherigen vier Alben perfekt gelungen ist, Uderzos graphischen Stil zu imitieren (im Gegensatz zu dem neuen Szenaristen Jean-Yves Ferri, der das Niveau des goscinnyschen Erzähltalent noch nicht erreicht), darf man verblüffend nennen, weil es wenige Comiczeichner gab, die über ein derart herausragendes Talent verfügten. „Asterix“ war ja der letzte Streich des 1927 als Kind italienischer Einwanderer im nordfranzösischen Fismes geborenen Uderzo, der gleich nach dem Krieg als Achtzehnjähriger in ein Zeichentrickstudio eintrat und sich dort zeittypisch vor allem an den Disney-Filmen orientierte, deren auf Kreissegmenten beruhende Figurengestaltung auch dem Personal von „Asterix“ zugrundeliegt. Doch Uderzo beherrschte auch die realistische Stilistik der amerikanischen Comic-Strips, wie man seiner Fliegerserie „Michel Tanguy“ ansehen kann – auch sie zusammen mit Goscinny erdacht. Die beiden jungen Männer hatten sich 1951 kennengelernt, nachdem Goscinny aus den Vereinigten Staaten zurückgekehrt war, wo er sich erfolglos als Cartoonist versucht hatte. In Uderzo erkannte der verhinderte Zeichner den idealen Partner, und der wiederum kitzelte durch die Perfektion und Leichtigkeit seines Strichs das Beste an Goscinnys Witz hervor. Doch obwohl in den fünfziger Jahren zahlreiche gemeinsame humoristische Serien wie „Belloy“ (ein superstarker Ritter), „Jehan Pistolet“ (ein wagemutiger Freibeuter), „Luc Junior“ (ein schlauer Reporter) oder Umpah-Pah (ein kampfeslustiger Indianer) entstanden, brachte erst „Asterix“, für den Goscnny etliche Elemente aus diesen Vorgängern nutzte, den Durchbruch.

Als die erste Episode von „Asterix der Gallier“ 1959 erschien und gleich mit dem Kampf des Titelhelden gegen Cäsars Armeen einsetzte, lag die jüngste Besetzung Frankreichs erst anderthalb Jahrzehnte zurück, und Charles de Gaulle, die Symbolfigur des französischen Widerstands gegen die Deutschen, hatte gerade das heute noch gültige Präsidialsystem der Fünften Republik geschaffen und selbst das höchste Staatsamt angetreten. Uderzos und Goscinnys Gallier wurden in Frankreich als Verkörperung des neuen staatlichen Selbstbewusstseins gelesen, und am gallischen Wesen sollte in den Comics bald die ganze Antike genesen, als Asterix und sein kräftiger Freund Obelix in den Folgebänden aus ihrer bretonischen Provinz aufbrachen, um erst in Paris die Römer zu bekämpfen („Die goldene Sichel“), dann Unruhe nach Germanien zu tragen („Asterix bei den Goten“), den Widerstand in die Hauptstadt des römischen Imperiums zu verlagern („Asterix als Gladiator“) und danach so ziemlich jedem unterdrückten Volk des Riesenreichs beizustehen: Briten, Griechen, Spaniern, Schweizern, Korsen oder Belgiern.

Und so wechselte die Serie hin und her zwischen Abenteuern, die im gallischen Dorf angesiedelt waren, und solchen, die Asterix in die antike Welt hinausführen. Vor allem Letztere gaben Uderzo phantastiche Möglichkeiten, sein Können vorzuführen: in den karikaturesken Darstellungen der besuchten Völker, in seinen Dekors mit römischen Bauwerken („Diese neuen Aquädukte verschandeln noch die ganze Landschaft“, mäkelt Asterix auf dem Weg durch sein Gallien) oder in den zahllosen Details, die jedes Wiederlesen der Alben zu einem Neulesen macht, weil man zuverlässig auf bislang Übersehenes stößt. Mitte der sechziger Jahre hatte Uderzo dann auch die endgültigen Physiognomien seiner Helden gefunden, und so erwartete das Multimillionenpublikum jedes neue „Asterix“-Album wie eine Heimreise in ein tiefvertrautes Altertum.

In seinem letzten (Narren-)Streich mit „Asterix“ ließ Uderzo 2009 zum fünfzigsten Geburtstag der Serie die Bewohner des gallischen Dorfs mit einem Schlag vergreisen und trat dann selbst noch einmal als Figur in deren Welt ein: „Hallo, Kinder! Mir ist ein einzigartiges Experiment gelungen, das in die Comicgeschichte eingehen wird. Es ist mir gelungen, euch um fünfzig Jahre altern zu lassen! Lustig, oder?“ Nein, es war nicht lustig. Und es war auch nicht einzigartig. Denn Uderzo hatte seine Figuren ja schon fünfzig Jahre am Leben erhalten. Das können nur wenige Comiczeichner von sich behaupten. Aber eine Figur wie Asterix geschaffen zu haben, das ist wirklich einzigartig. Dafür gehört Albert Uderzo nicht nur nach Olympia, er gehört in den Olymp.

Andreas Platthaus: Die Kunst des Künstlercomics

Büke Schwarz zeichnet mit „Jein“ eine beeindruckende autobiographisch grundierte Erzählung. Das Private wird politisch und umgekehrt. Der deutsche Comic hat ein neues Gesicht.

