Andreas Platthaus: Der neue deutsche Maulwurf

In Leipzig erscheint in Kleinstauflage und mit vollem Familieneinsatz die kopierte Heftserie „Maulwurf Montag“. Dahinter steckt ein Neunjähriger. Und es steckt viel drin in seiner Serie.

Ein Besuch im Leipziger Lieblingsbuchladen, auf dem Tisch gleich hinter der Eingangstür liegt ein Comic. Nein, nicht einer, es sind gleich vier Hefte einer mir unbekannten Serie: „Maulwurf Montag“. Wie kommen die dünnen Hefte (jeweils zwölf Seiten) auf diesen prominenten Platz, wo derzeit normalerweise sonst im Buchhandel der neue „Asterix“-Band präsentiert wird? Genaue Augenscheinnahme klärt die Frage: Bei „Maulwurf Montag“ handelt es sich um die Arbeit des neunjährigen Sohns des Buchhändlers.

Die ganze Familie ist an der Herstellung beteiligt: Mutter und Vater fertigen die Farbkopien für die in winzigen Auflagen erstellten Hefte an und besorgen auch die klassische Fadenbindung der drei Papierlagen. Und Julius Otto Hinke – so der Name des Schöpfers von „Maulwurf Montag“ – zeichnet und zeichnet und zeichnet. Alle zwei bis drei Wochen kommt eine neue Geschichte heraus, aber der begeisterte Künstler ist schon weiter im Vorlauf, die elterliche Produktionsgenossenschaft kommt kaum mehr hinterher. Schon ist nach der dritten regulären eine Sonderausgabe eingeschoben worden (bereichert auch um einen zweiten Verfasser, einen Schulfreund), um das Publikum nicht zu überfordern. Vier Hefte sind somit seit dem 21. Oktober 2019 als Erstverkaufstag der Debüt-Nummer bereits herausgekommen. Ich weiß gar nicht, ob es außer dem „Micky Maus Magazin“ überhaupt noch eine zweiwöchentlich erscheinende deutsche Comicpublikation gibt. Für eine Homepage hat es – wohl altersbedingt – noch nicht gereicht. Also bekommt man die Hefte nur bei der Leipziger Buchhandlung „Wörtersee“, vielleicht auch noch bei der zugehörigen Connewitzer Verlagsbuchhandlung in der Innenstadt.

Bei „Maulwurf Montag“ ist der Name Programm: Das Heft erscheint immer montags, und es geht um Maulwürfe. Das hat es seit „Pauli“ aus „Fix und Foxi“ nicht mehr gegeben, aber den kann eine heute Neunjähriger nicht mehr kennen, und seien wir ehrlich: Die Figuren aus „Maulwurf Montag“ sehen viel besser aus als die Kauka-Schöpfung von ehedem. Drei Brüder sind es bei Julius Otto Hinke, Happy, Limo und Willi. Zu unterscheiden sind sie an ihren Mützen: Limo hat eine gelbe auf, Willi eine grüne, Happy trägt gar keine. Er ist zugleich auch der Haupterzähler. Was erzählt wird? Vom Alltag dieser drei Maulwürfe, der sich so darstellt, wie man das als Kind erträumt: am Meer, auf Schatzsuche, allerdings durchaus auch arbeitsam beim Gängeausheben (was praktischerweise sowohl bei der Schatzsuche als auch am Sandstrand zu erwarten ist).

Das Trio ist so ersichtlich gutgelaunt, dass die positive Lebenseinstellung sich sofort auf die Leser überträgt, und die farbigen Bleistiftzeichnungen haben einen kindlichen Charme, der bisweilen vergessen lässt, wie ausgefuchst da schon erzählt wird. Man denke nur daran, dass alle Geschehnisse in den Rahmen einer Fernsehserie gesetzt sind: mit wiederkehrender Eingangssequenz (die schon einmal zwei der zwölf Seiten benötigt), aber auch mit hinreißender Montagetechnik der Einzelbilder, gerade weil aus kindlicher Konsequenz keine Rücksicht auf normale Seitenarchitektur genommen wird. Bisheriger graphischer Höhepunkt ist die Rückseite von Heft 1, von der uns Happy in extremer Nahsicht zugrinst. Solche irren Close-ups wagen nur die ganz großen Comicmeister.

Und dann gibt es zu jedem Heft auch noch einen farbig handmodellierten und gebrannten Knetmasse-Maulwurf, wobei man gespannt sein darf, wie es im regulären Heft 4, das für nächste Woche zu erwarten sein dürfte, zugehen wird, da doch das Protagonisten-Trio mittlerweile vollständig vorliegt. Aber da es in jedem Heft auch ein gezeichnetes Brettspiel gibt, bei dem durchaus mehr als drei Spieler mitmachen können, können weitere Figuren nicht schaden, und individuelle gestaltete sind sie ja produktionsbedingt. Dieses Gimmick ist auch eine Rechtfertigung für den doch recht stolzen Preis von 4,99 Euro pro Heft. Andererseits ist die ersichtliche Liebe bei der Arbeit unbezahlbar. Den Weg von Julius Otto Hinke werde ich gerne noch weiter begleiten.

Andreas Platthaus: Rembrandt lacht als Comic-Held nicht

Drei Jahre lang hat der niederländische Zeichner Typex an seiner großartigen fiktionalisierten Biographie „Rembrandt“ gearbeitet. Jetzt erzählte er im Kölner Wallraf-Richartz-Museum eine Stunde lang davon. Und einen Kindercomic über Rembrandt gibt es dort auch.

Rembrandt war kein Comiczeichner, denn mit Bildsequenzen hatte er nichts am Hut. Die Zeit der mehrteiligen Altartafeln war in den calvinistischen Niederlanden seiner Zeit vorbei, mit Anfertigung der großen öffentlichen Bildprogramme beauftragten die politischen Stellen mehrere Künstler (aus Proporz und/oder Unentschiedenheit), und zu Graphikzyklen hatte Rembrandt keine Lust (oder keine Geduld), wenn man auch seine biblischen Themen oder gar die zahllosen Selbstporträts leicht zu veritablen Bildergeschichten arrangieren könnte – aber eben ohne jede Autorintention.

Deshalb darf man es überraschend nennen, dass das Kölner Wallraf-Richartz-Museum, in dem gerade die Ausstellung „Inside Rembrandt“ läuft, fürs Rahmenprogramm dazu einen Abend mit Typex angeboten hat, einem Landsmann von Rembrandt, der, geboren 1962, heute zu den bekanntesten Comiczeichnern der Niederlande gehört. Und damit nicht genug: Das Museum hat für Kinder sogar einen eigenen Comic zeichnen lassen, nicht von Typex leider, sondern von Sebastian Remmert, der nach einem Szenario von Diane Ciesielski die dreißigseitige Geschichte „Rembrandt und der Frosch“ gestaltet hat, die für den Spottpreis von fünf Euro an der Museumskasse zu kaufen ist. Während der zugegebenermaßen vielfach umfangreichere Comic „Rembrandt“ von Typex im Buchhandel fast fünfzig Euro kostet. Er war aber natürlich der Grund , warum es den Gesprächsabend im Wallraf-Richartz überhaupt gab, bei dem ich moderieren durfte.

Typex heißt mit bürgerlichem Namen Raymond Koot, arbeitet aber seit mehr als zwanzig Jahren nur noch unter seinem Pseudonym. Bekannt wurde er hierzulande erst im vergangenen Jahr, als beim Carlsen Verlag seine halbtausend Seiten starke Warhol-Biographie „Andy“ erschien, die nicht nur eine zeichnerische Tour de force ist (jedes Kapitel in einem anderen Stil!), sondern auch erzählerisch ein Meisterwerk. Der ebenfalls lebensgeschichtliche  Comic „Rembrandt“ kam dann auf Deutsch zum 350. Todestag des Malers in diesem Jahr heraus (wieder bei Carlsen), sechs Jahre nach der niederländischen Originalausgabe, die seinerzeit vom Rijksmuseum, dem größten Rembrandt-Schatzhaus der Welt, als Geschenk an sich selbst zur Neueröffnung nach Generalrenovierung  in Auftrag gegeben worden war. Und auch schon mit dieser früheren Arbeit erweist sich Typex als versierter Arrangeur der Fakten einer Künstlerbiographie. Sein „Rembrandt“ liest sich phantastisch, auch wenn man nicht behaupten kann, dass der Meister einem darin sympathisch würde. Ein komischer Typ war dieser Comic-Held, keinesfalls aber lustig.

