Comic-Blog

UnbenanntSchock nach dem Schlusspfiff
von Andreas Platthaus

Ganz anders als man denkt, denn es geht gar nicht um Fußball: Guido van Driel erzählt in „Als wir gegen die Deutschen verloren haben“ von einem Mord in einer niederländischen Kleinstadt im Sommer 1974.

Auf der Leipziger Buchmesse hat man manchmal das Glück, Comics zu sehen, die erst in den Tagen danach in den Handel kommen, und manchmal hat man auch das Glück, schon ein Vorabexemplar zu bekommen. So hatte ich plötzlich einen kleinen Band in der Hand, auf den ich mich gefreut hatte, obwohl ich nicht mehr darüber wusste als den Titel: „Als wir gegen die Deutschen verloren haben“. Wer wie ich im Grenzland zu den Niederlanden geboren ist, weiß, was damit gemeint ist: kein Krieg, sondern ein Sportereignis, das am 7. Juli 1974 stattfand, das Finale der Fußballweltmeisterschaft im Olympiastadion von München. 2:1 gewann die Bundesrepublik Deutschland gegen die Niederlande. Oder Franz Beckenbauer gegen Johan Cruijff (ja, so schreibt er sich wirklich, „Cruyff“ war ein Kompromiss für die internationale Karriere), um die beiden Kapitäne und Weltstars ihrer Mannschaften zu nennen. In den Augen unserer Nachbarn war die Niederlage völlig ungerechtfertigt. Ein Trauma.

Ein Comic, der so einen Titel trägt, stammt natürlich aus den Niederlanden. Dort ist er schon vor vierzehn Jahren erschienen. Warum es so lange dauerte, bis eine Übersetzung herauskam, ist leicht erklärt: Die niederländische Comicszene ist eine der aktivsten in Europa, aber in Deutschland kennt man davon nur wenig. Daran wird die Ehrengastrolle des flämischen Sprachraums auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse einiges ändern. Wobei Hannes Ulrich, der Verleger von Avant, bei dem „Als wir gegen die Deutschen verloren haben“ erscheint, mit ein wenig Skepsis in Richtung Herbst blickt. „Als ich kürzlich mit einer Dame vom belgisch-flämischen Kulturbüro sprach, meinte sie, es sei ja klar, dass die Comics aus Belgien den niederländischen überlegen seien. Das sehe ich ganz anders. Aber unter den jetzt schon erschienenen Comics aus dem dortigen Sprachraum sind noch viel mehr belgische.“

Also hält Avant dagegen, und Guido van Driels „Toen wij van de Duitsers verloren“ ist blendend geeignet, die Stärke niederländischer Comics zu belegen (zumal wenn sie so schön übersetzt sind wie dieser hier von Annelie David). Im graphischen Stil und auch der sozialen Umgebung der Handlung ist van Driel ganz nahe bei dem Franzosen Baru, aber schon die ungewöhnliche Seitenarchitektur, die kein festes Raster kennt, sondern die jeweiligen Bilder zu Blöcken arrangiert, die wechselnde Freiräume auf der Seite lassen, verleiht dem Band eine ganz eigene Optik. Van Driel verdichtet und verschiebt seine Erzählmomente auf subjektive Weise – ein Abbild von Erinnerung, die ständig in Bewegung ist, nie statisch, und das passt, weil der Comic dezidiert als ein autobiographisch inspirierter ausgewiesen ist.

Van Driel wurde 1962 geboren und wuchs in Zaandam, einer Vorstadt von Amsterdam auf. 1974 hat er die sechsjährige niederländische Grundschule beendet, und sein Comic beginnt mit dem Abschlussfoto einer solchen Klasse, aufgenommen vor den Sommerferien, nach denen die Schüler sich auf die unterschiedlichen weiterführenden Schulen verteilen werden. Im Mittelpunkt des Fotos sieht man Jonas, den Protagonisten von „Als wir gegen die Deutschen verloren haben“.

Das blonde Mädchen rechts von ihm fällt erst nicht besonders auf. Im Laufe der Handlung erfährt man, dass ihr Name Helene ist und dass sie seit einigen Tagen vermisst wird. Wenn man zurückblättert, sieht man, dass Helene die einzige Blonde auf dem Foto ist und als solche heraussticht, und es sind solche Winzigkeiten, die immer wieder wichtig werden in diesem Comic, der im Zentrum eine Kindesmordgeschichte erzählt (und auflöst), während man meinen könnte, eine nostalgische Reminiszenz an eine Jugend in den frühen siebziger Jahren zu lesen.

Guido van Driel tut einiges, um diese falsche Plotspur zu legen, denn durch den Handlungszeitpunkt am Tag nach dem verlorenen Endspiel von München liegt eine generelle Depression auf dem sommerlichen Montag in Zaandam, und die bedrohlichen Nachrichten über Helenes Verschwinden nimmt man zunächst als nur einen weiteren Aspekt der Niedergeschlagenheit. Dann aber setzt sich immer mehr ein Puzzle zusammen, aus dem am Ende ein Bild hinter den Bildern entsteht – mit dem einzigen Schönheitsfehler, dass die Motivation des Täters auf eine Begebenheit im Zweiten Weltkrieg zurückgeht, die doch arg plakativ geraten ist.

Was dagegen reines Glück ist, sind die Farben: kräftig und doch abgeblasst, mit einem impressionistischen Touch, der perfekt zu diesem schwermütigen Sommertag passt (Leseprobe). Van Driel vermag es geschickt, die spezifische Ferienstimmung von Jonas und seinem Schulkameraden Daan zu vermitteln, die beide über ihre Enttäuschung vom Vortag hinwegmüssen. Zugleich stammen sie aus gegensätzliche sozialen Welten, und selbst dieses Element wird sich als wichtig für die unterschwellige Mordgeschichte erweisen. Selten habe ich einen Comic gelesen, der so subtil konstruiert war.
Was aber das Schönste daran ist: Obwohl Jonas der eindeutig wichtigste Akteur ist, entwickelt man an jeder Figur, und tauche sie auch noch so kurz auf, ein tiefes Interesse. Und über diese Menschen kommt uns eine Zeit, in der wir selbst nur ein paar Jahre jünger waren als van Driel, geradezu unheimlich nahe. Denn bis auf die Kleidung und die Interieurs ist das, was in „Als wir gegen die Deutschen verloren haben“ von zeitloser Gültigkeit.