Es gibt Debüts, die verblüffen. „Jein“ von Büke Schwarz ist so eines. Der Comic der 1988 geborenen Berlinerin erscheint beim Jaja Verlag, der sich in den letzten Jahren mit Geschick und Geschmack mit kleinen, aber feinen Publikationen in die vorderste Reihe der deutschen Comic-Häuser vorgearbeitet hat, doch einen so dicken Band wie „Jein“ hatte man bislang weder herausgebracht noch hätte ich ihn dort vermutet. 220 fast albengroße Seiten zählt die Geschichte, dazu kommen sieben Seiten (meist entbehrliche) Anmerkungen zu Details der Handlung. Das Geschehen umfasst, ganz wie der Klappentext verheißt, „Kultur, Politik, Identität, Kunst und den ganzen Rest“.

Was an „Jein“ vor allem interessiert, ist der ganze Rest, den man auch einfach „Privates“ nennen könnte. Dieser Band ist eine der schönsten Selbstbetrachtungen, die der deutsche Comic hervorgebracht hat. Kein Wunder, dass mit Ulli Lust und Barbara Yelin just zwei Zeichnerinnen vom Jaja Verlag mit Lobesworten über „Jein“ zitiert werden, die mit „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ und „Irmina“ die Maßstäbe auf diesem Feld gesetzt haben.

Wie nahe das Geschehen von „Jein“ am realen Leben von Büke Schwarz ist, vermag ich nicht zu sagen, nur zu vermuten. Mit ihrer Protagonistin Evâ Wolf teilt sie den biographischen Hintergrund als Kind einer türkischen Familie, das seinen deutschen Nachnamen durch die zweite Ehe ihrer Mutter bekam. Schwarz ist auch Künstlerin wie Evâ Wolf, lebt wie diese in Berlin, und dass ihr gezeichnetes Selbstporträt auf der Umschlagklappe einige Ähnlichkeit mit ihrer Hauptfigur hat, ist unübersehbar. Sie kennt also Szenerie und Lebensumstände ihrer Evâ Wolf aus eigener Anschauung. Und das trägt zur Eindringlichkeit von „Jein“ entscheidend bei – egal, wie authentisch die Abläufe der Handlung sein mögen.

Worum geht es? Evâ Wolf bekommt 2017 von einer Berliner Kunstmäzenin (ein phantastisches Porträt dieses Typs) einen Preis zugesprochen, der mit einer Ausstellung verbunden ist, die sie gemeinsam mit drei weiteren Preisträgern durchführen soll. In die Vorbereitung fällt das türkische Verfassungsreferendum vom 16. April 2017, in dem eine knappe Mehrheit der Wähler die von Staatspräsident Erdogan vorgeschlagenen Reformen billigte, mit denen dessen Macht gefestigt wurde.

Unter den in Deutschland lebenden Türken war die Zustimmung größer als in der Türkei selbst, was für liberale Landsleute oder Deutsche wie Büke Schwarz, die sich dem Land und seiner Kultur biographisch nahefühlen, schwer zu ertragen war. Entsprechend schwer nimmt denn auch Evâ Wolf den Wahlausgang und vor allem die das Ergebnis feiernden Türken in Berlin. In den unterschiedlichen künstlerischen Konzepten ihrer Kollegen wird bei der Vorbereitung und Durchführung der Gemeinschaftsausstellung darüberhinaus für Evâ die Differenz in der Verquickung von Politischem und Ästhetischem sichtbar.

Ein großes Thema: „Kultur, Politik, Identität, Kunst“ eben. Wo bleibt da noch Platz für den „ganzen Rest“? Der besteht just in den Reaktionen von Evâ Wolf, in den Folgen, die der Ärger über das Referendum für ihre Arbeit und ihr Privatleben hat – bei Letzterem allerdings betrifft die Enttäuschung mehr den Umgang mit ihrer Mutter als den mit ihrem Freund Jonas. „Jein“ als Titel verdankt sich nicht nur dem im Comic für die Gemeinschaftsausstellung gewählten Titel, sondern viel mehr der Zerrissenheit der Protagonistin zischen Privatem und Politik, Ästhetik und Engagement, vor allem aber Deutschland und der Türkei. Das wird auf dem Titelblatt des Bands ganz deutlich, dem in großer, aber nahezu unsichtbarer Blindprägung die türkischen Worte „evet“ (ja) und „hayir“ (nein) eingedruckt sind, angeordnet genau unter dem deutschen Titelschriftzug „Jein“, links und rechts einer Bruchlinie, die sich von oben bis unten durch die Zeichnung zieht und das Covermotiv in eine Berliner und eine Istanbuler Hälfte teilt. (Auf der Seite des Verlags kann man neben dem Titelblatt auch einige Seiten des Comichandlung sehen – und ein gezeichnetes Autorinnenporträt, das deutlich weniger Ähnlichkeit mit Evâ Wolf aufweist als das im Buch.)

Spaltung also ist das Thema, und zwar eine Spaltung, die sich durch Evâ Wolfs ganzes Selbstverständnis zieht. Dass davon ihre Beziehung zu Jonas unberührt bleibt, ist ein Schwachpunkt der Handlung. Auch das nur halb offene Ende, das die Künstlerin beim Abflug nach Istanbul zeigt, wo sie sich nun engagieren will, ist arg plakativ angesichts dessen, dass es eben ein offenes Ende sein soll. Evâs von der Mutter geschiedener Vater wird präsentiert wie das Klischeebild eines türkischen Nationalisten. Die radikale Reduktion auf die Protagonistin, wenn es um Ambivalenzen geht, ist die große Schwäche von „Jein“.

Doch es gibt auch große Stärken. Das zweite Kapitel etwa, „Manifesto“ betitelt, nach einem Essayfilm von Julian Rosefeldt mit Cate Blanchett in der Hauptrolle. Etwa genauer Beobachtetes, komischer Erzähltes als die Szene von Evâ Wolfs Kinobesuch dieses Werks habe ich lange nicht als Comic gelesen. Es ist eine grandiose Kurzgeschichte, nur sechs Seiten im Kern, und dann noch zwei weitere, die die isolierte Episode in die große Handlung einbinden – und auf diesen beiden Zusatzseiten zeichnet Büke Schwarz, als hätte sie bei der Arbeit daran gerade Catherine Meurisse für sich entdeckt. Ein Genuss, stilistisch und inhaltlich!