Drei Jahre währte die Arbeit am Comic „Rembrandt“, und über die Beschäftigung mit Leben und Werk des Malers ist Typex zu einem exzellenten Kenner geworden, der zudem wunderbar zu erzählen versteht – nicht nur im Buch, auch auf der Bühne. Auch wenn dafür nur eine halbe Stunde Zeit zwischen zwei schönen Vorlesepassagen aus dem Comic verfügbar war. In so kurzer Zeit konnten wir kaum über Details reden, wie etwa die wunderbare Buchgestaltung (von der man in der Leseprobe – aufs Titelbild klicken! – mehr Eindruck bekommt als vom Inhalt) oder die kleinen Insider-Scherze, die sich Typex bei seiner Darstellung des siebzehnten Jahrhunderts erlaubt hat. Aber die Sorgfalt bei der Auswahl einiger Rembrandt-Werke, die in die Geschichte integriert wurden – besonders etwas gerne weniger bekannte –, und die Farm- und Formgebung im Geiste des Künstlers machte Typex deutlich, und sein Herz gehörte dann doch dem als so egozentrisch dargestellten Künstler, den er deshalb kontrafaktisch ganz am Lebensende noch an seinem Selbstporträt als Lachender Zeuxis malen lässt – kontrafaktisch, weil das Bild ein paar Jahre vorher angefertigt wurde, und auch, weil der Rembrandt von Typex ja sonst niemals lacht.

Das Gespräch war auch deshalb viel zu früh vorbei, weil danach noch ein Ausstellungsrundgang des Publikums mit der Kuratorin Anja Kerstin Sevcik und Typex durch „Inside Rembrandt“ anstand. Und da stieß man auf manches Bild, das im Comic eine wichtige Rolle spielt; allen voran auf ebenjenen Lachenden Zeuxis aus dem eigenen Kölner Museumsbestand, das von Typex geradezu zur Summa von Rembrandts Lebensbilanz erhoben wird: wegen des unerwarteten Lachens, aber auch als Symbol des Scheiterns am eigenen künstlerischen Hochmut (Zeuxis hat sich angeblich totgelacht über eines seiner Modelle). Aber in der Ausstellung waren sind auch Radierungen und Zeichnungen vertreten, die den Comic inspiriert haben, vor allem der „Rattenfallenverkäufer“. Dann sind da die Bilder der früh gestorbenen Gattin Saskia, wenn auch das gemeinsame Porträt von Herrn und Frau van Rijn als Akteure auf dem Gemälde „Der verlorene Sohn im Gasthaus“ aus Dresden ebenso wenig nach Köln reisen durfte wie der erhaltene Ausschnitt aus dem ehemaligen Monumentalgemälde „Die Verschwörung des Claudius Civilis“ (nicht „Civilus“, wie es im Comic heißt) aus Stockholm. Und auch die „Nachtwache“ blieb selbstverständlich in Amsterdam im Rijksmuseum. Sie hat den allergrößten Auftritt im Comic, und das darf man sowohl inhaltlich wie flächenmäßig verstehen. Trotzdem gelingt Typex das Kunststück, diese Monumentalszene zum beiläufigen Ereignis in der Handlung zu machen.

Im Rahmenprogramm zu „Inside Rembrandt“ stehen noch zwei weitere Comic-Termine an, beide gedacht für Kinder und deshalb über Mittag an den kommendenAdventssonntagen, einmal am 30. November und dann am 7. Dezember. Da werden die Schöpfer des museumseigenen Comics „Rembrandt und der Frosch“ den Nachwuchs in die Kunst des Zeichnens einweihen, und dafür eignet sich das doch recht schlichte Niveau ausgezeichnet (hier kann man die beiden Titelhelden sehen). Um Missverständnissen vorzubeugen: Nicht etwa, weil Kinder kein Qualitätsbewusstsein hätten; sie haben ein extrem ausgeprägte. Aber „Rembrandt und der Frosch“ ist anschlussfähig für alle, weil er bewusst schlicht gehalten ist, um zum Selberzeichnen anzuregen. Dazu die wirklich lustige Figur des Froschs, entnommen aus einem winzigen Detail des vom Fürstenhaus Salm-Salm aufbewahrten Mythengemälde „Diana und Aktäon“ (einem Unikum in Rembrandts Schaffen) – das ist hochamüsant, und über manche Albernheit wird doch einiges zu Rembrandts Zeit und Malerei an sich vermittelt. Wer den winzigen Frosch dann auf dem auch in Köln zu sehenden Gemälde sucht, ihn gar entdeckt, der dürfte den ersten Schritt zur Bildanalyse getan haben. Was wünscht man sich denn mehr? Ach doch, da wäre noch etwas zu wünschen: mehr Comics vom Niveau der „Rembrandt“-Biographie von Typex.

Andreas Platthaus: Das bunte Quadrat

Klingt die Überschrift wie ein Bauhaus-Manifest? Dann stimmt alles. Denn der Sammelband „Bauhaus Graphic Stories“ will zum Jubiläum der Institution neben anekdotischen Episoden auch die vor hundert Jahren in Weimar begründete Formensprache vorstellen.

Nach einem ganzen Jahr permanenter Bauhaus-Feierei zum hundertsten Jubiläum auf allen Medienkanälen und in allen medialen Formen nun auch noch ein Comic zum Thema? Oh ja, denn was die in Weimar beheimatete Literarische Gesellschaft Thüringen da unter dem Titel „Bauhaus Graphic Shorts“ herausgebracht ist, verdient Beachtung. Weil es nicht einfach Comics sind, die sich darin finden, sondern in der Tat wörtlich übersetzt fünf graphische Erzählungen in jeweils ganz unterschiedlicher Gestaltung, aus deren Gesamtheit ein Blick aufs Bauhaus in den Weimarer Anfangsjahren entsteht, der andere Perspektiven bietet als die üblichen Erinnerungs(p)artikel. Und das will in diesem Jahr des Überflusses an Bauhaus-Auseinandersetzung und auch des daraus resultierenden Überdrusses wirklich etwas heißen.

Es beginnt beim Format: Der Band ist quadratisch. Und jeder der fünf Geschichten ist eine einzelne Farbe zugeordnet. Wie das aussieht, lässt sich am besten durch die Aufnahmen des fertigen Buchs auf der eigens eingerichteten Homepage erfassen. Quadratisch ist das Buch, weil das Quadrat eine der drei Grundformen ist, um die sich in den sogenannten Vorkursen für die Studienanfänger alles drehte – die anderen beiden waren natürlich Kreis und Dreieck, aber beides sind keine guten Formate für Bücher. Genauso wichtig in den Vorkursen war die Farbenlehre, und deshalb ist es nur konsequent, dass hier Gelb, Violett, Orange, Türkis und Grün starke Einzelrollen spielen – wenn auch eine so unmittelbare Zuordnung zur Stimmungslage, wie sie etwa Wassili Kandinsky als Bauhaus-Meister behauptet hat, im Comicband nicht feststellbar ist. Tatsächlich wirkt die Zuordnung bisweilen gar willkürlich, etwa in der ersten Geschichte, „Nicht hier, nicht dort“, die vom Illustrator Carsten Weitzmann bewusst in Schwarzweiß angelegt wurde, aber dann um drei gelbe Einsprengsel in Textkästen ergänzt wurde, die eher ein Farbfeigenblatt sind als ein Farbenspiel. Da ging das Konzept des Bandes wohl der konkreten Gestaltung der Geschichten voran. Schade.