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Flüchten oder standhalten?unbenanntvon Andreas Platthaus

Im Falle der neue Ausgabe des Schweizer Comicmagazins „Strapazin“ stellt sich die Frage nicht: Das, was es da zu lesen gibt, ist kaum auszuhalten. Es geht ums Thema Flüchtlinge, doch man muss doch nicht gleich auch das Publikum in die Flucht schlagen

Nicht immer trifft ein Schnellschuss ins Schwarze. Ein Beispiel gefällig? Die neue Ausgabe des besten deutschsprachigen Comicmagazins, Strapazin. Die widmet sich – jeder hätte es wohl ohnehin erwartet – dem Flüchtlingsthema: „Fliehen, abhauen, weggehen“ lautet das diesmalige „Strapazin“-Motto. Was diese dreifache Begriffswahl aussagen soll außer einer Tautologie, kann man sich fragen. Aber das wäre ja noch nichts gravierend.

Schwerwiegender ist, dass man den Beiträgen des Heftes die heiße Nadel anmerkt, mit der sie gestrickt wurden. Die Ausgabe dampft förmlich vor Aktualität, aber leider erweist sich manches als weitaus weniger heiße Lektüre, was da so rasch zusammengekocht wurde. Natürlich ist es von der Idee her toll, eine sechsseitige Comicreportage über die Zustände auf der griechischen Insel Lesbos anfertigen zu lassen, die zudem von Paula Bulling gezeichnet wurde, deren „Land der Frühaufsteher“ von 2012 zum Besten zählt, was überhaupt bisher an Comics über Flüchtlinge erschienen ist. Aber für die gerade einmal sechs Seiten der Reportage zeichnet ein Autorenkollektiv als Texter verantwortlich (man darf raten, wie viele Leute es umfasst; einiges spricht für vier), und das bekommt der Erzählweise nicht, denn alles bleibt sprunghaft, in der Form bloßer Momentaufnahmen. Und warum unbedingt die griechische Schreibweise „Levsos“ in den Titel des Comics musste, den unter deutschsprachigen Lesern wohl kaum jemand sofort zuzuordnen weiß, das kann man wohl nur mit übereifriger kultureller Korrektheit erklären. Solche Symbolhandlungen nutzen niemandem, schaden aber der Rezeption und damit dem guten Zweck.

Nun ist ein generelles Problem von Comicanthologien (und also auch von „Strapazin“) die kaum stattfindende redaktionelle Betreuung. Unter Zeichnern gilt immer noch das Prinzip der Narrenfreiheit, wenn man schon etwas einreicht, denn bezahlt wird man ja eh nicht angemessen dafür, und dann soll das, was da erscheint, wenigstens genau so sein, wie die Zeichner es sich erträumen. Leider entspricht nicht notwendig dem Traum der Leser, und was zum Beispiel eine entsetzlich umständlich anlaufende Erzählung der Reise zur Insel Lampedusa, die das „legendenumwitterte Zürcher Urgestein“ RO (über das man gerne mehr erfahren hätte als dieses kreuzdumme Schlagwort) im Bilderbuchstil gestaltet hat, im „Strapazin“ überhaupt soll, erschließt sich wohl nur dem, der ROs Werk kennt. Die anderen dementsprechend aufzuklären, hält man hier nicht für notwendig.

Generell hat man das Gefühl, hier wäre einigermaßen verzweifelt zusammengetragen worden, was denn eben gerade so zu bekommen war. Dass dabei im Falle der israelischen Zeichnerin Hila Noam nur ein schlapper Rutu-Modan-Klon herauskam, ist ja noch zu verschmerzen, wobei die Rückkehr einer jungen Israelin in ihre Heimat weder etwas mit „Fliehen“, „Abhauen“ oder „Weggehen“ zu tun hat, dafür umso mehr mit Klischees über Deutsche und Israelis gleichermaßen. Die Schweizerin Isabel Peterhans macht weiter, was schon in ihrem Debüt „Yallayalla“ von 2014 nicht wirklich überzeugend war, aber irgendwie doch den Weg ins Verlagsprogramm der renommierten Edition Moderne gefunden hatte – ich vermute mal einen Druckkostenzuschuss. Und der Gipfel des Banalen ist Zeps fünfseitige Schwarzweißgeschichte, in der er seine Erfolgsfigur Titeuf zum Flüchtling macht. Lesen heutige Comiczeichner keine alten Meister mehr, um etwa bei André Franquin zu lernen, wie man eigene populäre humoristische Figuren in ernsthafte Zusammenhänge versetzen kann, ohne sich zu blamieren?

Die neue Ausgabe von „Strapazin“ (Nr. 122) leistet der guten Absicht einen Bärendienst. Wenn das alles ist, was Comiczeichner an Engagement in der Flüchtlingsfrage aufbringen können, dann gute Nacht. Wo wäre denn jemand, der sich einfach vor der eigenen Haustür umschaut, wie es Sandra Bulling in ihrem „Land der Frühaufsteher“ gemacht hat? Daraus hätte es etwas zu lernen gegeben, da wäre Fremderes und vor allem Befremdlicheres zu finden gewesen, fürchte ich, als auf Lampedusa oder Lesbos. Der Einzige, der sich an so etwas versucht hat, ist der „Strapazin“-Dauergast Christoph Abbrederis. Dankenswerterweise ist seine achtseitige Bildergeschichte über diverse Kurztrips durch halb Europa der letzte Beitrag im Heft. Da hört man wenigstens mit einem positiven Gefühl auf zu lesen.

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UnbenanntEin Leben für die Kunst
von Andreas Platthaus

Die Vorboten der Frankfurter Buchmesse sind jetzt schon auszumachen: Im Herbst wird die flämische Sprachregion Gastland sein, und auf uns kommen erfreulicherweise viele Comic-Entdeckungen aus den Niederlanden und Belgien zu. Hier ist die erste.

Auf meinem Schreibtisch branden die ersten Vorboten einer großen Welle an: flämische Comics. Im Herbst werden die Niederlande und der flämische Teil Belgiens Gastland der Frankfurter Buchmesse sein, und die üblichen Routinen aus Übersetzungsförderung und Verlagsplanung rasten hier zuverlässig an, während es im Vorjahr, im Falle Indonesiens, deutlich schwieriger war. Wie viele indonesische Comics sind damals übersetzt erschienen? Ich erinnere mich an keinen. Und viele Romane oder Sachbücher waren es auch nicht.

Das wird in diesem Jahr also ganz anders, und das zeigt sich schon am frühen Beginn der Welle. Gerade im Comicbereich darf man da einiges erwarten, denn Belgien ist ja ohnehin die Comicnation in Europa schlechthin, und nur weil die französischsprachigen Autoren bekannter sind als die flämischen (Hergé, Franquin, Morris, Peyo, um nur die allererfolgreichsten zu nennen), sollte man nicht geringschätzen, was in der nördlichen Landeshälfte alles passiert. Die Niederlande wiederum haben eine höchst aktive Comicszene, die von den Deutschen bislang erstaunlich wenig beachtet wurde. Schön, wenn sich das nun ändert.