Daneben versteht es Büke Schwarz auch meisterhaft, die formalen Prinzipien des Comics für ihre Charakterisierung von Evâ Wolf zu nutzen. Panelränder etwa können aus Schutzbedürfnis von der Protagonistin einfach eingefaltet und um sie herum geschlungen werden – wie eine isolierende Papierschicht. Es gibt Einzelseiten, auf denen wir einfach nur den Überlegungen der Künstlerin bei der Arbeit zusehen, statt sie in Sprechblasen ausgebreitet zu bekommen. Genau so muss man im Comic erzählen, wenn man nicht einfach nur illustrierte Thesenprosa verfassen will. Und dass die Geschichte bis auf die farbig aquarellierten doppelseitigen Kapitelbezeichnungen ganz in Schwarzweiß erzählt wird, obwohl angesichts der – bemerkenswerterweise nie genau gezeigten – Malerei von Evâ Wolf Farbe nahegelegen hätte, zeigt Büke Schwarz’ dezidiertes Distinktionsbedürfnis bei ihren eigenen zwei Ausdrucksformen. Die Kapitelüberschriften drehen übrigens das Verhältnis zwischen Deutsch und Türkisch vom Titelblatt herum: Nun stehen die türkischen Formulierungen groß oben, darunter dann kleiner die deutschen.

Büke Schwarz hat ein riesiges Comic-Talent, und manchmal fühlt man sich an Hamed Eshrats Band „Venustransit“ erinnert, der 2015 erschien. Nicht, weil auch da ein Deutscher migrantischer Abstammung eine subtil Kunst und Privates verbindende autobiographisch grundierte Geschichte erzählte, sondern weil man beim Lesen spürt, dass zwar alles in diese beiden Bände hineingepackt wurde, was die jeweiligen Autoren aktuell bewegte, und trotzdem noch Ideen für vieles weitere darin angelegt sind.

Andererseits hat es immer wieder mehr oder minder beeindruckende Comics gegeben, die von Künstlern gezeichnet wurden – berühmtestes Beispiel ist natürlich „Traum und Lüge Francos“ von Picasso, aber seit einigen Jahren kennen wir auch Gerhard Richters „Comic Strip“ von 1962. In der gegenwärtig jungen Künstlergeneration – Menschen in einem Alter wie Büke Schwarz – sind solche Experimente schon deshalb gängiger, weil sie viel selbstverständlicher mit Comics aufgewachsen sind: als selbst künstlerische Ausdrucksformen, nicht einfach nur als Gegenkultur, wie es die Künstlergenerationen davor empfunden haben. Dennoch besteht das Risiko, dass Comics wie „Jein“ einmalige Arbeiten bleiben, Momentaufnahmen aus einer Stimmung heraus – wenn auch die Anfertigung einer solchen „Momentaufnahme“ Monate erfordert. Es wäre ein Jammer, wenn Büke Schwarz sich nach „Jein“ wieder ganz ihrer „normalen“ Kunst widmen würde. Auch wenn sie augenblicklich sicher denken wird, sie hätte alles in ihrem Comic erzählt, was ihr auf den Nägeln brennt. „Jein“ lässt eines ganz deutlich spüren: Das hat sie nicht.

Andreas Platthaus: Übernahmeversuch geglückt

Der „New Yorker“ ist doch schon das weltweit wichtigste Forum für Cartoons. Wieso da noch eine Spezialausgabe zum Thema? Weil man da erst richtig zeigen kann, wie man zeichnend erzählen kann. Und über Zeichnen.

Vier Wochen lang keine Comics lesen – das ist mir lange nicht mehr passiert. Aber das Land, in dem ich mich aufhielt, hat keine übermäßig große Zeichner- oder Szenaristenschar zu bieten, und es liegt auch zu fernab von allem, als dass in den dortigen Buchläden mehr als das zu finden wäre, was man eh schon kennt – und der großen Distanz wegen liegt es dort auch noch etwas später als überall sonst auf dem Planeten. Aber das kann bisweilen auch sein Gutes haben.

Von früheren Besuchen hatte ich Magnation gut in Erinnerung, ein Spezialgeschäft für Magazine aus aller Welt, allerdings zu neunundneunzig Prozent englischsprachige. Dort stieß ich Mitte Februar auf eine bereits zwei Monate alte Ausgabe des „New Yorker“, die mir im Dezember wohl aufgrund des allgemeinen Weihnachtstrubels entgangen war: „Cartoon Takeover“ steht auf dem Titelblatt, und genau das passiert in diesem Heft mit dem Coverdatum 30. Dezember 2019 denn auch. Es ist nahezu zur Gänze Cartoons gewidmet.

Nun ist der „New Yorker“ ja ohnehin nicht weniger als die Kathedrale des Cartoons, und das schon, seit er 1925 zum ersten Mal erschien, also vor 95 Jahren. Von Beginn an regelmäßig mit humoristischen Einzelillustrationen durchsetzt, sind sie bis heute das Markenzeichen des Blattes geblieben. Fotografie gibt es im „New Yorker“ überhaupt erst seit den neunziger Jahren, und noch heute überwiegen die Illustrationen deutlich. Als Art Spiegelmans Ehefrau und Mitstreiterin Francoise Mouly 1993 zur Artdirektorin des Magazins wurde, kam auch noch das dazu, was zuvor gefehlt hatte: Comic-Kompetenz. Seitdem darf man im „New Yorker“ selten, aber doch zuverlässig auch mit Bildergeschichten rechnen. Und die Zahl der internationalen Comicgrößen, die in den letzten drei Jahrzehnten Umschlagzeichnungen für die Zeitschrift angefertigt haben, ist kaum mehr überschaubar. Ich nennen mal nur Robert Crumb, Jacques de Loustal, Chris Ware, Joost Swarte oder Adrian Tomine.