Aber die Erzählungen selbst sind gut, alle fünf. Sie wurden jeweils von einem Autorengespann umgesetzt: Text und Bild lagen in verschiedenen Händen. Weitzmann etwa arbeitete nach einem Szenario von Daniela Danz, der Direktorin des Schillerhauses in Rudolstadt, die auf den nach Russland emigrierten Bauhäusler Erich Borchert gestoßen war, einen Architekten, der dort im Dienste der Sowjetunion Entwürfe für neue Siedlungen im Osten des Riesenreichs lieferte – um schließlich im Zweiten Weltkrieg als angeblicher Staatsfeind selbst in einem kasachischen Lager zu enden und dort gerade einmal siebenunddreißigjährig zu sterben. Für dieses erschütternde Schicksal ist das historisch anmutende Schwarzweiß die richtige Form und die gelben Textblöcke stechen völlig unmotiviert heraus. Das ist ein Verrat an der Bauhaus-Idee, in der die Form auch eine Funktion erfüllen sollte.

Man musste es noch einmal sagen, weil es ein so einmaliger Ausrutscher in diesem ansonsten hocherfreulichen Band ist. Und der Einwand ist auch rasch vergessen, wenn man die weiteren Geschichten liest und dann immer aufs Neue über den Einfallsreichtum der Formen staunt. Mehr Comic als in der Anfangsepisode gibt es übrigens gar nicht, danach illustriert Alexander von Knorre unter dem Titel „Barometer“ ein Szenario von Peter Neumann, und beide stellen dem stockkonservativen Geist von Weimar das munter-libertäre Treiben der Bauhäusler – ausgedrückt am Beispiel ihrer legendären Feste – gegenüber. Dazu zeichnet Knorre passend burlesk-cartoonesk, ein wenig im Stil von Ronald Searle, jedenfalls sehr dynamisch. Und Textpassagen, die das biedere Bürgertum betreffen, sind in Fraktur gesetzt, während das lockere Bauhaus-Leben in einer computergenerierten Schreibschrift gesetzt ist – nun ja, auch nicht gerade bauhausgemäß, aber man versteht, wie’s gemeint ist: jugendfrisch und -frech. Wenn’s der Verständlichmachung dient …

In „Barometer“ kommt violett als Zusatzfarbe zum Einsatz. Die hätte ich eher bei der dritten Geschichte „Maternoster“ erwartet, weil es da um die Frauen am Bauhaus geht. Und zwei Frauen haben diese Episode auch gemeinsam erarbeitet: Franziska Wilhelm aus der Leipziger jungen Literaturszene und die Illustratorin Sandra Bach. Sieben Geschosse verbindet der Maternoster, und auf jeder Ebene wird eine andere Geschichte um Bauhäuslerinnen erzählt, von den Bekanntesten wie Anni Albers oder Marianne Brandt bis zu eher Vergessenen wie Adelgunde Stölzl oder die in Theresienstadt von den Nazis ermordete Friedl Dicker. Einigermaßen erstaunlich ist das Fehlen von Marguerite Friedländer, der Meistertöpferin; mit ihr hatte ich fest gerechnet, weil im Vorwort auch von der Bauhaus-Töpferwerkstatt in Dornburg die Rede war. Aber darüber wird kein Wort und kein Strich verloren, und schon wieder ist eine unglaublich virtuose Frau von der Kunstgeschichtsschreibung vergessen worden.

„Maternoster“ bietet aber die originellste, auch abstrakteste Form aller fünf Erzählungen. Sandra Bach hat zu Franziska Meisters Texten geradezu assoziativ gezeichnet: ein wenig im Stil von Oskar Schlemmers Metallwandreliefs. Herausgekommen ist eine Zwiesprache von Text und Bild, die tatsächlich das von beiden Autorinnen angestrebte performative Ideal zum Ausdruck bringen: spontane Interaktion. Während sich sowohl Stefan Kowalczyk mit seinen türkisen Bildern zu Joshua Schößlers Erzählung „Mein Lehrer Iten“ als auch Olivia Vieweg, die mit Abstand bekannteste am Buch beteiligte Zeichnerin – ihre Comics von „Endzeit“ bis „Huckleberry Finn“ gehören zum Besten, was in Deutschland in den letzten Jahren herausgekommen ist –, mit der Bebilderung zu Stefan Petermanns „Der Tag eine Eisscholle“ ganz in den Dienst der jeweiligen Szenarien gestellt, also illustrierend statt kommentierend gezeichnet haben.

Was beider Virtuosität gar nicht abträglich ist: Kowalczyk findet zu der Tagebuch-Fiktion eines in blinder Gefolgschaft zum charismatischen Bauhaus-Meister Johannes Itten entbrannten Studenten verstörende Traumbilder, die zwischen der Brutalität von Gerald Scarfe und der Melancholie von Shaun Tan changieren. Vieweg dagegen überrascht mit einem für sie ganz neuen Stil: Weiß auf schwarz gezeichnet wie Schabkarton, dazu partiell olivgrün eingefärbt, wird der Aufbruch eine Jungen, dessen Familien und Welt im Ersten Weltkrieg zusammengebrochen ist, zum Bauhaus erzählt – auf nur sechzehn Seiten, wie übrigens alle fünf Geschichten. Die Gleichgewichtigkeit der Erzählungen ist wichtig fürs Programm des Bandes, denn so wird keine Episode dominant.

Kurze Interviews mit den zehn Beteiligten zu den Gedanken bei den individuellen erzählerischen wie graphischen Stil-Entscheidungen runden den sehr schönen Band ab. Hier bekommt man fünffach geboten, was man mit kombiniertem Text und Bild alles machen kann. Und da mit Lyonel Feininger auch ein Comic-Pionier am Bauhaus lehrte, gibt es sogar eine unmittelbare Verbindung zwischen der Hochschule und der Erzählform. Wenn diese Beziehung auch nie im Buch ausgesprochen wird. Wozu jedoch auch, wenn man beim Lesen das Gefühl bekommt, dass Gegenstand und Form hier so gut zusammenpassen, wie es das Bauhaus eben wollte.

Sondermann-Gala 2019: Strich, Punkt und Prostata

Die diesjährige Sondermann-Gala war ein voller Erfolg. Ganz Österreich war anwesend, um der Verleihung des Hauptpreises (dotiert mit 5.000 Euro) an Nicolas Mahler und des Förderpreises (dotiert mit 2.000 Euro) an Stefanie Sargnagel beizuwohnen.

Durch den Abend führte der zwischendurch seinen Hut wechselnde Andreas Platthaus (er trug vor und nach der Pause Hut, aber nachher einen anderen als vorher). Ganz austriakisch spielte das Musiker*innen-Trio aus Markus Neumeyer, Ingrid El Sigai und Frank Wolff einen Walzer nach dem anderen, das Publikum in der Brotfabrik reagierte mit rhythmischem Beben. Nach einer Kurzvorstellung der erstmals auch auftretenden Sondermann-Stipendiat*innen Paula Irmschler und Adrian Schulz (das bin ich, der Autor dieser Zeilen), die ihrer Generation entsprechend launig-mürrisch einen floskelgespickten Praktikumsbericht ablieferten, fasste Festredner Patrick Bahners im Hauptvortrag „Der Berg ruft zurück“ die alpinen Referenzen im Sondermann-Oeuvre bündig zusammen.

Bild: In diesem Moment hatte die Sängerin Ingrid El Sigai ihren Mund geschlossen.

Laudator Tim Wolff, einer der „vielen Ex-TITANIC-Chefredakteure“ (Platthaus), übertraf sich fast selbst, als er seine Rede auf einen Satz herunterzukürzen und spontan die Bühne zu verlassen ansetzte, diese reichlich theatrale Geste aber kurzerhand doch wieder unterband. Denn der „alte weiße Mann“ (Wolff über sich selbst) hatte doch einiges zu sagen über die junge, erfolgreiche Frau aus Österreich, die, so Wolff, den Sondermann-Verein mehr fördere als er sie. Als Meisterin der kurzen Form, als Gönnerin und Könnerin würdigte Wolff die Cartoonistin und Autorin, die, sichtlich ungerührt, ihre neuesten Posts übers Bahnfahren und Hotelessen auf Lesereise vortrug, über Männer, Prostata, Deutschland und Österreich.