Nehmen wir als erstes Beispiel den Band „Hubert“ von Ben Gijsemans, einem in Brüssel lebenden, 1989 geborenen Zeichner, von dem ich noch nie zuvor gehört hatte. Die Übersetzung verdanken wir dem Berliner Verlag Jacoby + Stuart, der sich schon seit einigen Jahren im Bereich anspruchsvoller Comics profiliert hat und immer wieder für Überraschungen gut ist. Dieser Band ist eine sehr positive. Leider bietet der deutsche Verlag keine Leseprobe an, deshalb hier eine französische (was angesichts der Sprachstreitigkeiten zwischen Flamen und Wallonen in Belgien etwas frivol ist, aber was soll man machen?).

Gijsemans erzählt von Hubert Luyten, einem alleinstehenden Mann mittleren Alters, dessen größtes Vergnügen darin besteht, im Königlichen Museum für Schöne Künste seines Wohnorts Brüssel Frauendarstellungen aus allen Phasen der Kunstgeschichte zu betrachten und zu fotografieren, um sie dann zu Hause akribisch nachzumalen. Natürlich ist das eine Kompensation der eigenen Einsamkeit, und die Irritation bei Hubert, wenn seine kontemplativen Besuche im Museum durch andere Besucher oder Wärter gestört werden, hat auch etwas vom ertappten Liebhaber. Bisweilen fährt er auch nach Paris, ins Musée d’Orsay, wo mit Manets kalt-frivolem Akt der „Olympia“ ein besonderes Lieblingsbild hängt.

Es passiert so gut wie nichts auf den 86 Seiten von „Hubert“, und doch ändert sich für die Titelfigur die Welt. Denn durch zwei nicht ganz zufällige Begegnungen – mit einem Anhalter in Paris und einer Nachbarin in Brüssel – wird er mit dem Eigenbrötlerischen der eigenen Existenz konfrontiert, und durchs Fenster seiner Etagenwohnung erspäht er eine junge Frau auf der anderen Seite des Innenhofes, deren Schönheit ihn an die idealisierten Figuren der Altmeister erinnert. Am Schluss wird Hubert sich der Lebenden und damit dem Leben zuwenden, auch wenn er seiner isolierten Daseinsweise treu bleibt.

Wie Gijsemans diese schlichte Geschichte präsentiert, ist die schöne Überraschung. Er hat erkennbar viel bei seinem französischen Kollegen Pascal Rabaté abgeschaut, der den bislang gelungensten Comicband über den Louvre gezeichnet hat. Und die graphische Strenge wie auch den bewusst leeren Gesichtsausdruck der meisten Figuren (Hubert etwa verzieht hinter seiner markanten tropfenförmigen Brille kaum eine Miene) dürfte bei Gijsemans Landsmann Olivier Schrauwen seinen Ursprung gehabt haben. Beide Anleihen sind aber nicht epigonal, sondern stilistisch konsequent und der eigenen Geschichte von Gijsemans angemessen.
In den nächsten Wochen werde ich weitere Übersetzungen aus dem Flämischen vorstellen, den schon der Auftakt der Titelschwemme lässt vermuten, dass das deutsche Publikum hier mitgerissen werden dürfte. Im allerbesten Sinne des Wortes.

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UnbenanntHerzlichen Glückwunsch dem 95jährigen Geburtstagskind
von Andreas Platthaus

Frank King verfügte über alle Tricks: Der neue Band von „Walt and Skeezix“ zeigt die Meisterschaft seiner seit 1918 erschienenen Comicserie „Gasoline Alley“. In den Jahren 1931 und 1932, die hier dokumentiert werden, ist das besonders gut nachzuvollziehen.

Als ich vor etwas mehr als sieben Jahren dieses Blog bei faz.net begann, galt die erste Folge – wie konnte es anders sein? – der F.A.Z.-Comicserie „Strizz“ von Volker Reiche. Die ist nun leider Geschichte. Die zweite galt einem anderen Comic-Strip, der 1918 begonnenen Serie „Gasoline Alley“ von Frank King, und die gibt es immer noch (wie auch den damaligen Blog-Beitrag). Seinerzeit war ein überformatiger, prächtiger Nachdruck der farbigen Sonntagsseiten erschienen, herausgegeben von dem amerikanischen Comicwissenschaftler Jeet Heer und dem berühmten Comiczeichner Chris Ware, dem größten Verehrer von Kings „Gasoline Alley“. Beide zusammen geben beim Verlag Drawn and Quarterly auch eine wunderschön gestaltete querformatige Nachdruckreihe der Werktagsstrips heraus, die damals, Ende 2008, beim zweiten Band angekommen war. Heute sind sieben erschienen, und die Abstände zwischen den Einzelbänden werden immer größer. Dennoch lohnt sich das Warten immer.

Und wie lange habe ich darauf gewartet! Wochen brauchte das Buch aus den Vereinigten Staaten, doch im Gegensatz zum Dezember 2008, als ich dann auch noch das Paket beim Postamt abholen musste, was weitere Verzögerung bedeutete, trat ich am vergangenen Donnerstag gerade auf dem Weg ins Büro aus der Haustür, als zu denkbar unwahrscheinlich früher Zeit gerade der Paketbote davorstand. Entgegennehmen, auspacken und in der U-Bahn gleich anfangen zu lesen, war eins. Zumal der Band zum bestmöglichen Zeitpunkt kam, drei Tage vor dem 95. Geburtstag seiner Hauptperson, jenem Skeezix, der am Valentinstag 1921, also dem 14. Februar, als Baby vor der Haustür des Junggesellen Walt Wallet ausgesetzt wurde. Wallet adoptierte den neugeborenen Knaben, und von diesem Tag an zeichnete Frank King den Lebensweg von Skeezix in Echtzeit nach: Die Leser begleiteten ihn Tag für Tag beim Aufwachsen bis ins Erwachsenenalter und zur Familiengründung, dann seine Kinder, deren Kinder und so weiter bis heute, eben einen Tag nach dem 95. Geburtstag von Skeezix.

Glückwunsch also ihm, und Glückwunsch den Herren Ware und Heer zum neuen Band. Er deckt die Episoden der Jahre 1931 und 1932 ab, und da darin am 14. Februar 1931 der zehnte Geburtstag von Skeezix lag, ließ King damals den Strip vom 14. Februar 1921 mit der Auffindung des Babys noch einmal abdrucken – eine einmalige Aktion in der Comicgeschichte. Nicht, dass nicht auch andere Serie Nachdrucke alter Folgen veranstalten würden – „Calvin and Hobbes“ von Bill Watterson besteht seit mehr als zwanzig Jahren nur aus immer wiederholten Nachdrucken der von 1985 bis 1995 erschienenen Folgen, und die „Peanuts“ sind nicht mit dem Tod ihres Zeichners Charles Schulz gestorben, sondern auch da werden ständig alte Episoden wiederholt.

