Andreas Platthaus: Diese Helden sehen alt aus

Die jüngste Fortsetzung der klassischen Serie „Blake und Mortimer“ hat eine Sensation: den Zeichner Francois Schuiten. Und eine beklagenswerte Schwäche: alles andere.

Nie haben Blake und Mortimer so alt ausgesehen, und dabei sind sie ja schon seit 1946 im Comicgeschäft. Das ist sowohl comichistorisch wie inhaltlich richtig, denn das erste Abenteuer, in dem der belgische Zeichner Edgar Pierre Jacobs seine beiden britischen Helden auftreten ließ, „Kampf um die Welt“, erschien 1946 im Magazin „Tintin“, und das Geschehen, das darin erzählt wurde, fand in der unmittelbaren Gegenwart statt: einer Nachkriegswelt, die allerdings ganz andere Züge trug, als die Realität. Der Leutnant Francis Blake und der Physiker Philip Mortimer hatten es mit einem asiatischen Diktator zu tun, der die kriegszerrüttete Menschheit unterwerfen wollte. Die in Europa altbekannte „gelbe Gefahr“ ließ grüßen; an Klischees ist diese Serie traditionell sehr reich.

Mit Jacobs‘ Tod schien sie 1987 zu Ende, denn wer sollte dieses Mammutprojekt, in dessen akribischen Ligne-claire-Bildern es Textmengen zu bewältigen galt wie in keiner anderen erfolgreichen Comicserie, bewältigen? Jacobs hatte sie immerhin sein halbes Leben lang gezeichnet, und am Ende waren die Abstände zwischen den Einzelbänden wie bei seinem Lehrmeister Hergé immer größer geworden; allerdings machte Jacobs auch alles selbst. Als er starb, lag „Mortimer gegen Mortimer“ unvollendet vor, aber Bob de Moor, wie Jacobs ein wichtiger Hergé-Assistent, brachte das Abenteuer zu Ende. Danach sollte es gut sein. Aber warum, sagten sich die Erben, darf ein Riesengeschäft so einfach mit seinem Begründer sterben?

Also erschien 1996 mit „Der Fall Francis Blake“ das erste Album, mit dem Jacobs nichts zu tun hatte, immerhin gezeichnet von Ted Benoît, der den Stil des Serienschöpfers so perfekt imitierte, dass kein Bruch zu sehen war. Und mit Jean van Hamme setzte man einen der renommiertesten Szenaristen auf die Geschichte an. Zum großen Erfolg wurden die Fortsetzungen aber erst zur Jahrtausendwende, als mit André Juillard nicht nur ein großer Könner, sondern auch ein Bestseller-Zeichner die Feder bei „Blake und Mortimer“ führte. Er wurde gemeinsam mit dem Szenaristen Yves Sente zum Rückgrat der Serie, und die Pausen zwischen den Bänden des Duos füllte man mit Arbeiten von weiteren Hoffnungsträgern, die aber alle nicht recht überzeugten. Inzwischen aber wurde „Blake und Mortimer“ immer berühmter, vor allem nachdem der größte Teil des Nachlasses von Jacobs in den Besitz der König-Baudouin-Stiftung übergeben wurde. Seitdem ist Jacobs mehr noch als Hergé der belgische Comic-Nationalheilige.