Bild: Förderpreisträgerin Sargnagel mit ihrem Scheck.

Der aktuelle TITANIC-Chefredakteur Moritz Hürtgen trug einige Gedichte aus seinem aktuellen Buch „Angst vor Lyrik“ vor und bewarb es nonchalant zum Kauf. Hans Zippert (Vorsitzender des Sondermann-Vereins) gab seinen diesjährigen Weltnachrichtenüberblick über Brötchen und die sonstige Lage und ehrte den ersten Ehren-Sondermanns Claus Wisser mit einer Ehrenmitgliedschaft. Danach war es genug mit der Ehre bzw. ging es damit erst richtig los, denn: Der Hauptpreisträger Nicolas Mahler wurde von Laudator und auch Ex-TITANIC-Chefredakteur Oliver Maria Schmitt in seiner Eigenschaft als „Meister der Linie“ (Schmitt über Mahler) eingeführt und sprach schließlich selbst, zeigte seinen Weg vom Underdog-Selbstverleger und Verwalter von Comicheft-Automaten zu einem der klügsten Zeichner der Gegenwart, der zwischen Suhrkamp-Hochkultur und Satiresumpf agil changiert.

Bild: Der Hauptpreisträger Nicolas Mahler mit Gabriele Roth-Pfarr vom Sondermann-Verein und Scheck

Falls Sie diesen Bericht lesen und selbst auf der Gala waren, wissen Sie ja ohnehin schon, was dort passiert ist, und wissen es vermutlich für sich selbst viel besser als ich, denn ich kann ja weniger gut für Sie Ihr Wissen wissen, das müssen Sie schon selbst machen, außer, Sie haben ein schwaches Gedächtnis, was natürlich total okay wäre; ich weiß es für mich gut und für Sie ein bisschen (s.o.). Falls Sie diesen Bericht lesen und selbst nicht auf der Gala waren, müssen Sie unbedingt auf die nächste gehen; ich weiß zwar noch nicht, was genau dort passieren wird (das wäre zu viel verlangt), bin aber sicher wie das Feuer der Erde, dass es oberaffengeil wird, wie wir jungen Leute sagen. Sonder and out.

Alle Bilder: Alexander Golz

Andreas Platthaus: Tolle „Polle“ (die zweite)

Die nächste Ausgabe des Kindercomicmagazins hat viel länger auf sich warten lassen, als erhofft, aber die Geduld hat sich gelohnt.

Die erste Ausgabe des Comic-Magazins „Polle“ kam vor fast anderthalb Jahren heraus, und ich war ziemlich begeistert, wie man in einem damaligen Blogeintrag nachlesen kann. Dann fing das große Warten auf die zweite Ausgabe an. Das lag daran, dass „Polle“ ein von Jakob Hoffmann, Ferdinand Lutz und Dominik Merscheid entwickeltes Vorhaben war, für das die drei Initiatoren auf Crowdfunding setzten. Die Zielgruppe aber sind Kinder, solche im Lesealter natürlich bis ungefähr ins Alter von zwölf Jahren, würde ich schätzen. Die haben zu wenig Geld für Crowdfunding. Wenn sie überhaupt von ihren Eltern ins Netz gelassen werden. Denn wer sich für ein gedrucktes Comicmagazin interessiert, der hat wohl mit dem Internet nicht allzu viel am Hut. Aber wie dem auch sei – finanziert hätte das Kindercomicmagazin „Polle“ von Erwachsenen werden müssen. Und das geschah nicht.

Das Warten auf die zweite Ausgabe hat nun trotzdem ein Ende, denn Hoffmann/Lutz/Merscheid sind bei „Gecko“ untergeschlüpft, der Kinderzeitschrift, deren Klientel altersmäßig etwas unterhalb vom „Polle“-Publikum angesiedelt ist. Also könnten aus „Gecko“- dann „Polle“-Leser werden, und das hat wohl auch die etablierte Zeitschrift dazu bewogen, sich bei dem neuen Projekt zu engagieren, auf dass der Neuling auch einmal die dreiundsiebzigste Ausgabe erreiche, wie es jetzt gerade bei „Gecko“ der Fall ist. Das Konzept blieb gleich (viele Comics, ein illustriertes Lied zum nachspielen und Mitsingen, Rätsel), aber das Format hat sich geändert: „Polle“ Nr. 2 ist deutlich größer als „Polle“ Nr. 1, eben „Gecko“-Format statt des kleinen Heftchens vom Beginn. Der Umfang ist mit 52 Seiten stolz, der Preis mit 8,90 Euro einigermaßen stolz, aber angesichts des Inhalts allemal vertretbar.

So sieht die zweite Ausgabe aus, eine Leseprobe gibt es leider nicht. Was daran liegen könnte, dass es sich ja um eine Anthologie handelt, und wen wollte man da herausheben? Nun, ich hebe mal einen heraus, eine Berühmtheit: Ralf König, der für „Polle“ seinen ersten Kindercomic gezeichnet hat, betitelt „Männchen“. Nun dürften die wenigsten Comic-Kenner Geschichten von Ralf König für kindgerecht halten, aber hier hat er sich eine vierseitige Handlung ausgedacht, die einerseits ganz typisch König ist (nein, es geht nicht um Sex, aber um Evolution, und ganz ohne Geschlechtsteile geht es auch hier nicht ab), andererseits aber jugendfrei im besten Sinne. Und Jakob Hoffmann hat direkt danach noch einen Erklärtext drangehängt, wie es die erste „Polle“ auch schon bisweilen vorgemacht hatte.

Die größte Überraschung ist allerdings der erste Comic im Heft: „Der Fluch von Lorringham“ der englischen Zeichnerin Tor Freeman, und wer sich davon einen Eindruck verschaffen will, der kann es in der Originalsprache auf der Homepage der Künstlerin tun Ihre anthropomorphen Tierfiguren, eine androgyn gezeichnete Polizeichefin in Hundegestalt und ihr Untergebener, der Kater Sid, sind ein sehr witziges Gespann, und auf den zwölf Seiten der Geschichte wird eine komplexe Handlung entfaltet, die ausgesprochen liebevoll gezeichnet ist. Von Tor Freeman wird man hoffentlich noch viel mehr sehen.

Marc Boutavant, Leo Leowald, Aisha Franz, Barbara Yelin, Tobi Dahmen und nicht zuletzt der Herausgeber Ferdinand Lutz selbst sind dagegen längst etablierte Comicautoren, wobei man sagen muss, dass sowohl Yelin als auch Franz nur jeweils einen Comic-Strip für die zweite „Polle“ gezeichnet haben. Aber gerade solch prominente Kleinigkeiten sind ja ein Qualitätsnachweis fürs Heft, und Tobi Dahmens kleine Niederländisch-Lektion (der Zeichner lebt mit seiner Familie in Utrecht) ist auch ganz zauberhaft. Man kann „Polle“ nur den Daumen drücken, denn ein besserer Einstieg ins Comiclesen ist für deutsche Kinder derzeit nicht möglich. Daran hat sich in anderthalb Jahren Wartezeit nichts geändert.

Andreas Platthaus: Radikal individualistisch emanzipiert

Am Leben der Rose Wilder Lane lässt sich die ganze amerikanische Gesellschaft darstellen. Der Comiczeichner Peter Bagge macht daraus einen ebenso anspruchsvollen wie unterhaltsamen Sachcomic.