Warum aber dann überhaupt eine Spezialausgabe zum Thema „Cartoon“, wenn doch jede Einzelnummer die Kunstform so breit präsentiert? Die derzeitige Cartoon-Redakteurin des „New Yorker“, Emma Allen, rechtfertigt die Entscheidung im ersten Beitrag zur wöchentlichen Klatsch- und Klassekolumne „The Talk of the Town“ mit einer kleinen Fiktion: Alle anderen Mitarbeiter wollten in die Weihnachtsferien gehen, also habe man kurzerhand die Cartoonabteilung eingesperrt und ihr das Heft überlassen. Und die hat ganze Arbeit geleistet.

Der umfangreichste Artikel des Heftes widmet sich Roz Chast, der hauseigenen Cartoonistin. Wobei „hauseigen“ Unsinn ist, denn der „New Yorker“ hat noch nie einen Cartoonisten fest beschäftigt, nicht einmal Charles Addams, der aber immerhin ein eigenes Büro im Redaktionsgebäude besaß. Roz Chasts Karriere aber ist auch als freie Mitarbeiterin untrennbar mit dem Magazin verbunden, und Adam Gopnik, der staff writer mit der größten Cartoonkompetenz, hat die 1954 geborene Zeichnerin besucht und porträtiert. Schönheitsfehler dabei: Eine besonders große Rolle im Artikel spielt Roz Chasts Nebenbeibeschäftigung als Mitglied im Ukulele-Trio „Ukulear Meltdown“, dem aber auch Gropniks eigene Gattin angehört. Da wäre eine strikte Trennung von privatem und redaktionellem Interesse angeraten gewesen. Aber ein schönes Porträt ist es denn doch geworden.

Diverse Zeichner und Autoren sind von der Redaktion nach ihren Lieblings-Cartoons aus der „New Yorker“-Geschichte gefragt worden, und die genannten Zeichnungen werden kommentarlos abgedruckt – ein wunderbares Sammelsurium, das aber auch die Kurzsichtigkeit der Menschen belegt, denn das meiste stammt aus den letzten dreißig Jahren. Ganz besonders wunderbar indes sind die literarischen Texte im Heft: eine grandiose Imagination der Zivilklage der Trickfilmfigur Wile E. Coyote gegen den Haushaltswaren Hersteller Acme, dessen Markennamen, wie Animationskenner wissen werden, auf vielen Objekten der Warner-Bros.-Kurzfilme der vierziger und fünfziger Jahre prangt. Aus der Feder des wohl literarisch wichtigsten Autors der langen „New Yorker“-Geschichte, dem Schriftsteller John Updike, wird eine kurze Reminiszenz an seine jungen Versuche, Cartoonist zu werden, geboten (inklusive dreier eher missratener Zeichnungen). Oder Jonathan Lethems Erzählung „Super Goat Man“ über einen abgehalfterten Superhelden im universitären Betrieb. Enttäuschend dagegen, weil kein bisschen cartoonbezogen, die short story „I Can Speak“ von George Saunders. Da hat die Prominenz der Verfassers über die inhaltliche Komponente gesiegt. Schade.

Und dann gibt es Comics. Einmal die tragikomische autobiographische Erzählung „How to Draw a Horse“ von Emma Hunsinger, zehn Seiten lang, wie aus einem Skizzenbuch entnommen, aber wunderbar in der Verquickung der Unfähigkeit der jungen Zeichnerin, ein Pferd zu zeichnen und einer bewunderten Mitschülerin ihre Zuneigung zu gestehen. Dann sind da drei jeweils einseitige Comics von Emily Flake über Erlebnisse mit ihrer kleinen Tochter – hinreißend beobachtet und erzählt. Und es gibt die nur zweiseitige Erzählung „Lines“ von Ebony Flowers über ihre Großmutter Victoria, die als farbige Frau häuslicher Gewalt und institutionellem Rassismus ausgesetzt war. Flowers‘ Zeichnungen setzen am schönsten die ästhetische Linie der klassischen „New Yorker“-Cartoons fort. Was dann der letzten vertretenen Comic-Arbeit, Liana Fincks „Hammurabi’s Code of Manners“ leider ganz misslingt. Aber gleich vier Zeichnerinnen und kein einziger Zeichner – das ist ein starkes Frauenstatement. Vor allem neben den ausschließlich von Männern verfassten Prosastücken im Heft.

Diese Ausgabe ist ein beglückendes Vademecum. Und sie hat in den zwei Monaten seit ihrem Erscheinen nichts an Aktualität verloren, weil hier ausnahmsweise kein einziger Veranstaltungstip oder politischer Kommentar enthalten ist. Es ist dadurch ein „New Yorker“ wie aus dem Bilderbuch – zeitlose, elegant, witzig. Den werden wir auch in 95 Jahren noch gerne lesen.

Andreas Platthaus: Da hat der Heidegger wieder mal unrecht

Warum hat man Bauchschmerzen bei einem derart hochgelobten Comic? Ken Krimsteins „Drei Leben der Hannah Arendt“ stellt uns vor ein doppeltes Problem.

