Jens Genehr erzählt in seinem Comic „Valentin“ von Schindern und Geschundenen auf der größten Baustelle im nationalsozialistischen Deutschland: dem U-Boot-Bunker in Bremen-Farge.
Zweite Auflage? Das schaffen nicht allzu viele deutschen Comics, und noch viel weniger solche mit einem anspruchsvollen, schweren Thema. Wie Jens Genehrs „Valentin“. Doch dieser große Band mit seinen 220 Seiten Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus hat genau das geschafft: zweite Auflage, nach nur wenigen Monaten. Dabei ist es auch noch das Debüt des 1990 geborenen Zeichners, und auch der Verlag Golden Press kann nicht zu den Bekannteren auf diesem Feld gezählt werden. Es handelt sich dabei um die Privatinitiative einer Bremer Buchhändlerin, die die Möglichkeiten globaler Verlagsproduktion (hier: preisgünstiger Druck in Litauen) nutzt, um Titel herauszubringen, die ihr am Herz liegen. Oder zu Herzen gehen.
Golden Shop heißt der Buchladen in Bremen, und er versteht sich als antifaschistisch. Das ist Jens Genehrs Comic zweifellos auch. Er ist entstanden aus der Beschäftigung des Zeichners auf und mit dem „Denkort Bunker Valentin“, jener riesigen Betonruine im heutigen Bremer Stadtteil Rekum, wo die Nazis ungestört vom alliierten Bombardement U-Boote bauen lassen wollten. Auf die Idee kamen sie erst relativ spät, 1943, und ehe der riesige Bunker fertig wurde, war der Krieg aus – was leider immer noch zwei Jahre gedauert hatte, in denen mehr als zehntausend Zwangsarbeiter auf der Baustelle geschunden wurden, wovon etwa 1700 starben. Die Hybris des ganzen Vorhabens erwies sich, als die angeblich undurchdringlichen Betondecken von 4,5 Meter Dicke bei einem alliierten Angriff gleich mehrfach von Sprengbomben durchschlagen wurden. Daraufhin steigerte man die Dicke auf sieben Meter. Betonköpfen fällt eben immer nur noch mehr Beton ein.
Darauf waren sie aber auch noch stolz. Die Bauarbeiten wurden deshalb dokumentiert und zwar von einem Bremer Fotografen namens Johann Seubert. Man könnte das einen Glücksfall nennen, weil wir dadurch heute eine historische Quelle haben, die den Wahnsinn nur zu deutlich zeigt, aber es war auch eine Geschmackslosigkeit sondergleichen, weil natürlich doch fotografisch geschönt wurde, was auf der Baustalle passierte. Genehr macht es selbst in seinem Comic bisweilen zum Thema: wenn sich als Zwangsarbeiter eingesetzte Häftlinge aus dem KZ Bremen-Farge der besseren Bildwirkung wegen anders zu arrangieren haben oder aus dem Bereich der Kamera treten sollen. Dadurch, dass der Comic „Valentin“ einerseits vom Fotografen Seubert und andererseits von Raymond Portefaix erzählt, einem französischen Zwangsarbeiter, der seine Erlebnisse nach dem Krieg für ein Buch preisgegeben hat, bekommt man als Leser aber doch beide Seiten in den Blick.
Seuberts Aufnahmen, von denen zwei im wissenschaftliche Nachwort zum Comic abgedruckt sind, wirken technisch makellos, man könnte sie als Industriefotografie von hoher Qualität und Ästhetik bezeichnen. Dagegen ist Genehrs Comic in einem ungelenken Strich gehalten, der sich zwar im Laufe der Arbeit an der Geschichte deutlich professionalisiert hat, aber gerade in den graphischen Defiziten dem Thema insoweit gerecht wird, als man eine virtuose Darstellung für ähnlich zynisch hätte ansehen können wie die Fotografien von Seubert. In einem im Netz abrufbaren Video kann man sich eine Vorstellung von Genehrs Arbeit an „Valentin“ machen, während die Verlagsseite leider nur wenig Anschauung bietet.
Interessant ist, dass Genehr den Nachnamen des Fotografen wie überhaupt die aller deutschen Protagonisten mit dem jeweils ersten Buchstaben abkürzt (also Johann S. oder auch Edo M. für den Bauleiter des Bunkers). Im Nachwort dagegen werden vollständige Namen genannt. Der Comic suggeriert die Sprache von Anklageschriften im Strafprozess, und so etwas Ähnliches betreibt Genehr denn auch. Seine Nazis sind allerdings nicht nur charakterlich, sondern auch physiognomisch Scheusale, und derartige Schwarzweißmalerei im übertragenen Sinne (schwarzweiß ist der Comic auch konkret gezeichnet) fällt immer unangenehm auf, weil man sich damit Mitteln bedient, die totalitärer Propaganda entsprechen: Es gibt keine per se hässlichen Menschengruppen. Aber Genehr kann sich damit auf eine aufklärerische Ästhetik berufen, die auf George Grosz und John Heartfield zurückgeht. Nur war die noch in historio-graphischer Unschuld entstanden, nämlich vor den Exzessen der NS-Bildpropaganda.
„Valentin“ ist aber dennoch eine faszinierende Lektüre, weil die Person von Johann S. in ihrer opportunistischen Abgründigkeit von Genehr geradezu sachlich vorgestellt und nicht einfach denunziert wird. Es gibt Alltagsszenen aus dem deutschen Leben im Krieg und gleich neben der Höllenbaustelle, bei denen sich einem der Magen umdreht, weil da so banal das gute Leben in einer Diktatur gesucht wird. Und zugleich bekommt man Szenen aus dem Alltag der Zwangsarbeiter vorgeführt, die gerade in der bisweilen linkischen Darstellung Genehrs an manche der raren Bildzeugnisse von Häftlingshand aus den KZs erinnern: Wie hätte man das Grauen im Lager anders festhalten sollen als verzerrt? Es war ja ein Leben, das aus allen Fugen geraten war.
Dass Raymond Portefaix überleben wird, ist von Beginn an klar, weil Genehr in einem Prolog die Arbeit an seinem Comic selbst ins Bild setzt, inklusive der Anregung. Der Dramatik des Geschehens tut das keinen Abbruch. Und es führt zu einem eindrucksvollen Schlussbild, nachdem der Comic auf dem Frontispiz mit einer Frontalansicht von Johann S. eröffnet worden war, auf der er uns aufnimmt und damit gleichsam als aktive Elemente auszuschalten scheint. Am Ende aber steht eine Nahansicht von Raymond Portefaix bei einem Gespräch über seinen Zeugenbericht, lange nach dem Krieg, und durch seine Sätze wird erst die eigentliche Legitimation von Jens Genehrs Comic geschaffen. Das Panel übrigens, in dem Portefaix den Band beendet, ist unten schräg angeschnitten – als wäre der Überlebende immer noch im Bereich eines Fallbeils, das ihn das Leben kosten kann. Raymond Portefaix starb 1995 mit 78 Jahren in Paris. Sein Erinnerungsbuch trägt den Titel „Hortensien in Farge“ und erschien im Jahr seines Todes schließlich auch auf Deutsch. Er hat es noch erlebt.