Der Tipp kam von keinem Geringeren als Art Spiegelman. Als wir zuletzt zusammensaßen, rekapitulierte er einige seiner erfreulichen Comic-Leseeindrücke der vergangenen Monate (die Fernsehserien, für die er sich derzeit sehr interessiert, hatten wir schon hinter uns) und fragte mich, ob ich noch etwas mit dem Namen Peter Bagge anfangen könne. Ich konnte, aber meine letzte Lektüre lag etliche Jahre zurück, irgendwann in den späten Neunzigern, als es noch den Berliner Comicverlag Jochen Enterprises gab, wo Peter Bagges Heftserie „Krass“ erschien, die von den Alltagserlebnissen eines jungen Mannes in Seattle erzählte, wo der 1957 geborene Zeichner damals auch lebte. Das waren wenig erbauliche Geschichten, denn dieser Buddy Bradley war ein Loser. Dafür war der charakteristische Zeichenstil von Bagge umso erfreulicher: beste schwarzweiße Underground-Tradition mit Figuren, die in Körperhaltungen porträtiert wurden, die ihre Wurzeln in der Trickfilmästhetik hatten: Wer sich schon geistig nicht verbiegen will, der muss physisch umso gelenkiger sein. Unverkennbar war diese Ausdrucksform, niemand zeichnete Menschen so wie Bagge.

So ist es immer noch, wie ich am Tag danach sah, als ich in einem New Yorker Buchladen ein paar Straßen weiter nach den mir von Spiegelman genannten drei neuen Bagge-Titeln suchte. Zwei davon waren in der reich sortierten Comicabteilung zu finden: „Fire! – The Zora Heal Hurston Story“ und „Credo – The Rose Wilder Lane Story“, beide erschienen beim kanadischen Drawn-&-Quarterly-Verlag, der besten Adresse für nordamerikanische Autorencomics. Gemeinsam mit dem im Laden fehlenden Band „Woman Rebel – The Margaret Sanger Story“ vom selben hat Bagge eine Trilogie geschaffen, die amerikanischen Frauenrechtlerinnen gewidmet ist. Erstaunlich, dass ein Mann sich dieser prominenten Feministinnen annimmt. Aber nachdem ich mich für den Lane-Band als jüngste der drei Publikationen entschieden und abends losgelesen hatte, merkte ich bald, was Bagge daran gereizt hat. So kompromisslos ihren eigenen Weg wie Rose Wilder Lane haben nicht einmal seine Bradleys ihren Weg verfolgt (eine Leseprobe bietet die Homepage von Drawn & Quarterly leider nicht an; deshalb hier der Link zu einer amerikanischen Besprechung des Comics mit Bildbeispielen.)

Rose Wilder Lane lebte von 1886 bis 1968, und in diesen zweiundachtzig Jahren hatte sie einen Eigensinn entwickelt, der bis zur Halsstarrigkeit reichen konnte, aber ihr auch eine Unbeugsamkeit verlieh, die sie als einziges Kind einer Farmerfamilie im abgelegenen, damals noch nicht einmal als amerikanische Bundesstaaten anerkannten Dakota Territory dringend brauchte, um als Frau ihren Weg gehen zu können. Sie war eine Verfechterin individualistischer Überzeugungen, die im Kommunismus den Erzfeind sah, zugleich aber die amerikanische Gesellschaft durch ihr Beharren auf Emanzipation herausforderte. Und zwar Emanzipation auf allen Ebenen. So hatte Rose Wilder Lane vor allem die Auseinandersetzung mit ihrer Mutter zu bestehen, der Schriftstellerin Laura Ingalls Wilder, die einerseits missgünstig auf die intellektuelle Entwicklung der Tochter blickte, andererseits mit den Büchern einer 1932 begonnenen autobiographischen Serie von Romanen über Kindheit und Jungend auf einer kleinen Farm selbst unglaublich erfolgreich war. Wobei mittlerweile bekannt ist, dass ihre Tochter einen wichtigen Anteil an der Niederschrift hatte.

Um diese familiäre Zusammenarbeit an den in Amerika bis heute weit verbreiteten „Our House“-Büchern, die aber von der nominellen Verfasserin nach außen hin stets geleugnet wurde, geht es in dem Comic natürlich auch, aber Bagge erzählt generell von den sozialen Unverträglichkeiten seiner Heldin Rose – und dem sonderbaren Kreis von Freundinnen und Freunden um sie, teils Lebens-, teils Berufspartnerinnen und -partner, die als Gruppe ein Panoptikum der sozial engagierten Amerikaner in den ersten zwei Dritteln des zwanzigsten Jahrhunderts darstellen, das für jede Fernseh-Soap eine phantastische Grundlage bieten würde.

Wobei Bagge sein „Credo“ dermaßen mit erzählerischen Details stopft, dass man ohne den ausführlichen Kommentarteil, der zu jeder gezeichneten Seite die realen Hintergründe erläutert und auch die historischen Fotoquellen für Bagges Porträtdarstellungen seiner Protagonisten offenlegt, rettungslos verloren wäre – zumal als deutscher Leser, dem die meisten Beteiligten nichts sagen. Aber wenn man erst einmal akzeptiert, dass „Credo“ nicht die bloße Bebilderung einer bemerkenswerten Biographie liefern soll, sondern eine auf dem neuesten Stand der biographischen Forschung befindliche Interpretation des Lebens von Laura Wilder Lane, dann wird man in diesem Band (wie auch in den beiden anderen der Trilogie) ein Experiment auf dem Feld des Sachcomics erkennen, wie es radikaler kaum jemand vor Bagge gewagt hat. Und seine charakteristisch verzerrten Figurenphysiognomien stellen angesichts des sämtlich nahe an psychischen Störungen laborierenden Personals genau die richtige graphische Form dar. Ein Jammer, dass sich wohl kaum ein deutscher Verlag finden lassen dürfte, der das Risiko einginge, diese hierzulande nahezu unbekannten Biographien als exemplarische Beispiele des intellektuellen Kampfs um Geschlechteremanzipation doch übersetzen zu lassen. Aber soweit hat es das Interesse der Genderforschung leider noch nicht gebracht.

Andreas Platthaus: Etwas Besseres als diesen Todes-Comic findet man selten

In „Gevatter“ erzählt Schwarwel über seine Kindheitsängste und führt seinen Protagonisten bis in die Verzweiflung eines Erwachsenendaseins. Fünf Hefte soll die Geschichte umfassen, finanziert wird sie von einer Stiftung, die den Umgang mit dem Tod erleichtern will.

Dies ist ein Comic über den Tod (was man dem Titel „Gevatter“ schon ablesen kann), aber der größte Schock traf mich erst am Schluss bei der Lektüre eines Gesprächs mit dem Leipziger Zeichner Schwarwel, dem wir nicht nur „Gevatter“ verdanken, sondern noch ganz viele andere wunderbare Comics wie seine „Schweinevogel“-Serie in den neunziger Jahren oder die „Seelenfresser“-Trilogie. Und der Schock war, dass ebendiese letztgenannte Trilogie noch gar nicht abgeschlossen ist, sondern nach zwei Bänden („Liebe“ und “Glaube“) 2012 unterbrochen wurde, weil es dem vielbeschäftigten Schwarwel an der nötigen Zeit zum Abschluss fehlt. Sieben Jahre ist es also her, dass ich die ersten zwei Teile gelesen habe, und mir sind sie so stark im Gedächtnis geblieben, dass ich sie niemals für ein Fragment gehalten hätte. Manchmal kommt man sich unsagbar töricht vor.

Warum schließt Schwarwel das Projekt aber nun nicht ab, sondern beginnt mit „Gevatter“ eine auf fünf Hefte angelegte neue Serie? Weil „Seelenfresser“ ein privates Liebhabervorhaben des Zeichners war, das ganz auf eigene Rechnung in seinem Verlag „Glücklicher Montag“ erschien, während „Gevatter“ finanziell gefördert wird: von der Leipziger Funus-Stiftung, die sich als Gründung eines lokalen Feuerbestattungsunternehmens nach eigenen Angaben „für einen unverkrampften Umgang mit dem Tod einsetzt“. Keine leichte Aufgabe, möchte man meinen, bei etwas, das man sich im Regelfall nicht aussucht.