King aber baute die Wiederholung der zehn Jahre alten Folge in seine fortlaufende Handlung ein: Am 13. Februar 1931 ließ er Walt Wallet dem da gerade noch neunjährigen Skeezix ein Fotoalbum zeigen, in dem die ersten gemeinsamen Bilder zu sehen seien. Den Lesern wurde für den Folgetag, den Geburtstag, versprochen, dass sie diese Fotos dann auch sehen würden. Und so geschah es am Geburtstag selbst: mit den alten Bildern. Das war ein Meisterstück des augenzwinkernden Spiels von King mit Fiktion und Realität.
Wie perfekt Frank King es beherrschte, zeigt dieser Band vielfach. Nur noch ein Beispiel: Jedes Jahr findet in der Firma, in der Walt Wallet als leitender Angestellter arbeitet, ein Bankett für deren Vertreter statt. 1931 war es am 26. Februar so weit. Vor ein paar Jahren habe ich das Original der entsprechenden Folge von 1956 erworben, weil ich so bemerkenswert fand, wie King da auf einem extrem querformatigen Panel ein Panorama des Festsaals darstellte, das an den Rändern graphisch so verzerrt war, als wäre es mit einem Weitwinkelobjektiv aufgenommen. Er imitierte da ersichtlich die in den fünfziger Jahren aufgekommene Cinemascope-Breitwandtechnik des Kinos, die zur Projektion eine gekrümmte Leinwand verlangte, um die optische Illusion herzustellen. Und tatsächlich: Wenn man Kings querformatiges Bild auch derart nach vorne krümmt, stimmen die Proportionen wieder. So etwas hatte ich noch nie gesehen.

Denn ich kannte damals die entsprechende Folge von 1931 nicht. Nach dem Bankett, in der Folge vom 27. Februar, zeigt Walt seiner Ehefrau Phyllis (die er ein paar Jahre nach der Adoption von Skeezix geheiratet hatte, denn ein ordentlicher amerikanischer Junge brauchte doch eine Mutter im Haus) ein Foto des gestrigen Abends. Das sieht man als letztes Panel der Folge, und auch hier ist der Schnappschuss an den Rändern in die Breite verzerrt. Allerdings soll das da noch die Unfähigkeit des Fotografen dokumentieren. Doch King zeigt hier schon, dass er die Prinzipien der fotografischen Manipulation beherrscht und zeichnerisch zu adaptieren versteht. Und als besonderen Witz hat er unter seine in jeder Episode enthaltene Signatur „King“ diesmal das Wort „Photo“ geschrieben.
Es sind solche Feinheiten, die „Gasoline Alley“ zur interessantesten Comicserie überhaupt werden lassen. Dass sie ein Gesellschaftsbild der Vereinigten Statten über viele Jahrzehnte hinweg liefert, ist ein anderer Aspekt, der sie immens bedeutend macht. In den Jahren 1931 und 1932 wird die Depressionszeit im Geschehen der Serie immer spürbarer, und Jeet Heer widmet sein gewohnt kluges Vorwort vor allem diesem neuen pessimistischeren Zug des Strips. Dabei hatte King selbst gar nicht zu leiden, denn „Gasoline Alley“ war immens erfolgreich, und der zuvor in einer Kleinstadt in Illinois lebende Zeichner hatte sich just 1931 ein riesiges Anwesen im sonnigen Florida gekauft, wohin er mit seiner Familie (Gattin Delia und der gemeinsame Sohn Robert, das Vorbild für Skeezix) umzog.
Damit verließ der Zeichner, der für seine Serie immer akribische Recherchen durchgeführt hatte, deren Schauplatz, denn die Familie Wallet lebte in einer ungenannten Kleinstadt nicht allzu weit von Chicago entfernt, wo der Comic erschien (in der „Chicago Tribune“). Fortan, das betonen Ware und Heer, wandelte sich die Erzählweise: Es wurde abenteuerlicher, mehr allgemeine Probleme hielten Einzug, und das passte eben nicht nur dazu, dass Frank King die Lebenswelt seiner Protagonisten nicht mehr unmittelbar vor Augen hatte, sondern eben auch zu der Erkenntnis, dass die Krisenjahre in den Vereinigten Staaten anhalten würden. Wieder einmal erweist sich „Gasoline Alley“ als der treueste Spiegel der amerikanischen Gesellschaft.

So wie damals die Leser mit ihrer Serie und deren Protagonisten alterten, so tue ich es dank der großen Abstände zwischen den Nachdruckbänden heute auch wieder. Aber jeder „Walt and Skeezix“-Band (wie die Buchreihe aus rechtlichen Gründen heißen muss) führt nicht nur in jüngere Jahre der Comicgeschichte zurück, sondern belegt auch in immer größere erzählerische und zeichnerische Weisheit. Mit diesem Comic möchte man gern alt werden.

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Bryan-Talbot-Kate-Charlesworth-Mary-M-Talbot-Votes-for-Women-Der-Marsch-der-SuffragettenStarke Frauen, im Comic noch kämpferischer
von Andreas Platthaus

In den Kinos ist jetzt der Spielfilm „Suffragette“ angelaufen. Er erzählt vom Kampf ums Frauenstimmrecht in England. Doch das tut der Comic „Votes for Women“ auch. Und besser, weil ehrlicher.

In der letzten Woche ist „Suffragette“ in die deutschen Kinos gekommen, eine britische Produktion mit – beim Thema dankenswerterweise – überwiegend weiblicher Starbesetzung, die aber in Amerika merkwürdig erfolglos blieb, obwohl dort doch Filme über Bürgerrechtsbewegungen aller Art in den letzten Jahren sichere Erfolgsgaranten zu sein schienen. Aber vielleicht ist die Geschlechteremanzipation ja gegenüber der Genderemanzipation schon zu sehr Nebenthema geworden. Dann aber ist die Chance versäumt worden, eine dramatische Geschichte über die Entzweiung einer Gruppe von Idealistinnen zu erzählen.