Und vor wenigen Wochen ist der jüngste Band der Serie erschienen – derjenige, in dem Blake und Mortimer so alt aussehen. Er heißt „Der letzte Pharao“, und wer bei dem Titel nicht an „Das Geheimnis der großen Pyramide“ denkt, das Jacobs Anfang der fünfziger Jahre publiziert hat, der kennt „Blake und Mortimer“ nicht (wer sein Gedächtnis auffrischen will, tue das hier). Tatsächlich zitiert der neue Band schon mit der Anfangssequenz das siebzig Jahre alte Abenteuer (man ist noch einmal mit Balke und Mortimer im Inneren der großen Pyramide von Gizeh), doch im Laufe der Handlung führt das Geschehen in ein Brüssel der achtziger Jahre, wenn man das Aussehen der Computer in den Büros als Maßstab nehmen darf. Es ist eine alternative Weltvergangenheit, denn im Justizpalast von Brüssel, einem Protzbau aus der Kolonialzeit des kleinen Landes, der selbst wie eine Pyramide über der Stadt thront, wurde in den siebziger Jahren (wenn man das Aussehen Autos als Maßstab nimmt) eine seltsame Strahlung frei, die eine Evakuierung der belgischen Hauptstadt erforderlich machte. Doch einige Bewohner sind in der künftigen No-go-area zurückgeblieben und begründen dort eine neue Gesellschaft, die sich vor allem in den Katakomben der Metropole ansiedelt und eine quasimystische Weltanschauung pflegt.

Nun dürfen Comickundige dreimal raten, wer für eine solche Geschichte wohl verantwortlich ist, und das Moebius tot ist, sollten sie sofort auf Francois Schuiten kommen. Dessen gemeinsam mit Benoît Peeters konzipierte Serie der „Geheimnisvollen Städte“ gab die Blaupause her für ein Szenario, das problemlos auch in diesen Zyklus gepasst hätte, und Schuiten hat zwar nicht Peeters an Bord geholt, aber mit Jaco van Dormael und Thomas Gunzig willige Adepten. Und er hat Blake und Mortimer für ihre Auftritte in den achtziger Jahren heftig altern lassen. Da Carlsen seine Leseprobe, wenn es sie geben sollte, wieder einmal gut versteckt hat, hier ein Verweis auf eine reiche französischsprachige Website. Hier kann man sich ansehen, wie die beiden Helden aussehen. Für ihren angegrabbelten Zustand sind sie noch reichlich rüstig, wenn auch Mortimer die deutlich größere Rolle innehat.

Was Schuiten graphisch veranstaltet, ist aller Ehren wert, die Geschichte dagegen ist bei allen traditionellen Klischees selbst eines. Pate für die Handlungsgrundidee stand erkennbar der Reaktorunfall von Tschernobyl, der ein riesiges unfreiwilliges Naturschutzgebiet geschaffen hat, in dem es weitaus besser aussieht, als man sich das 1986 hätte träumen lassen. Doch anstatt etwas aus dieser Konstellation zu machen, wird in „Der letzte Pharao“ nur immer mehr Jacobs zitiert, wird alles noch seltsamer, und da können auch die pastelligen Schuiten-Farben nichts mehr retten, die eine unwirkliche alternative Realität schaffen, die zum Bemerkenswertesten gehört, was ich seit langer Zeit gesehen habe. Aber Geschichte schlägt Graphik, das war beim Comic schon immer so, und hier ist die Graphik mit einer schwachen Geschichte geschlagen. Pech. Aber dem Erfolg der neuen „Blake und Mortimers“ wird das keinen Abbruch tun.

Andreas Platthaus: Die Einzelkämpferin aus und gegen Zürich

Simone F. Baumann zeichnet seit Jahren an einer selbstverlegten Heftserie: „2067“ bietet in bester Underground-Tradition ein durch Phantastik immer wieder ins Surreale getriebene Porträt ihrer selbst und der Stadt, in der sie lebt.

Vor zwei Monaten war ich in Zürich, zur Verleihung der letztjährigen Kulturpreise der Stadt. Anlass gab es dazu reichlich: Nicht nur ging die wichtigste Auszeichnung des Abends, der Kulturpreis für besondere Verdienste, nur zu berechtigt an David Basler, den früheren Verleger des in Zürich ansässigen Comicverlags Edition Moderne, sondern gleich drei weitere Comicschaffende wurden außerdem noch bedacht (alle in der Sektion Literatur): Matthias Gnehm mit einer Auszeichnung in Höhe von 10.000 Schweizer Franken für seinen auch in diesem Blog schon gewürdigten Band „Salzhunger“, übrigens auch bei der Edition Moderne erschienen, Kati Rickenbach für einen gerade in Arbeit befindlichen Comic mit einem „Halben Werkjahr“, was immerhin eine Gesamtfördersumme von 24.000 Franken ausmacht, und Simone F. Baumann ebenfalls mit einem solchen Halben Werkjahr.