Schwarwel macht es sich und uns mit „Gevatter“ denn auch nicht leicht, aber das ist umso besser. Wie der Comic aussieht, kann man sich hier ansehen. Wie schon im Falle seiner letzten beiden Trickfilme „1989 – Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer“ und „Leipzig von oben“ greift der als Thomas Meitsch 1968 in Leipzig geborene Künstler auch für „Gevatter“ auf seine eigene Biographie zurück. Sein Protagonist Tim, ein kleiner Junge, wächst in der DDR der siebziger Jahre in einer vierköpfigen Familie auf, hat noch Groß- und sogar Urgroßeltern, beobachtet an diesen und auch an einer geistig behinderten Cousine aber die Anfälligkeiten des Menschen. Der Tod von Haustieren und die Bemühungen der Eltern, dem Jungen das Phänomen des Sterbens zu erläutern – die Mutter ist Ärztin –, tun ein Übriges dafür, dass Tim in bisweilen panische Angst und grässliche Träume versetzt wird.

Eingebettet ist die Erinnerung an diese Kindheit in eine Rahmenhandlung, die den mittlerweile längst erwachsenen Tim in einer existenziell bedrohlichen Situation der Gegenwart zeigt. Wir haben es bei der Haupthandlung von „Gevatter“ also mit Flashbacks in die Vergangenheit zu tun, und man darf wohl vermuten, dass in den vier Folgeheften die lebenslange Konfrontation Tims mit dem Tod bis an seine aktuellen Lebensumstände herangeführt wird.

Schwarwel war immer schon ein Meister der im Stil des amerikanischen Undergrounds gehaltenen Schwarzweißzeichnung, die ihre Ursprünge in der Ästhetik der EC-Comics hat, jener Gruselgeschichten der vierziger und fünfziger Jahren, die seinerzeit durch ihre Schreckensästhetik der Auslöser für die Etablierung einer Selbstzensur der amerikanischen Comicverleger waren. Doch reiner Schock ist nicht das Ziel Schwarwels. Wenn er als Anreger konkret Will Eisners Graphic Novel „A Contract With God“ und Alan Moores und Dave Gibbons‘ zwölfteilige Heftserie „Watchmen“ nennt (ein umfangreiches Interview mit Schwarwel zu „Gevatter“ findet sich hier), dann gibt das einen Hinweis sowohl auf den literarischen Anspruch von „Gevatter“ als auch auf den formalen – nicht in Fragen eines graphischen Stils, sondern einer strukturellen Gestaltung, die sich vor allem in der Seitenarchitektur artikuliert. Explizit nimmt Schwarwel für sein meist aus drei Reihen à drei gleichgroßen Panels bestehendes Layout das Muster von „Watchmen“ auf. Bisweilen gibt es Einzelbilder, deren Formate als Vielfaches der kleinsten Einheit angelegt sind, aber manchmal setzt Schwarwel auch aus den neun Panels einer Seite eine große Abbildung zusammen, deren Zersplitterung in neun Teile ein Spiegelbild der Verletzlichkeit des Helden der Geschichte ist.

dann gibt das einen Hinweis sowohl auf den literarischen Anspruch von „Gevatter“ als auch auf den formalen – nicht in Fragen eines graphischen Stils, sondern einer strukturellen Gestaltung, die sich vor allem in der Seitenarchitektur artikuliert. Explizit nimmt Schwarwel für sein meist aus drei Reihen à drei gleichgroßen Panels bestehendes Layout das Muster von „Watchmen“ auf. Bisweilen gibt es Einzelbilder, deren Formate als Vielfaches der kleinsten Einheit angelegt sind, aber manchmal setzt Schwarwel auch aus den neun Panels einer Seite eine große Abbildung zusammen, deren Zersplitterung in neun Teile ein Spiegelbild der Verletzlichkeit des Helden der Geschichte ist.

Das erste Heft ist pünktlich zum derzeit in Leipzig laufenden Endlichkeitsfestival „Die Stadt der Sterblichen“ erschienen, und die zweite Ausgabe soll noch in diesem Monat folgen. Das lässt auf dichte Publikationsfolge hoffen, so dass „Gevatter“ bald abgeschlossen werden könnte. Und wenn das gelingt, dann hat Schwarwel womöglich genug Blut geleckt (und hoffentlich auch Geld verdient), um endlich das dritte „Seelenfresser“-Album „Hoffnung“ zu publizieren. Einiges daraus hat er fürs Netz ja schon gezeichnet (http://www.seelenfresser.com/). Das will ich einfach noch gedruckt sehen, bevor ich oder er das Zeitliche segnen.

Andreas Platthaus: Moderne Form des Piraterie

Guillermo Corral und Paco Roca erzählen in „Der Schatz der Black Swan“ die wahre Geschichte des Kampfs des panischen Staates um ein Schatzschiff, dass ein privates amerikanisches Unternehmen gefunden hat.

Es ist erstaunlich, wie das Comic-Bildgedächtnis von Hergés „Tim und Struppi“ geprägt ist. Das schönste Beispiel bietet dafür ein spanischer Band, der ästhetisch wie erzählerisch nicht allzu viel mit Hergé gemein hat. Zwar kann man Paco Rocas graphischen Stil als klar bezeichnen, aber sicher nicht als „klare Linie“. Und das Szenario von Guillermo Corral erzählt zwar eine Abenteuergeschichte, aber die spezifische Beimischung von Humor, wie wir sie aus „Tim und Struppi“ kennen, ist seine Sache nicht. Die Handlung hat ja auch ein denkbar ernstes Thema: räuberische Schatzsucher auf hoher See, und am Ende kommt sogar noch eine Prise Spionage mit dazu.

Was aber ist denn bitte dann Hergés Einfluss auf diesen Band namens „Der Schatz der Black Swan“ (wie lächerlich, diese Titelwahl, wo doch im Original von „Cisne Negro“ die Rede ist, was man also gut „Schwarzer Schwan“ hätte nennen können) mit dessen mehr als zweihundert Seiten? Nun, schon das Cover zitiert die Umschlaggestaltung des „Tim und Struppi“-Bandes „Das Geheimnis der Einhorn“ – naheliegend, wo doch auch in diesem Klassiker ein Schiffswrack mit einem Schatz an Bord gesucht wird. Bemerkenswert jedoch ist, dass es für die Assoziation reicht, dass wir beim „Schatz der Black Swan“ ein altes Segelschiff in einem separierten Kreis sehen – hier die Cover-Abbildung samt Leseprobe darunter. Und schon in Gedanken bei Tim sind. „Kohle an Bord“, ein weiteres Meeresabenteuer der Serie von Hergé, nutzt das Kreismotiv übrigens auch, und so hat es sich noch tiefer in unser Kollektivbewusstsein eingegraben.

Natürlich weiß Roca das, zumal er ziemlich früh im Band noch eine deutliche Kapitän-Haddock-Hommage unterbringt, als die Mitarbeiter eines dubiosen amerikanischen Bergungsunternehmens ihren Chef für die Entdeckung des Schatzes mit einem Plakat feiern, dass ihn in Kleidung und Gestik des berühmten Gefährten von Tim auftreten lässt. Der Haken allerdings bei diesem für jeden halbwegs europäisch sozialisierten Comicleser erkennbaren Bildzitat: Dass Amerikaner dieses Motiv wählen würden, ist höchst unwahrscheinlich, denn dort ist „Tim und Struppi“ kein präsenter Klassiker. Die Szene ist also im Kontext des erzählten Geschehens unwahrscheinlich. Sie ist l’art pour l’art.