Denn der Spielfilm „Suffragette“ erzählt lieber davon, wie Einigkeit stark macht und dadurch die Frauen den Politikern kurz vor dem Ersten Weltkrieg die Hölle heiß machen. Dabei war die damals auf dem Höhepunkt ihrer Wirkung stehende englische Suffragettenbewegung seit 1912 gespalten: Die Leitfigur der Kämpferinnen fürs Frauenstimmrecht, Emmiline Pankhurst, hatte ihre enge Mitstreiterin Emmeline Pethick-Lawrence samt deren Gatten aus der Women’s Social and Political Union (WSPU) geworfen, obwohl beide mehrfach für ihr Engagement im Gefängnis eingesessen hatten. Aber das Machtstreben von Emmeline Pankhurst (die noch häufiger inhaftiert war und sich oft im französischen Exil aufhalten musste) ließ keine Rivalin zu – und schon gar keinen Rivalen. Die wohlhabenden Pethick-Lawrences führten daraufhin den Kampf uns Frauenstimmrecht in eigener Initiative und vor allem mit der Förderung von Zeitschriften und sonstigen Publikationen fort. Und sie blieben der Sache auch nach dem Kriegsausbruch treu, als Emmeline Pankhurst alle emanzipatorischen Aktionen einstellen ließ, weil sie den nationalen Zusammenhalt in Gefahr sah.

Bis zum Krieg geht der Film nicht, aber der Comic „Votes for Women“ (der Schlachtruf der Suffragetten) tut es. Gerade ist er auf Deutsch bei Egmont erschienen – im Original ist er nach seiner Protagonistin benannt: „Sally Heathcote, Suffragette“, aber das mag zu unbekannt geklungen haben, wobei man sich fragt, warum es dann ein gewiss hierzulande auch nicht allzu bekannter englischer Schlachtruf werden musste. Mary M. Talbot hat gemeinsam mit Kate Charlesworth die Geschichte der politischen Bewegung recherchiert und eine Geschichte um ein schlichtes Dienstmädchen erzählt, die unversehens in den Mittelpunkt des Geschehens kommt. Genauso machte es der Film „Suffragette“ auch mit einer Wäscherin – wahrscheinlich ist es zu verführerisch, die großen Geschehnisse aus der Sicht einer besonders benachteiligten Frau zu erzählen. Der Comic macht es nur viel besser, weil er weitaus komplexer geraten ist.

Gezeichnet hat ihn ein Mann, Brian Talbot, der Mann von Mary M. Talbot. Er ist ein seit Jahren etablierter britischer Comiczeichner, der in Deutschland vor allem durch seinen Band „Die Geschichte von einer bösen Ratte“ bekannt geworden ist, die sich dem Thema Kindesmissbrauch widmet. Gemeinsam mit seiner Frau publizierte er 2012 den Comic „Dotter of Her Father’s Eye“ über die Tochter von James Joyce, der mit dem renommierten englischen Costa-Preis in der Sparte Biographien ausgezeichnet wurde.

Hier also jetzt eine fiktive Biographie jener Sally Heathcote, die alle Höhen und Tiefen der Suffragettenbewegung der Jahre 1908 bis 1915 miterlebt. Zu Beginn und am Ende sehen wir sie als greise Frau im Krankenhaus oder Altersheim, und man könnte denken, dass man es in dem Buch mit den Erinnerungen einer Sterbenden zu tun hat. Doch zu den Überraschungen zählt auch, dass sich die alte Dame am Schluss als noch quicklebendig und am Leben interessiert erweist – eine Erfolgsgeschichte geht da langsam ihrem Ende zu, aber vorbei ist sie eben noch nicht.

Vor dieser Folie ist es auch gar keine Missachtung der Berechtigung der Frauenstimmrechtsinitiative, wenn man auch ihre internen Probleme benennt. Im Gegenteil schärfen die Talbots und Charlesworth unseren Blick auf die damalige gesellschaftliche und politische Situation, ohne falsche Heroisierungen vorzunehmen. Es gibt unendlich viele Fakten in diesem Comic zu erfahren (und etliche ausführliche Kommentare im Anhang zu den 165 Seiten der eigentlichen Geschichte vertiefen das noch). Dass von Bryan Talbot keine besonders innovative Graphik (Leseprobe hier) zu erwarten ist, war klar, aber sein sachlicher Stil passt perfekt zur historiographisch-unaufgeregten Haltung, die sich nicht dem Schwung der durchaus revolutionären und auch gewalttätigen Bewegung ergibt, sondern kühl die Ereignisse schildert. Mit dieser Lektüre investiert man einige Stunden in einen echten Schatz: historisches Wissen.

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UnbenanntNeues Jahr, neues Leseglück
von Andreas Platthaus

Sofort loslesen: Hamed Eshrat zeigt mit seiner Lebens- und Liebesgeschichte „Venustransit“, wie gut erzählt deutsche Comics mittlerweile sein können.

Das neue Jahr fängt mit „Venustransit“ denkbar gut an. Venustransit? Das war doch 2012 das große astronomische Ereignis. Ja, genau, aber für den Comic „Venustransit“ gibt das Phänomen lediglich eine Metapher mit vielfachen Assoziationen her: Venus als Göttin der Liebe, durchkreuzte Bahnen, spannende Konstellationen.
Und das Buchdebüt des 1979 in Teheran geborenen, aber seit vielen Jahren in Berlin lebenden Hamed Eshrat bietet einiges an Spannung, unerwarteten Wendungen und Liebeswirren. Das klingt jetzt nach einem Herz-Schmerz-Comic, aber es ist ein – mutmaßlich tief autobiographisch grundierter – Bildungscomicroman, in dem über ein halbes Jahr im Leben von Ben Rama erzählt wird.

Ben ist ein junger Mann mit großen bildkünstlerischen Ambitionen, der sich in Berlin mit einem tristen IT-Bürojob durchschlägt und seine Liebe zu Julia durch seine Unzufriedenheit über die eigene Lebenslage aufs Spiel setzt. So zerbricht diese Liebe auch, und Ben rettet sich aus der resultierenden Niedergeschlagenheit in einen ehemals als gemeinsame Reise geplanten Trip nach Indien. Zurück kommt er verwandelt, findet neue Liebe, neues Glück, wird sogar einen ambitionierten Comic beginnen. Kurz: Es geht gut aus.
Aber bis es soweit ist, lässt Hamed Eshrat uns in einer Intensität und Beobachtungsgenauigkeit an Bens Nöten teilhaben, die ungewöhnlich ist. Diese Elemente hatten mich schon 2014 überzeugt, als Eshrat die damals noch unfertige Geschichte für das erste Berthold-Leibinger-Comicstipendium eingereicht hatte. Er kam damit unter die zehn Finalisten, und er fand einen Verlag (Interesse an dem Band hatten sogar mehrere).