Ken Krimsteins „Die drei Leben der Hannah Arendt“ ist keine Comic-Biographie der Philosophin, die sich lieber als „politische Denkerin“ bezeichnete. Dafür spielt das Leben der 1906 geborenen Arendt eine zu geringe Rolle, auch wenn der Titel gleich deren drei beschwört. Übrigens nur in der deutschen Übersetzung, denn das im amerikanischen Original 2018 erschienene Buch trägt eigentlich den Titel „The Three Escapes of Hannah Arendt“. War dem DTV-Verlag die Rede von „Fluchten“ zu negativ, weil Leser es als Passivität oder gar feige empfinden könnten? Womöglich läge gar eine Assoziation zu „Ausflüchten“ nahe? Aber warum dann nicht „Das dreifache Entkommen der Hannah Arendt“, was gleichzeitig einen geradezu heideggerschen Zungenschlag in den Titel gebracht hätte? Wo Martin Heidegger doch eine gewichtige Nebenrolle in diesem Comic spielt.

Wie auch nicht, wo doch Arendt und er in beider jungen Jahren ein Liebespaar waren, als die Ostpreußin bei dem frisch auf seinen Marburger Lehrstuhl Gelangten war? An einer Universität, die in der deutschen Fassung als „100 Jahre alt“ bezeichnet wird (im Jahr 1924). Nun ist in der Tat Krimsteins korrekte „400“ in der englischsprachigen Fassung vom Schriftbild her leicht mit „100“ zu verwechseln, aber dass die Marburger Universitätsgründung nicht im frühen neunzehnten Jahrhundert erfolgte, hätte zumindest das Lektorat eines renommierten Verlags wissen müssen, wenn es schon dem denkbar gebildeten Übersetzer nicht auffällt.

Dieser Übersetzer ist Hanns Zischler, einer der weltweit prominentesten deutschen Schauspieler, aber auch – und das wiegt hier schwerer – ein höchst belesener Mensch mit besten Kenntnissen über Philosophie und preußische Geschichte. Man kann dem comicunerfahrenen Publikumsverlag DTV verzeihen, dass er die Graphic Novel eines hierzulande völlig unbekannten Zeichners über eine leider viel zu wenig bekannte Meisterdenkerin mit einem prominenten Übersetzer aufwerten will. Das hat Kiepenheuer & Witsch bei Allison Bechdels „Fun Home“ vor Jahren genauso gehalten, als man Denis Scheck für die Übertragung gewann. Man kann DTV nur wünschen, dass „Die drei Lebender Hannah Arendt“ nicht ein ähnliches Verkaufsdesaster werden wie Bechdels exzellenter Comic, den man teuer eingekauft, aber viel zu wenig verkauft hatte.

Ken Krimstein wird es den Marketingstrategen des Hauses nicht leicht gemacht haben. Sein Stil ist nicht comicartig, sondern cartoonesk – siehe die Leseprobe. Das ist ein wichtiger Unterschied, denn Krimstein kommt von der Illustration her, er arbeitet unter anderem für den „New Yorker“, also im Weihetempel der Presseillustration. Mag sein, dass der relative Erfolg seiner auch nicht gerade gefällig zeichnenden Kollegin Roz Chast mit ihren bei Rowohlt übersetzten Büchern den Ausschlag für die Entscheidung von DTV gegeben hat, Krimsteins Arendt-Buch zu publizieren. Aber es ist nun einmal kein Band, der beim raschen Aufblättern durch graphische Opulenz besticht. Die Zeichnungen wirken eher krude, obwohl Krimstein ein blendender Porträtist ist – man schaue sich nur mal den Alterungsprozess der Arendt über die insgesamt 230 Seiten hinweg an! Aber er ist eben Cartoonist, und es ist im Englischen so: Jeder Comiczeichner ist Cartoonist, aber nicht jeder Cartoonist ist Comiczeichner.

Also erstes Problem: krude (um ein unangemessenes, aber emotional richtiges Wort zu gebrauchen) Zeichnungen, und das bei der Geschichte einer Frau, die so kühl und klar dachte wie wenige Menschen sonst. Dagegen spricht nicht, dass sie sich Hals über Kopf in Heidegger verliebte, eher ist es ein weitere Beleg dafür, denn so radikal wie der siebzehn Jahre ältere Philosoph dachte in den zwanziger Jahren niemand. Diese Faszination blieb auch nach dem Bruch, als Arendt 1933 nach Prag ins Exil ging und Heideggers akademische Karriere unter den Nazis erst richtig Fahrt aufnahm, aber sie galt dem Denker, wie ein Blick in Arendts seit 1950 geführte Notizbücher beweist: Neben Kant ist Heidegger da der meistgenannte Philosoph.

Also nur recht, dass Heidegger so oft im Comic auftritt. Aber dass er von Krimstein konsequent ins Unrecht gesetzt wird? Natürlich ist Heideggers Seins-Philosophie gegenüber Arendts Tätigkeits-Ideal weltfremd, aber diese Welt-Fremdheit war ja in Heideggers (und lange Zeit auch Arendts) Augen gerade der Clou, weil sie mit allem brach, was Menschen dachten, über sich und das Dasein zu wissen. Arendt wurde immer pragmatischer, Heidegger immer enigmatischer. Wobei Krimstein sich erkennbar nicht über zentrale Gedanken hinaus mit Heideggers Philosophie beschäftigt hat – der Briefwechsel mit Arendt ist seine Quelle für Zitate, während er zum Beispiel die berüchtigten „Schwarzen Hefte“, die der Philosoph während des „Dritten Reichs“ als Notizbücher führte, nicht für sein Porträt im Comic ausgewertet wurden – schade. Zudem bleibt Heidegger im Gegensatz zu Arendt auffällig jung – und konsequent hitlerähnlich mit seiner schmalen Erscheinung und dem schwarzen Oberlippenbärtchen, das im Alter aber natürlich ergraute, während der Mann selbst immer fülliger wurde. Und ob Heideggers Frau wirklich auf Arendt als „diese Jüdin“ herabgeschaut hat, woher will Krimstein das wissen?