Ansonsten kann man „Der Schatz der Black Swan“ wenige Vorwürfe machen. Die Verquickung der eigentlichen Handlung um die moderne Form der Piraterie mit einer Liebesgeschichte zwischen zwei Protagonisten, dem frischgebackenen junge Mitarbeiter des spanischen Kulturministeriums Álex und seiner dort schon länger angestellten Kollegin Elsa, ist ebenso absehbar wie unbeholfen – probates menschliches Beiwerk, gewiss, aber aufgesetzt wie in einem schlechten Filmskript. Dabei hat Guillermo Corral durchaus ein Gespür für Spannungsdramaturgie. Seine Konstellation beim Kampf des spanischen Staates (oder besser gesagt: der aufrechten Kultusbürokratie) gegen die frechen amerikanischen Privatschatzsucher, die nur am Geldwert des Schatzes interessiert sind, ist zwar auch denkbar schlicht, aber die verschiedenen Wendungen dabei, die vor allem juristischer und politischer Natur sind und sich somit nicht auf hoher See, sondern in den Amtsstuben und Gerichtssälen abspielen, sind sowohl überraschend wie realistisch.

Was nicht nur daran liegen wird, dass es den handlungsauslösenden Schiffsuntergang 1804 ebenso gegeben hat wie 2011 die juristische Auseinandersetzung um den Schatz, sondern auch daran, dass Corral selbst Diplomat ist und als spanischer Kulturattaché unter anderem in den Vereinigten Staaten gearbeitet hat. Wie segensreich sich solche Expertise auf ein Szenario auswirken kann, wissen wir spätestens seit den Geschichten, die der französische Diplomat Antonin Baudry unter dem Pseudonym Abel Lanzac für Christophe Blains hinreißende Politserie „Quay d’Orsay“ geschrieben hat.

Dass Paco Roca, der ja vor allem mit autobiographisch grundierten Bänden wie „Kopf in den Wolken“ und „La Casa“ bekannt geworden ist, erstmals ein fremdes Szenario benutzt hat (wobei er sich bei seinem selbstverfassten Comic „Die Heimatlosen“ über spanische Soldaten im Zweiten Weltkrieg schon der Expertise von Experten bediente), ist interessant, weil er – wie auch Blain – als „Auteur“ in seinem Fach gilt, also als ein Comiczeichner, der seine eigenen Geschichten erzählt. Hier nutzt er die Freiheit des „nur“ Zeichnens für Elemente, die aus dem sonstigen graphischen Erscheinungsbild des Bandes ausbrechen: ein historischer Rückblick etwa in Bilderbuchform auf getöntem Papier, eine persönliche Erinnerung als schwarzweißer „stream of consciousness“ ohne Panelunterteilung oder auch einfach mal eine eingestreute Schemazeichnung, um eine wichtige Lokalität für uns Leser besser verständlich zu machen. Das ist alles sehr klug, und man wäre gerne dabeigewesen, als Roca und Coral an ihrem Band gearbeitet haben. Mutmaßlich war das ein kollegialeres Miteinander als im hierarchisch organisierten Studio von Hergé, wo außer dem Willen des Meisters nichts galt. Die Resultate überzeugen aber in beiden Fällen, und wenn Rocas Cover dazu beiträgt, dass ein paar „Tim und Struppi“-Fans mal in „Der Schatz der Black Swan“ hineinblättern, hat sich die Sache auch gelohnt

Andreas Platthaus: Wenn alles auf den Kopf gestellt wird

Vor neunzehn Jahren schon obskur und jetzt als Gesamtausgabe noch immer: Thierry Smolderen und Jean-Philippe Bramanti verwickeln in „McCay“ den großen gleichnamigen Comic-Meister in ein parawissenschaftliches Abenteuer.

Vor neunzehn Jahren startete in Frankreich eine Albenserie mit dem Titel „McCay“. Wer sich auch nur ein bisschen für die Geschichte des Comics oder auch des Trickfilms interessiert, kennt den Namen: Winsor McCay wurde auf dem ersten Feld mit „Little Nemo in Slumebrland“ zum Pionier, auf dem zweiten mit „Gertie the Dinosaur“. Er war einer der berühmtesten und bestbezahlten Zeichner im Amerika des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, und sein visueller Einfallsreichtum ist auch noch hundert Jahre später unerreicht. Auch die französische Albenserie versuchte es graphisch gar nicht erst. Aber inhaltlich. Ihr Thema ist Winsor McCay, jedoch nicht das vielfach dokumentierte Leben des 1871 geborenen und 1934 gestorbenen Künstlers, sondern ein Lebensabschnitt von 1889 bis 1910, also der Aufstieg vom Nachwuchsillustrator zum Star seiner Zunft, der hier als eine Art Faust-Geschichte erzählt wird. Kein Wunder, denn der Szenarist dieser Geschichte ist der Belgier Thierry Smolderen, einer der innovativsten und gebildetsten Autoren des französischsprachigen Comics, zugleich ein exzellenter Kenner der ganzen Comicgeschichte. Also der ideale Autor einer McCay-Erzählung. Deshalb besorgte ich mir damals den ersten Band.

Ich war nicht enttäuscht, aber auch nicht begeistert, was vor allem an den Zeichnungen von Jean-Philippe Bramanti lag (hier kann man sie sehen, wenn auch nur auf der Hälfte der eingestellten Seiten), die – natürlich, muss man sagen – den Vergleich mit McCays unfassbar subtiler Linie nicht aushalten. Der einzige, der überhaupt im unmittelbaren Vergleich hat standhalten können, war Moebius (der seine eigene Version von „Little Nemo“ gezeichnet hat), aber den konnte Smolderen nicht gewinnen. Bramanti, Jahrgang 1971, ist Absolvent der Comicschule von Angoulême und beschäftigte sich schon in seiner Abschlussarbeit mit McCays „Little Nemo“. Der Comic „McCay“ lag somit in doppelt prädestinierten Händen. Aber viel Geist und Begeisterung reicht nicht an ein Genie heran. Von Bramanti hat man nach Abschluss des letztlich vierbändigen Zyklus auch nicht mehr viel als Comiczeichner gehört. Bis jetzt, wobei es nichts Neues gibt, sondern „McCay“ in deutscher Erstveröffentlichung als Sammelband (beim Carlsen Verlag). Dadurch habe ich die Geschichte erstmals zu Ende gelesen, den nach dem ersten Band hatte ich vor neunzehn Jahren die Lust auf weitere verloren. Die Handlung war mir auch etwas zu versponnen gewesen: Fantasy, die aber nicht wie bei McCay selbst als Träume motiviert ist, sondern durch die Verquickung seines Lebens mit dem eines imaginären Mannes namens Silas, der als Schausteller und Anarchist auf jeweils unterschiedliche Weise daran arbeitet, die Welt umzustürzen. Wer sich etwas besser mit McCays Werk auskennt, weiß, dass er seine zweite berühmte Serie „Dreams of a Rarebit Fiend“ mit „Silas“ signiert hat. Man könnte also eine Art Doppelgänger-Geschichte vermuten, aber das reichte Smolderen nicht. Er brachte mit dem britischen Sonderling Charles H. Hinton noch eine historische Gestalt ins Spiel, der am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts den Übergang in die vierte Dimension gesucht hat. Und der junge Winsor McCay des Comics „McCay“ wird diesen Übergang finden – und dort auch die Inspiration für eine späteren eigenen Geschichten.

An dieser Stelle war der erste Band zu Ende, und damit für neunzehn Jahren auch meine Lektüre. Dass ich sie nun fortsetzen konnte, habe ich nicht bereut, aber ein Lieblingscomic wird „McCay“ nicht werden. Zumal Smolderen für die Gesamtausgabe, die vor zwei Jahren im französischen Original erschien, alle Zusatzseiten aus den Einzelbänden gestrichen hat, in denen er ausgiebig die kulturgeschichtlichen Hintergründe seiner Erzählung erläutert hat. Damit wurde die Lektüre der reichlich kruden Geschichte erleichtert, weil man nun die Anspielungen verstand, und das wäre heute noch genauso, aber stattdessen ist dem Nachdruck-Band eine Serie von vierundzwanzig ganzseitigen Schwarzweißzeichnungen beigegeben, die Bramanti eigens angefertigt hat: imaginäre Umschlagabbildungen, die meist zentrale Motive und Handlungsorte von „McCay“ zum Gegenstand haben, manchmal aber auch Szenen bieten, die es im Comic gar nicht gibt. In diese Fällen wird es interessant, aber leider auch nur in diesen.