Ins experimentierfreudige Programm von Avant, einem Haus, das mit Ulli Lust eines der wichtigsten Graphic-Novel-Debüts des letzten Jahrzehnts gestemmt hat, passt „Venustransit“ exzellent.
Denn experimentierfreudig ist Eshrat allemal. Allein die Schilderung der Indienreise ist ein Meisterwerk: Dieses umfangreiche „Zwischenspiel“ von „Venustransit“ ist nicht als klassischer Comic erzählt, sondern als Faksimile eines auf der Reise mitgeführten Skizzenbuchs, in das auch zahlreiche Dokumente wie Fahrkarten, Prospekte, Eintrittskarten etc. eingeklebt wurden. Das Prinzip des reproduzierten Reisetagebuchs hat vor nicht allzu langer Zeit (und seltsamerweise auch zum Thema Indien) Sebastian Lörscher mit „Making Friends in Bangalore“ vorgeführt – wobei das eine augenzwinkernde Schilderung weniger Wochen war, während Bens Flucht nach Asien fast einen Winter lang währt und nicht Selbstironie, sondern Selbstfindung im Mittelpunkt steht. Die elliptische Methode (Auslassen der eigentlichen Ereignisse auf der Reise, dafür Präsentation der Resultate in Form der Andenken und vor allem von Bens Skizzen) lässt uns beim Lesen weiter rätseln, in welcher Verfassung Ben wohl nach Berlin zurückkehren wird. Zugleich vollzieht man über die bisweilen rätselhaften Faksimileseiten die Irritation nach, die der Protagonist in der Fremde empfunden haben wird.

Erzählerisch agiert Hamed Eshrat also höchst subtil. Wie sieht es graphisch aus? Ansehen kann man es sich zum Beispiel hier. Dass derzeit Gott und die Welt in Deutschland schwarzweiße Bleistiftcomics zeichnet, dürfte beim Beginn der Arbeit an „Venustransit“ nicht absehbar gewesen sein. Ulli Lusts stilistisches Vorbild ist bereits beim Titelbild klar erkennbar, auch die psychologische Dichte der Beschreibung hat da eine Vorläuferin. Panelrahmen setzt Eshrad nicht, dafür gibt es Stilwechsel, um die Seelenzustände von Ben zu illustrieren. Dass die Grenzen zwischen seinen eigenen Comicversuchen und dem Comic, der von ihm erzählt, bisweilen verwischen, ist ein klug eingesetztes Verfahren.
In den 250 Seiten lernen wir aber nicht nur Ben und seine beiden Freundinnen Julia und später Imma kennen, sondern auch eine kleine Freundesgruppe, die sich in einem von dem Türken Ali betriebenen Berliner Spätkauf trifft. Über Alis Leben wird ebenso geschickt nebenbei in „Venustransit“ erzählt wie über das von Beule, Bens bestem Freund noch aus gemeinsamen Punkzeiten. Wie sich da die Sympathien verschieben (untereinander, aber auch zwischen Leser und Figuren), das gehört zum Interessantesten, was deutsche Comics zuletzt hervorgebracht haben. Wenn dieses Jahr so weiter geht, wie es anfängt, dann dürfen wir das Beste erwarten.

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UnbenanntUnaussprechliche Bilder
von Andreas Platthaus

Ein Grundpfeiler nicht nur der Comicgeschichte erscheint nach 45 Jahren zum ersten Mal auf Deutsch: „Die sechs Reisen des Lone Sloane“ von Philippe Druillet sind der ästhetische Prägestempel der siebziger Jahre

Wie recht hat doch die Verlagsankündigung: Die Geschichten um Lone Sloane erinnern an die Texte von H.P. Lovecraft, den Meister des Horrors, der in den Gehirnen seiner Leser Vorstellungen von namenlosen Schrecken zu erzeugen versteht (schon allein die Rede von „namenlosen Schrecken“ ist eine typisch lovecraftsche Formulierung). Aber der amerikanische Schriftsteller nutzte dazu eben unsere Phantasie, die er nur entzündete, während der französische Comiczeichner Philippe Druillet seine eigene ins Spiel bringt. Bringen muss, denn der Comic ist notgedrungen graphisch explizit und gibt uns Bilder vor. Nur einmal reingesehen, und es wird jedem klar sein.

Deshalb taugt der Lovecraft-Vergleich nur bedingt. Man lässt sich da zu sehr mitreißen von Druillets Texten, die genau den Duktus des großen 1937 gestorbenen Vorbilds aufnehmen: „Gebadet in infernalisches Licht, gleitet Sloane bewusstlos im teuflischen Rhythmus der monströsen Maschinen und der Anrufungen der Priester. Der Ruf seines Lebens hallt wider im Herzen des ungeheuren Nichts, in dem der Schwarze Gott schläft.“ O là là, ginge es nicht auch ein bisschen kleiner oder zumindest weniger epigonal?

Da hilft selbst der beste derzeit aktive deutsche Comicübersetzer, Uli Pröfrock, nicht. Er bleibt nahe am Original, aber Druillet war ja de facto auch schon Übersetzer von Lovecrafts Stil ins Französische, und so verstärken sich mit der abermaligen Übertragung die spezifischen Marotten noch, und aus dem epischen Ton der Saga wird unfreiwillig ein fast schon satirischer. Das aber bringt Text und Bilder in einen Konflikt, denn eines ist Druillets „Lone Sloane“ ganz gewiss nicht: komisch.

Andererseits muss man realistisch sein und fragen, ob denn überhaupt jemand diesen Comic „liest“. Seine Bilder überwältigen derart, dass man es ohnehin besser nicht tun sollte, denn die Geschichte ist ein bloßes Vehikel für gigantische Seitenarchitekturen, in denen organische, mechanische und exotische Formen eine visionäre Mischung eingehen, von der später HR Giger bei seinen berühmten Entwürfen für den Science-Fiction-Klassiker „Alien“ profitieren sollte. Druillet brachte den Comic an die Grenze zum Erzählen, sein Zyklus der ersten sechs Sloane-Geschichten ist eher Trip im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes als Abenteuerreise. Als die Episoden 1970/71 im Comicmagazin „Pilote“ erschienen, müssen sie verstörend gewirkt haben, obwohl sie da nur im Heftformat publiziert wurden, was Druillet bisweilen dazu verführte, für einzelne besonders detailreiche Seiten (als Originalzeichnungen sind sie bis zu fast einem Meter hoch) einfach eine ganze Doppelseite in Beschlag zu nehmen, die dann der Leser eben um neunzig Grad drehen musste, um sie richtig betrachten zu können.