Baumann erhält dieses Stipendium für die Fortführung ihrer Heftreihe namens „2067“, die zum Zeitpunkt der Auszeichnung bereits auf 39 Ausgaben zurückblicken konnte, von der ich allerdings noch nie zuvor gehört hatte. Alle sechs bis sieben Wochen bringt die junge Autorin ein neues, jeweils selbstkopiertes Schwarzweiß-Heft im A5-Format heraus, 36 Seiten stark und zehn Franken teuer – wer also alles von ihr lesen will, muss mittlerweile schon an die vierhundert Franken ausgeben (im Abonnement kosten die Hefte sogar noch einen Franken mehr, weil das Porto dazukommt, aber Achtung: Nach Deutschland wird’s noch teurer). Lesenswert dürften sie aber allemal sein, wenn ich von dem einzigen Heft her urteilen darf, dass ich bisher kenne: eben dem neununddreißigsten, das ich auf der Preisverleihung geschenkt bekam.

Allerdings nicht von Simone F. Baumann selbst, sondern von einem denkbar prominenten Fan und Mentor: dem großartigen Schweizer Zeichner Thomas Ott, international erfolgreich mit seinen meist stumm erzählten Schabkarton-Geschichten. Er ist begeistert von „2067“, obwohl Baumann einen ganz anderen graphischen Stil pflegt: Tuschezeichnung, leicht vergrößerte Köpfe der Figuren, Texte ohne Sprechblasen, die aber als wörtliche Rede durch Anführungszeichen gekennzeichnet und direkt in die Bilder gesetzt sind. Das klingt in der Kombination formal ungewöhnlich, knüpft aber an die Underground-Tradition der amerikanischen sechziger Jahre an. Wobei „2067“ das Karikatureske von Crumb oder Shelton fehlt: Es handelt sich um Alltagsbeobachtungen von Simone F. Baumann, die aber unversehens ins Surreale abkippen können. Die drei kurzen Geschichten in Nummer 39 heißen „Paranoia“, „Das Schlimmste“ und „Antidepressiva“ und sind jeweils kein Schlummerlied. Gefällig ist da nichts, aber alles sehr eindrucksvoll.

Zeigen kann ich leider nichts aus „2067“, denn Simone F. Baumann betreibt ihre Eigenproduktion ohne Homepage oder Vertrieb. Wer eines oder mehrere ihrer Hefte lesen will, der muss sie bei der Zeichnerin selbst bestellen (simonefloriane@gmx.ch), lieferbar sind noch alle Ausgaben, obwohl es jeweils zunächst nur fünfzig Exemplare gibt; einige Ausgaben sind aber bereits in zweiter Auflage erhältlich. Im schonungslosen Blick auf Zürich, der aus der Perspektive einer für Schweizer Verhältnisse unterprivilegierten jungen Frau geworfen wird, die erkennbar Probleme mit der Bewältigung des bürgerlichen Alltags rundum hat, entsteht ein bereits über Jahre laufendes und hoffentlich noch jahrelang weiterlaufendes Gesellschaftsporträt, das eindrucksvoll expressiv ausfällt. Der Stadt Zürich kann man nur dazu gratulieren, dass sie ein solches, für sie keinesfalls schmeichelhaftes, aber künstlerisch wichtiges Projekt fördert. Wenn nun noch ein Verlag davon Wind bekäme und das Vertrauen von Simone F. Baumann erwürbe, könnte etwas aus dieser Reihe entstehen, das im deutschen Sprachraum fehlt, seit Atak vor mehr als fünfzehn Jahren seine „Hunde von Berlin“ beendet hat: das aus Outsider-Sicht gezeichnete gegenwärtig Bild einer Großstadt, hier zudem durch die rasche Publikationsabfolge ebenjener Dringlichkeit gewachsen, die man den Geschichten anmerkt. 