Denn der Comic selbst bleibt zu überdreht in seiner Kombination von Phantastik und biographischer Akkuratesse. Zudem macht Smolderen einen drastischen Fehler, den man ihm nie zugetraut hätte: Er lässt einen Teil des Finales in William Randolph Hearsts berühmter kalifornischer Villa spielen, die er nicht nur nach San Francisco verlegt (sie steht aber 150 Kilometer weiter südlich auf einem einsamen Hügel über der Pazifikküste), sondern auch 1910 schon fertig sein lässt, obwohl ihr Bau erst 1919 begonnen wurde. Schade, dass man das Zusatzmaterial nicht mehr hat, sonst hätte man wenigstens nachlesen können, ob sich Smolderen dieses Anachronismus bewusst war. Interessant ist, dass zumindest eine Doppelseite komplett umgearbeitet wurde: Seite 12/13 im ersten Album (nun 16/17 im Sammelband), wo die „verwunschene Schaukel“ des Schaustellers Silas zum Einsatz kommt. In der Erstveröffentlichung sieht man das Publikum nicht, sondern nur ihre Wahrnehmung des plötzlich kopfstehenden Raumes, im Nachdruck jetzt sieht man die Leute wild auf ihrer Schaukel durch das Zimmer kreisen, was ein betrug am Leser ist, denn der Trick von Silas war gerade das Spiel mit der eigenen Wahrnehmung der Besucher. Smolderen und Bramanti habe da ihrer eigenen Geschichte nicht mehr getraut.

Der neue Band ist gut gedruckt, wenn auch gegenüber den ursprünglichen Alben im verkleinerten Format, aber gerade das lässt auch die Schwächen von Bramantis Graphik hervortreten, die zu häufig recht nahe an seinen Fotovorlagen ist und zu selten McCay selbst zitiert. Was auch – siehe oben – riskant ist, aber man sehrt sich bei den aus „Little Nemo“ oder „Rarebit Fiend“ bekannten Hintergründen nach dem traumwandlerisch sicheren Strich ihres Schöpfers. Der gefällige Retro-Look von Bramanti, der eher die Schwarze Serie des mittleren zwanzigsten Jahrhunderts heraufbeschwört als das Fin de siècle, ist einfach zu wenig.

Andreas Platthaus: In Lagos ist die Hölle los

Matthias Gnehm verbindet in „Salzhunger“ einen Polit-Thriller mit Globalisierungskritik und psychologischer Studie.

„Salzhunger“ habe ich zum ersten Mal gelesen, als Matthias Gnehm sich damit vor zwei Jahren um den Leibinger-Comicbuchpreis bewarb. Er hat ihn damals nicht gewonnen, aber die Geschichte kam unter die zehn Finalisten, und das mit gutem Grund. Gnehm erzählt unter dem erst einmal rätselhaften Titel (er bezieht sich auf eine Redensart, die den gierigen Antrieb für einen Menschen beschreibt) aus der Welt der globalen Hilfsorganisationen, und es war ein Zufall, der mir damals gar nicht auffiel, dass das damalige Gewinnerbuch seinen Ausgang beim selben Phänomen nahm: „Blavand“ von Thomas Pletzinger und Tim Dinter hat einen Aussteiger aus dieser Szene zum Protagonisten. Bei Gnehm dagegen ist die Hauptfigur ein Einsteiger in diese Szene.

Sein Band ist nun bereits fertig und gerade bei der Edition Moderne erschienen, während wir auf „Blavand“ wohl noch etwas werden warten müssen – aktuell geht für Pletzinger seine frisch publizierte, langerwartete Dirk-Nowitzki-Studie „The Great Nowitzki“ vor. Dass Gnehms Comic mittlerweile abgeschlossen ist, scheint mir aber umso bemerkenswerter, als er nicht nur 220 Seiten umfasst und damit das bislang umfangreichste Buch des Schweizer Zeichners geworden ist, sondern es hat sich gegenüber der eingereichten, seinerzeit noch unabgeschlossenen Version von 2017 sehr verändert. Es gehört sich nicht, Insiderwissen über solche Vorstufen preiszugeben, aber so viel immerhin sei angedeutet: In Gnehms früherer Fassung gab es längere Partien, die allein als Text erzählt wurden, ohne Bilder. Das hatte einen ganz eigenen Reiz, der mir jetzt in der Endfassung fehlt. Aber das mag nostalgische Wehmut beim Gedanken an die Überraschung von ehedem sein.

Die Geschichte selbst nämlich ist besser geworden, als sie es damals war. Gnehm hat eine geradlinigere, aber faszinierende Struktur gewählt, die das Hauptgeschehen als Rückblick in eine Rahmenhandlung einordnet, die in ihrer Ausdeutung durchaus ambivalent ist (eine schöne Leseprobe findet sich auf der Website des neunundvierzigjährigen Zeichners: ). Es geht nicht alles logisch auf, was sich in der Erinnerung des Aktivisten Arno Beder abspielt, der gleich zu Beginn des Buchs in Zürich ins Wasser geht. Vor einigen Monaten hat er bei der Schweizer Abteilung einer globalisierungskritischen Organisation namens „Erzfeind“ angeheuert und musste auch dort gleich ins kalte Wasser: gemeinsam mit einer Kollegin auf einen Einsatz ins nigerianische Lagos, wo in jeder Hinsicht schmutzige Geschäfte mit Erdöl getätigt werden. In der afrikanischen Metropole entwickelt sich aber alles ganz anders, als man es sich bei „Erzfeind“ vorgestellt hat.

„Salzhunger“ ist in gewisser Weise ein Krimi, wenn auch die vordergründige Aufklärung schon nach gut zwei Dritteln der Handlung erfolgt. Viel wichtiger als sie ist aber ohnehin das psychologische Spiel von Überzeugung und Verrat, das hier am Beispiel nicht nur der einerseits wohlmeinenden, andererseits ehrgeizigen Hilfsorganisation, sondern auch anhand der Großindustrie und des Polizeiapparats in Nigeria entfaltet wird. Und wichtiger sind auch die großartigen Pastellbilder von Gnehm, mit denen er das von ihm selbst zu Recherchezwecken besuchte Lagos zur Anschaulichkeit bringt. Das sieht der Farben und auch mancher Formen wegen manchmal so aus wie von Enki Bilal gezeichnet, aber die Figuren mit ihren durchaus karikaturesken Zügen (Knollennase bei Arno, feiste Physiognomien bei den Firmenvertretern) sind ganz originärer Gnehm. Und ein sowohl erzählerischer als auch graphischer Realismus, wie der Schweizer ihn pflegt, wäre bei Bilal natürlich undenkbar.

Wobei die apokalyptischen Grundstimmung bei beiden vergleichbar ist, ihre gesellschaftliche Skepsis und auch die Dauerthematik des Liebesverrats dahinter. Gnehm hat aber in seinen ungerahmten Panels, die dadurch wie in der Hektik des atemlosen Geschehens eilig arrangiert wirken, einen immensen seitenarchitektonischen Abwechslungsreichtum zu bieten, bis hin zu einem verstörenden doppelseitigen Close-up auf Arnos Gesicht, das ein grandioses Irritationsmoment schafft. Diese Hauptfigur, das weiß man spätestens da, ist ein unzuverlässiger Erzähler, was aber nicht meint, dass wir ihm nicht trotzdem nahezu alles glaubten. Das größte Geschick von „Salzhunger“ liegt in der Verbindung einer politisch unterfütterten Abenteuergeschichte und einem Psycho-Drama. Das Private ist hier politisch und umgekehrt. Man sollte diesen Band unbedingt lesen. Viel actionreicher und zugleich intimer kann man sich Comics kaum vorstellen.