Aber plakativ darf es ja in einer Graphic Novel durchaus sein, wenn schon sonst die graphische Verlockung nicht eben groß ist. Wie steht es nun um die Textebene. Und damit kommen wir zum zweiten Problem: der Übersetzung. Von den „Drei leben“ war schon die Rede. Der Titel ist deshalb Unsinn, weil die jeweiligen Kapitel gar nicht das ganze Leben von Hannah Arendt umfassen, sondern eben nur jene drei Fluchten (von Marburg nach Berlin, weg von Heidegger nämlich und in eine Ehe mit Günther Stern, der sich später Günther Anders nennen und ebenfalls berühmt werden sollte, aber das erfährt man nicht im Comic, sondern nur im Personenregister, in dem allerdings der Eintrag „Stern“ fehlt; dann von Berlin nach Prag uns später Paris vor den Nazis; und natürlich als dritte die aus Europa nach Amerika, wieder vor den Nazis). Das Leben vorher und nachher aber macht immerhin ein Viertel der Graphic Novel aus. Und der Untertitel des amerikanischen Originals, „ Tyranny of Truth“ (Eine Tyrannei der Wahrheit) taucht im Deutschen gar nicht auf, dabei arbeitet er großartig mit zwei Zentralbegriffen der arendtschen Theorie und kombiniert sie auf beklemmende Weise zu einer Charakteristik des Lebens der Denkerin.

Dafür gibt es in der Übersetzung das schon erwähnte Register, aber man möchte wissen, wer es erarbeitet hat. Zischler jedenfalls nicht, denn da taucht etwa aus seiner Domäne, dem Filmgeschäft, der Beitrag zu Mel Brooks auf, in dem dessen Film „The Producers“ aufs Jahr 1956 datiert wird, satte zwölf Jahre zu früh, was man einfach im Comic selbst hätte nachlesen können. An anderer Stelle baut nun sicher Zischler eine (historisch korrekte) Nennung von Marseille ein, wohin Arendt radelt, um eine Fluchtmöglichkeit aufzutun. Unglücklicherweise lässt Zischler aber im Bild danach Walter Benjamin „fünfzig Kilometer weiter östlich“ auf die Pyrenäen zustapfen. Die Pyrenäen liegen westlich von Marseille. Bei Krimstein steht zwar auch „östlich“ (wenn auch vierzig Meilen statt fünfzig Kilometern, auch längenmäßig ein Unterschied), aber der hat Marseille nicht erwähnt, also kann man sich die radelnde Arendt woanders denken. Pech, wenn man historische Korrekturen anfügt, aber den inhaltlichen Anschluss übersieht.

Dafür hat wohl Zischler wiederum Krimstein auch hilfreich korrigiert, weil sich in der deutschen Fassung eine Fußnote zur grässlichen Pariser Ausstellung „Le Juif et la France“ findet, die im Comic auf die Vorkriegszeit verlegt wird, tatsächlich aber erst unter deutscher Besatzung 1941 stattfand – was die Fußnote ausweist und damit zumindest verhindert, dass man dem Zeichner diesen Fehler um die Ohren haut. Warum Zischler aber das englische Wort „college“ in seinen deutschen Dialogtext übernimmt, das bei uns immer wie „Schule“ klingt, obwohl Krimstein damit „Universität“ meint, ist rätselhaft – zumal wohl niemand in den dreißiger Jahren das Wort „college“ für die Marburger Universität gebraucht hätte.

Nun aber auch noch die Stäken der „Drei Leben“: Was Krimstein da bisweilen auf den Seiten inszeniert, etwa bei der Bebilderung des berühmten Schwarzwald-Nachkriegstreffens zwischen Arendt und Heidegger oder auch bei der beginnenden Liebe zwischen Arendt und Heinrich Blücher im Pariser Exil, das ist wundervoll anzusehen. Gesichter werden zu Masken stilisiert, Figuren sprengen die Panel-Randlinien, und wenn auch noch Walter Benjamin auftritt, überschlägt sich der offenbar vollkommen faszinierte Krimstein vor Einfallsreichtum. In einer Seite, die Arendt Ende der vierziger Jahre beim Nachdenken über die Ursprünge des Totalitarismus zeigt, finden sich überdeutliche Bezüge auf Donald Trump, so dass die Aktualität der arendtschen Theorien betont wird, und wie dezent Krimstein der Tod der leider noch gar nicht so alten Dame im Jahr 1975 ins Bild setzt (oder besser gesagt: gerade nicht), das ist ebenfalls meisterlich. Wer also die Sprödigkeit der Zeichnungen vernachlässigt, und der deutschen Übersetzung mit etwas Toleranz begegnet, der wird intellektuell belohnt bei der Lektüre. Und das kann man nun wirklich nicht von allzu vielen Comics sagen.

Andreas Platthaus: Diese Helden sehen alt aus

Die jüngste Fortsetzung der klassischen Serie „Blake und Mortimer“ hat eine Sensation: den Zeichner Francois Schuiten. Und eine beklagenswerte Schwäche: alles andere.