Andreas Platthaus: Selbstbildnis auf zweierlei Art

Das schönste Geschenk von einem meiner Lieblingsautoren: Der französische Comiczeichner Baru hat einen „Catalogue déraisonnable“ seines Werks zusammengestellt. Und ich durfte sogar ein Wörtchen dabei mitreden, ohne dass ich gewusst hätte, was dabei herauskam.

Vor zweiundzwanzig Jahren schrieb ich meine erste Zeile über Baru: „Einer der innovativsten Zeichner der europäischen Szene ist in Deutschland so gut wie unbekannt.“ Daran hat sich nicht viel geändert, wenn auch seitdem einige wichtige Comics des 1947 in Lothringen geborenen Hervé Barulea hierzulande erschienen sind, darunter auch derjenige, dessen Fehlen ich 1998 am lautesten beklagt hatte: „L‘Autoroute de Soleil“, ein vielhundertseitiger Manga, tatsächlich für den japanischen Markt entstanden, aber in Frankreich angesiedelt und immer noch das schönste gezeichnete Road Movie überhaupt. Dank der Edition Moderne mittlerweile auch auf Deutsch zu lesen.

Danach machte sich vor allem die Wuppertaler Edition 52 um Barus Werk verdient, und das gab mir den Anlass, noch viel über ihn zu schreiben. Aber was nun erschienen ist, wird nie den Weg über die Grenzen zu uns finden. Trotzdem will es beschrieben sein. Dafür gibt es sogar private Gründe.

Zunächst jedoch die objektiven. Der Band hat 320 Seiten, und erschiene er in Japan, würde man ihn wohl Artbook nennen. In der französischen Kleinstadt Chaumont, wo der Verlag Le Pythagore Éditions seinen Sitz hat, hat man einen anderen Titel gewählt: „Catalogue déraisonnable pour une exposition fantasmée“ – ungefähr übersetzt: Werkverschreibung für eine erträumte Ausstellung. Wobei das Wortspiel mit dem französischen Begriff „Catalogue raisonné“ (für ein Werkverzeichnis) nicht wirklich zu retten ist.

Das ist der dicke Band auch nicht. Er ist eine Fundgrube, denn darin sind zahllose Illustrationen von Baru zu finden, die er für Plakate, Schallplattencover, Bücher oder Zeitschriften angefertigt hat, die man also nicht aus seinen Comics kennt. Dazu private Arbeiten und – besonders interessant – die kompletten Skizzen zum Band „Pauvre z’héros“ (auch auf Deutsch als „Elende Helden“ erschienen – so viel zur Übersetzbarkeit von Barus Titelwortspielen) und zu einer nie erschienenen Geschichte namens „Velléité – Arthur et Zoé“, die, 1991 konzipiert, ein Opfer der damals einsetzenden Herkulesarbeit an „L’Autoroute de Soleil“ wurde. In diesem Projekt steckt aber auch schon eine Vorarbeit – wenn man will eine „Anwandlung“, so die Übersetzung von „Velléité“ – zu dem Hauptwerk, und dass diese Geschichte nun in ihrem Frühstadium dokumentiert wird, macht den „Catalogue déraisonnable“ schon allein zum Muss für die Baru-Fans.