Die deutsche Erstausgabe dagegen bietet nun ein Album im Überformat, und selbst da sind die doppelseitigen Einschübe beibehalten, obwohl nunmehr die schiere Fläche ausgereicht hätte, um ihnen gerecht zu werden. Doch längst sind Druillets Kurzgeschichten ihr eigener Mythos, und dazu gehört eben auch die Maßlosigkeit des Spiels mit dem Format, was hier dann ebne ins noch Gigantischere gesteigert wird. Zudem hat der Avant Verlag, der dieses publizistische Wagnis eingeht – denn Druillet zählt anders als in Frankreich hierzulande nicht zu den Stars –, ein faszinierendes Titelbild gewählt, dass weitaus plakativer ist als das der französischen Ausgabe von 2012, die ansonsten das Vorbild abgab: Sloanes feuerrote Augen scheinen aus den Höhlen herauszubrennen. Damit wird ein Detail sichtbar gemacht, dass in den Geschichten selbst immer mehr behauptet als gezeigt wurde.

Damit aber wird nur noch weiter verstärkt, dass Druillet uns keine Freiheit zur eigenen Vorstellung zu lassen gewillt ist. Er zeichnet uns vor, was wir zu sehen haben. Seine Weltraum-Saga um den irdischen Rebellen Sloane, dem durch dämonische Kräfte eine geradezu göttliche Kraft verliehen wird und der sich dann auf den Rückweg zur Erde begibt, verdankt viel mehr als Lovecrafts Stimmungen dem höchst konkreten Vorbild des amerikanischen Superheldenmeisters Jack Kirby, der in den sechziger Jahren immer pathetischere Posen und Dekors für seine Comicbilder entwickelte und sie 1972 in die Serie der „New Gods“ kulminieren ließ. Darin allerdings war ihm Druillet zwei Jahre voraus – er brachte Kirbys Welt bereits früher an den Punkt, zu dem deren Schöpfer noch unterwegs war. Das zeigt Druillets in der Tat epochales Stilgefühl, denn er nimmt mit „Lone Sloane“ auch Moebius und Mezières vorweg – kein Wunder, dass er dann wenig später auch zu den Gründern der Zeitschrift „Métal Hurlant“ gehörte, die in der amerikanischen Version „Heavy Metal“ zum graphischen Ausdruck der siebziger Jahre wurde.

Daran hatte auch das erste Plattencover, das Druillet schuf, seinen Anteil. 1970 gestaltete er es für die Londoner Rockgruppe Grail, und im Bonusmaterial zu „Die sechs Reisen des Lone Sloane“ ist es mit Vorder- und Rückseite abgebildet. Verwendet hatte Druillet dafür das Splashpanel der zweiten Episode von „Lone Sloane“ und die spektakulärste Seite der sechsten und somit letzten der im Album abgedruckten Geschichten. Die aber erschien in „Pilote“ erst im April 1971, also lange nach der Grail-Platte. Was den Schluss erlaubt, dass Druillet seinen ganzen assoziativen Erzählzyklus in einem Rutsch geschrieben und gezeichnet hat, nicht, wie bislang angenommen, als einzelne Abschnitte. Dadurch stellt sich die Frage der inhaltlichen Geschlossenheit neu: Als aus einem Guss gefertigte Geschichte muss man den „Sechs Reisen“ gravierendere erzählerische Mängel bescheinigen, als wenn Druillet sie jeweils nach monatelangen Pausen wieder aufgenommen hätte.

Doch gleichzeitig wird nun auch klar, wie diese überwältigende Zeichenwelt ihre graphische Geschlossenheit finden konnte. Sie ist offenbar Ergebnis eines Schaffensrausches des damals Mittzwanzigers, und das Magazin streckte den Abdruck über ein ganzes Jahr hinweg. Die Redaktion wollte ihrem Publikum damals diesen Trip nur in einer Dosierung zumuten, die nicht gleich süchtig machen würde. Geschadet es Druillets Karriere nicht. Er ist ein großer Visionär des Comics. Immer noch.

Comic-Blog

UnbenanntAußerirdisch witzig
von Andreas Platthaus

Wer nicht regelmäßig die einzelnen Episoden von „Q-R-T“, dem Kindercomic von Ferdinand Lutz, gelesen hat, dem ist etwas entgangen. Aber nun kann man die Lektüre nachholen, und sie wird sogar noch besser

Ja, Comics in Fortsetzungen sind eine gute Sache. Und nein, ich lese sie trotzdem lieber gesammelt, also als abgeschlossenes Buch. Was damit zu tun hat, dass es schöner ist, eine in Fortsetzungen oder zumindest Einzelepisoden erzählte Geschichte komplett zu lesen. Zehn Folgen von „Calvin und Hobbes“ oder den „Peanuts“ amüsieren mich mehr als nur eine, auch wenn ich weiß, dass sie als einzelne Strips konzipiert worden sind. Aber auch die amerikanischen Heftserien sind ja erfolgreicher als Sammelbände denn in Einzelausgaben. Das ist dasselbe Phänomen wie der Triumph von Fernsehserien, die heute fast alle Liebhaber als Download oder DVD hintereinander wegschauen.

Fortsetzungscomics gibt es auch in „Dein Spiegel“, dem Jugendmagazin des Nachrichtenmagazins. Als es 2009 erstmals erschien, war sofort „Ferdinand“ dabei, der Comic von Ralf Ruthe und Flix über einen Reporterhund. Den habe ich aber auch erst gelesen, als er bei Carlsen als Buchreihe herauskam. 2011 kam in „Dein Spiegel“ eine neue Serie hinzu: „Q-R-T“, gezeichnet von dem 1987 geborenen Ferdinand Lutz, der in Köln arbeitet. Und die ist nur endlich auch als Buch erschienen, bei Reprodukt im kaum genug zu preisenden Kindercomicprogramm dieses Verlags: nicht komplett natürlich (dafür gibt es schon zu viele Episoden), aber als 130-Seiten-Band, der inhaltlich einen ganz anderen Sog entfaltet als die Einzelgeschichten im Magazin.

Hier sieht man nämlich, wie geschickt Lutz seinen Leitfaden spinnt, der alle Episoden verbindet. Nicht, dass nicht jede für sich lustig wäre (o.k., einige sind sehr lustig – zum Beispiel „Kurt ist deutlich zu laut“ –, andere weniger – wie die direkt darauf folgende sehr klischeebehaftete „Eine teure Vase zerbricht“), aber wie schön bestimmte Marotten wiederaufgenommen werden, wie sich Figurenkonstellationen fortsetzen, ja selbst, dass ein innerer Zusammenhang, der über die Handelnden hinausgeht, besteht – das alles merkt man bei Komplettlektüre besser. Und da Lutz über sie seltene Fähigkeit verfügt, kindgerecht zu erzählen (einfach, aber nicht naiv), liest man das Ganze aals Erwachsener auch sehr schnell.