Nie haben Blake und Mortimer so alt ausgesehen, und dabei sind sie ja schon seit 1946 im Comicgeschäft. Das ist sowohl comichistorisch wie inhaltlich richtig, denn das erste Abenteuer, in dem der belgische Zeichner Edgar Pierre Jacobs seine beiden britischen Helden auftreten ließ, „Kampf um die Welt“, erschien 1946 im Magazin „Tintin“, und das Geschehen, das darin erzählt wurde, fand in der unmittelbaren Gegenwart statt: einer Nachkriegswelt, die allerdings ganz andere Züge trug, als die Realität. Der Leutnant Francis Blake und der Physiker Philip Mortimer hatten es mit einem asiatischen Diktator zu tun, der die kriegszerrüttete Menschheit unterwerfen wollte. Die in Europa altbekannte „gelbe Gefahr“ ließ grüßen; an Klischees ist diese Serie traditionell sehr reich.

Mit Jacobs‘ Tod schien sie 1987 zu Ende, denn wer sollte dieses Mammutprojekt, in dessen akribischen Ligne-claire-Bildern es Textmengen zu bewältigen galt wie in keiner anderen erfolgreichen Comicserie, bewältigen? Jacobs hatte sie immerhin sein halbes Leben lang gezeichnet, und am Ende waren die Abstände zwischen den Einzelbänden wie bei seinem Lehrmeister Hergé immer größer geworden; allerdings machte Jacobs auch alles selbst. Als er starb, lag „Mortimer gegen Mortimer“ unvollendet vor, aber Bob de Moor, wie Jacobs ein wichtiger Hergé-Assistent, brachte das Abenteuer zu Ende. Danach sollte es gut sein. Aber warum, sagten sich die Erben, darf ein Riesengeschäft so einfach mit seinem Begründer sterben?

Also erschien 1996 mit „Der Fall Francis Blake“ das erste Album, mit dem Jacobs nichts zu tun hatte, immerhin gezeichnet von Ted Benoît, der den Stil des Serienschöpfers so perfekt imitierte, dass kein Bruch zu sehen war. Und mit Jean van Hamme setzte man einen der renommiertesten Szenaristen auf die Geschichte an. Zum großen Erfolg wurden die Fortsetzungen aber erst zur Jahrtausendwende, als mit André Juillard nicht nur ein großer Könner, sondern auch ein Bestseller-Zeichner die Feder bei „Blake und Mortimer“ führte. Er wurde gemeinsam mit dem Szenaristen Yves Sente zum Rückgrat der Serie, und die Pausen zwischen den Bänden des Duos füllte man mit Arbeiten von weiteren Hoffnungsträgern, die aber alle nicht recht überzeugten. Inzwischen aber wurde „Blake und Mortimer“ immer berühmter, vor allem nachdem der größte Teil des Nachlasses von Jacobs in den Besitz der König-Baudouin-Stiftung übergeben wurde. Seitdem ist Jacobs mehr noch als Hergé der belgische Comic-Nationalheilige.

Und vor wenigen Wochen ist der jüngste Band der Serie erschienen – derjenige, in dem Blake und Mortimer so alt aussehen. Er heißt „Der letzte Pharao“, und wer bei dem Titel nicht an „Das Geheimnis der großen Pyramide“ denkt, das Jacobs Anfang der fünfziger Jahre publiziert hat, der kennt „Blake und Mortimer“ nicht (wer sein Gedächtnis auffrischen will, tue das hier). Tatsächlich zitiert der neue Band schon mit der Anfangssequenz das siebzig Jahre alte Abenteuer (man ist noch einmal mit Balke und Mortimer im Inneren der großen Pyramide von Gizeh), doch im Laufe der Handlung führt das Geschehen in ein Brüssel der achtziger Jahre, wenn man das Aussehen der Computer in den Büros als Maßstab nehmen darf. Es ist eine alternative Weltvergangenheit, denn im Justizpalast von Brüssel, einem Protzbau aus der Kolonialzeit des kleinen Landes, der selbst wie eine Pyramide über der Stadt thront, wurde in den siebziger Jahren (wenn man das Aussehen Autos als Maßstab nimmt) eine seltsame Strahlung frei, die eine Evakuierung der belgischen Hauptstadt erforderlich machte. Doch einige Bewohner sind in der künftigen No-go-area zurückgeblieben und begründen dort eine neue Gesellschaft, die sich vor allem in den Katakomben der Metropole ansiedelt und eine quasimystische Weltanschauung pflegt.

Nun dürfen Comickundige dreimal raten, wer für eine solche Geschichte wohl verantwortlich ist, und das Moebius tot ist, sollten sie sofort auf Francois Schuiten kommen. Dessen gemeinsam mit Benoît Peeters konzipierte Serie der „Geheimnisvollen Städte“ gab die Blaupause her für ein Szenario, das problemlos auch in diesen Zyklus gepasst hätte, und Schuiten hat zwar nicht Peeters an Bord geholt, aber mit Jaco van Dormael und Thomas Gunzig willige Adepten. Und er hat Blake und Mortimer für ihre Auftritte in den achtziger Jahren heftig altern lassen. Da Carlsen seine Leseprobe, wenn es sie geben sollte, wieder einmal gut versteckt hat, hier ein Verweis auf eine reiche französischsprachige Website. Hier kann man sich ansehen, wie die beiden Helden aussehen. Für ihren angegrabbelten Zustand sind sie noch reichlich rüstig, wenn auch Mortimer die deutlich größere Rolle innehat.