Es sieht übrigens auch sehr gut aus (Leseprobe hier): Ferdinand Lutz hat als zentrale Figur mit seinem Außerirdischen Q-R-T (was manche Erdlinge als „Kurt“ missverstehen) eine wunderbare Kinderfigur und durch seinen Begleiter, den Formwandler Flummi, eine sichere Bank für visuelle Gags. Die Seitenarchitektur ist unaufgeregt, jedoch nie eintönig, denn bisweilen lässt Lutz seine Episoden auch mal mit zwei seitengroßen Panels enden. Oder er signalisiert den Gemütszustand von Q-R-T durch zwei Bilder, die in immer tieferes Rot getaucht sind, während der kleine Außerirdische immer kleiner wird.

Selbstverständlich erinnert das Personal ein wenig an „Calvin und Hobbes“: kleiner, durchaus altkluger Junge und dessen treuer Freund, der für niemanden außer ihm als solcher erkennbar ist. Auch das naseweise Mädchen aus der Nachbarschaft gibt es, aber Lara aus „Q-R-T“ ist weitaus vielschichtiger als Susie Derkins. Im Laufe des Buchs deckt sie die Identität des scheinbaren Nachbarsjungen auf, und just, als das Geheimnis ganz gelüftet ist, endet auch dieser Sammelband, so dass man doch versucht ist, wieder mal „Dein Spiegel“ zu lesen, denn jetzt will man wissen, wie es weitergegangen ist.

Comic-Blog

ottitschStrahlemann, schwarzhumorig
von Andreas Platthaus

Als junger Cartoonist hat man’s nicht leicht, denn an den Stars kommt man nicht vorbei, und die Publikationsforen sind unbefriedigend. Umso schöner, wenn ein schönes Buch herauskommt wie Oliver Ottitschs „Einfach ausrasten“

Bis zum 24-Stunden-Cartoonfestival, das vom Duo Hauck & Bauer im vergangenen August in Berlin organisiert wurde und bei dem ich ein Sechstel moderieren durfte, kannte ich Oliver Ottitsch nicht. Den Zeichner zwar schon, durch seine Bilder, die in etlichen Zeitschriften zu finden waren und sind, aber nicht diesen freundlichen Österreicher – was für ein akustischer Genuss: Oliver Ottitsch aus Österreich; ich hatte diesen Wohlklang prompt verdreht – mit den blitzenden Augen, der so gar nichts vom schwarzen Humor seiner Cartoons hat.

Wie kommt also der reizende, 1983 geborene Grazer zu so boshaften Bildern wie dem Wechselspiel im Trainingscamp von Selbstmordattentätern („Jetzt du“, ruft der abgerissene Kopf dem noch heilen Kollegen zu) oder dem durch einen abgefallenen (und ich drücke mich hier harmlos aus) Körper des Gekreuzigten bebilderten Umsetzung der Volksweisheit „Nichts hält ewig“? Die finden sich in einem ausgesprochen schön gestalteten Band mit dem Titel „Endlich ausrasten“, den der mir zuvor unbekannte Linzer Verlag Scherz & Schund produziert hat – nach Kein und Aber jetzt mein Lieblingsverlagsname. Fast hundert Cartoons werden da gesammelt, eine Dramaturgie ist zwar nicht erkennbar, aber das Bestreben nach schöner Präsentation, was soweit geht, das es in der Mitte sogar eine Ausklappseite gibt, die den durch die plötzliche Panoramawirkung geschaffenen Überraschungseffekt zur Grundlage des Gags macht. Das muss sich ein Verlag erstmal leisten wollen.

Mit Ottitsch hat Scherz & Schund aber auch eines der wenigen echten Talente gewonnen, die der Cartoonsektor in Deutschland zu bieten hat. Nicht, dass der Markt daniederläge – die Erfolge von Joscha Sauer oder Ralf Ruthe, der mittlerweile legendäre Ruf von Rattelschneck oder beck (bei jeweils leider geringerem Erfolg) und das neue Vertrauen des „Spiegels“ in die Form des Cartoons, die jüngst zu einem festen Platz im Blatt für die Zeichnerin Kitty Hawk geführt hat, stimmen verheißungsvoll, doch in der Flut von Netzforen hat man zwar zahllose Publikations-, aber wenige Profilierungsmöglichkeiten. Daran scheitern manche begabte Zeichner und landen lieber in der Werbung oder arbeiten an umfangreichen Comicvorhaben, denn wenn man sich schon ausbeutet, dann wenigstens für etwas, an dem das eigene Herz wirklich hängt. Da kommt ein so schönes Buch wie das von Ottitsch gerade recht, um zu signalisieren, dass hier jemand kommt, mit dem man als Cartoonist rechnen sollte (Leseprobe hier).

Die Erbschaft, die Ottitsch antritt, ist unschwer zu erkennen: natürlich Rattelschneck betreffs der Drastik des Humors, aber auch Til Mette, OL oder Stefan Rürup scheinen Pate gestanden zu haben. Das Themenspektrum ist breit, und nicht zuletzt die Genreparodien oder noch besser gesagt: Genreverhohnepiepelungen sind äußerst amüsant. Etwa er Superheld Captain Paradoxon, der einem – auch extrem witzig gezeichneten – Superschurken auf dessen Todesdrohung antwortet: „Nur über meine Leiche!“ Oder der Hinkelsteinlieferant Obelix auf dem Weg zur Steinigung. Oder am allerschönsten: Unlucky Luke, der Mann, der sich schneller erschießt als sein Schatten. Auf diesen Bildwitz sollte die ganze Zunft neidisch sein.

Natürlich gibt es auch einiges Bemühtes, für ein Best-of ist Ottitsch denn doch noch nicht lange genug im Geschäft. Bisweilen verlässt er sich zu sehr auf den Wortwitz und vernachlässigt die Zeichnung. Für einen Einfall wie die Verballhornung von Pontius Pilatus zu Pontius Pilates aber braucht man das Bild, und gerade dann ist der im besten Sinne aufs Notwendige reduzierte Strich von Ottitsch perfekt. Der Schriftsteller, der auf einem Blatt unter seinen Vorlesetisch greift und dazu mit Blick aufs Publikum denkt: „Wenn das Pathos nicht wirkt, habe ich immer noch das Tränengas!“, könnte auch einfach „Endlich ausrasten“ einsetzen. Tränen sind da garantiert, und es sind keine aus Traurigkeit.

So schön war der 11.11.!

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Die Überlebenden der glorreichen Sondermann-Gala vom 11.11.15 im übersichtlichen Schaubild. V.l.n.r.: Oliver Maria Schmit (Moderation), Horst Evers (Stargast), Leo Riegel (Förderpreis), Hans Zippert (Witze), Gabi Roth-Pfarr, Andreas Platthaus (Laudationes), Michael Sowa (Hauptpreis), Jens Friebe (Musik) und Leo Fischer (Geschrei). Wir danken allen An- und Abwesenden! Foto: Tom Hintner