Was Schuiten graphisch veranstaltet, ist aller Ehren wert, die Geschichte dagegen ist bei allen traditionellen Klischees selbst eines. Pate für die Handlungsgrundidee stand erkennbar der Reaktorunfall von Tschernobyl, der ein riesiges unfreiwilliges Naturschutzgebiet geschaffen hat, in dem es weitaus besser aussieht, als man sich das 1986 hätte träumen lassen. Doch anstatt etwas aus dieser Konstellation zu machen, wird in „Der letzte Pharao“ nur immer mehr Jacobs zitiert, wird alles noch seltsamer, und da können auch die pastelligen Schuiten-Farben nichts mehr retten, die eine unwirkliche alternative Realität schaffen, die zum Bemerkenswertesten gehört, was ich seit langer Zeit gesehen habe. Aber Geschichte schlägt Graphik, das war beim Comic schon immer so, und hier ist die Graphik mit einer schwachen Geschichte geschlagen. Pech. Aber dem Erfolg der neuen „Blake und Mortimers“ wird das keinen Abbruch tun.

Andreas Platthaus: Die Einzelkämpferin aus und gegen Zürich

Simone F. Baumann zeichnet seit Jahren an einer selbstverlegten Heftserie: „2067“ bietet in bester Underground-Tradition ein durch Phantastik immer wieder ins Surreale getriebene Porträt ihrer selbst und der Stadt, in der sie lebt.

Vor zwei Monaten war ich in Zürich, zur Verleihung der letztjährigen Kulturpreise der Stadt. Anlass gab es dazu reichlich: Nicht nur ging die wichtigste Auszeichnung des Abends, der Kulturpreis für besondere Verdienste, nur zu berechtigt an David Basler, den früheren Verleger des in Zürich ansässigen Comicverlags Edition Moderne, sondern gleich drei weitere Comicschaffende wurden außerdem noch bedacht (alle in der Sektion Literatur): Matthias Gnehm mit einer Auszeichnung in Höhe von 10.000 Schweizer Franken für seinen auch in diesem Blog schon gewürdigten Band „Salzhunger“, übrigens auch bei der Edition Moderne erschienen, Kati Rickenbach für einen gerade in Arbeit befindlichen Comic mit einem „Halben Werkjahr“, was immerhin eine Gesamtfördersumme von 24.000 Franken ausmacht, und Simone F. Baumann ebenfalls mit einem solchen Halben Werkjahr.

Baumann erhält dieses Stipendium für die Fortführung ihrer Heftreihe namens „2067“, die zum Zeitpunkt der Auszeichnung bereits auf 39 Ausgaben zurückblicken konnte, von der ich allerdings noch nie zuvor gehört hatte. Alle sechs bis sieben Wochen bringt die junge Autorin ein neues, jeweils selbstkopiertes Schwarzweiß-Heft im A5-Format heraus, 36 Seiten stark und zehn Franken teuer – wer also alles von ihr lesen will, muss mittlerweile schon an die vierhundert Franken ausgeben (im Abonnement kosten die Hefte sogar noch einen Franken mehr, weil das Porto dazukommt, aber Achtung: Nach Deutschland wird’s noch teurer). Lesenswert dürften sie aber allemal sein, wenn ich von dem einzigen Heft her urteilen darf, dass ich bisher kenne: eben dem neununddreißigsten, das ich auf der Preisverleihung geschenkt bekam.

Allerdings nicht von Simone F. Baumann selbst, sondern von einem denkbar prominenten Fan und Mentor: dem großartigen Schweizer Zeichner Thomas Ott, international erfolgreich mit seinen meist stumm erzählten Schabkarton-Geschichten. Er ist begeistert von „2067“, obwohl Baumann einen ganz anderen graphischen Stil pflegt: Tuschezeichnung, leicht vergrößerte Köpfe der Figuren, Texte ohne Sprechblasen, die aber als wörtliche Rede durch Anführungszeichen gekennzeichnet und direkt in die Bilder gesetzt sind. Das klingt in der Kombination formal ungewöhnlich, knüpft aber an die Underground-Tradition der amerikanischen sechziger Jahre an. Wobei „2067“ das Karikatureske von Crumb oder Shelton fehlt: Es handelt sich um Alltagsbeobachtungen von Simone F. Baumann, die aber unversehens ins Surreale abkippen können. Die drei kurzen Geschichten in Nummer 39 heißen „Paranoia“, „Das Schlimmste“ und „Antidepressiva“ und sind jeweils kein Schlummerlied. Gefällig ist da nichts, aber alles sehr eindrucksvoll.

Zeigen kann ich leider nichts aus „2067“, denn Simone F. Baumann betreibt ihre Eigenproduktion ohne Homepage oder Vertrieb. Wer eines oder mehrere ihrer Hefte lesen will, der muss sie bei der Zeichnerin selbst bestellen (simonefloriane@gmx.ch), lieferbar sind noch alle Ausgaben, obwohl es jeweils zunächst nur fünfzig Exemplare gibt; einige Ausgaben sind aber bereits in zweiter Auflage erhältlich. Im schonungslosen Blick auf Zürich, der aus der Perspektive einer für Schweizer Verhältnisse unterprivilegierten jungen Frau geworfen wird, die erkennbar Probleme mit der Bewältigung des bürgerlichen Alltags rundum hat, entsteht ein bereits über Jahre laufendes und hoffentlich noch jahrelang weiterlaufendes Gesellschaftsporträt, das eindrucksvoll expressiv ausfällt. Der Stadt Zürich kann man nur dazu gratulieren, dass sie ein solches, für sie keinesfalls schmeichelhaftes, aber künstlerisch wichtiges Projekt fördert. Wenn nun noch ein Verlag davon Wind bekäme und das Vertrauen von Simone F. Baumann erwürbe, könnte etwas aus dieser Reihe entstehen, das im deutschen Sprachraum fehlt, seit Atak vor mehr als fünfzehn Jahren seine „Hunde von Berlin“ beendet hat: das aus Outsider-Sicht gezeichnete gegenwärtig Bild einer Großstadt, hier zudem durch die rasche Publikationsabfolge ebenjener Dringlichkeit gewachsen, die man den Geschichten anmerkt.