So wenige es davon in Deutschland gibt, so viele – nein, besser: so prominente – gibt es in Frankreich. Baru ist ein artist’s artist, ein Künstler, den anderen Künstler schätzen. In einem Foto, das ich kürzlich von André Juillard in dessen Atelier sah, hängen an den Wänden Originalseiten des Kollegen Baru, und das Vorwort zum „Catalogue déraisonnable“ stammt von Nicolas Mathieu, dem Schriftsteller, der 2018 den Prix Goncourt für seinen Roman „Les enfants aprés eux“ (auf deutsch „Wie später ihre Kinder“, bei Hanser Berlin) gewonnen hat. Mathieu gilt als die literarische Stimme des deindustrialisierten, verarmten Lothringens. Doch vor ihm war da schon Baru, in dessen Comics Mathieu alles das fand, worüber auch er erzählen wollte.

Der Prachtband bietet zwei große Interviews, ein älteres von 2011 und ein brandneues von 2019, in denen Baru auf sein Schaffen zurückblickt. Natürlich gibt es im Buch viele Ansichten von Hochöfen und wilde Rock ’n‘ Roll-Szenen, zwei graphische wie erzählerische Konstanten im Werk, und es gibt die markanten Gruppenporträts, die sich in Barus Comics finden: Fotos nachempfunden und doch durch den unverkennbaren Stil Kunstwerke, die sich hier zu einer großen Serie ergänzen. Nicht umsonst schmückt eine dieser Zeichnungen auch den Umschlag (und das ist leider auch das einzige, was der Verlag im Netz von dem Buch preisgibt). Ach ja, Selbstporträts gibt es auch etliche. Baru pflegt einen ironisch-pathetischen Umgang mit der eigenen Person. In diesem Buch steckt wirklich alles, was er liebt.

Und deshalb bin ich so stolz, dass der erste Satz, den ich über Baru geschrieben habe, sich auch darin findet. Zusammen mit dem ganzen Aufsatz, den er 1998 einleitete und der ein Kapitel aus „Im Comic vereint“ ist, meinem ersten Buch. Baru, den ich nie zuvor getroffen hatte, schrieb mir irgendwann, dass er zwar nicht gut Deutsch lesen könne, aber sprachkundige Freunde hätten ihm geholfen und ihm gefalle, was ich da verfasst hätte. Dann trafen wir uns einmal in Hamburg im Literaturhaus zu einem öffentlichen Gespräch, aber das ist auch schon wieder Jahre her, und schließlich erreichte mich letzten Sommer seine Anfrage, ob er meinen alten Text für das neue Buch ins Französische übersetzen lassen könne. Da wusste ich gar nicht, was für ein Werk dieser „Catalogue déraisonnable“ werden würde; ich glaubte angesichts des Titels an eine kleine Scherzpublikation. Jetzt ist „Chronique de la marge – Baru et les routes francaises“ Teil dieses großen Buchs, dort sogar farbig bebildert (mit denselben Bildern, die als Schwarzweißillustrationen der deutschen Ausgabe beigegeben waren, plus einem ganz neuen Selbstporträt, passend am Straßenrand). Und auch wenn ich es mir gar nicht mehr schöner vorstellen kann, wird es nicht mein letztes Wort über Baru gewesen sein.

Andreas Platthaus: Der letzte Schuss im alten Jahr ist ein Volltreffer

Vierzehn Jahre nach dem bislang letzten Band von Jean Girauds mythischem Westerncomic „Blueberry“ setzen jetzt zwei Stars des französischen Comics die Serie fort: Joann Sfar und Christophe Blain.

Man beschließt das alte Jahr nicht gerne mit einer offenen Frage. Auch nicht als Comicleser. Und trotzdem ist das letzte Buch, das 2019 an dieser Stelle vorgestellt werden soll, nur der Auftaktband zu einer größeren Geschichte. Aber was für ein Auftaktband!

Als Jean Giraud alias Moebius 2012 starb, schienen auch seine größte Serie mit ihm zu Grabe getragen zu werden: „Blueberry“. Mit diesem Western-Comic war der 1938 geborenen Franzose in den sechziger Jahren bekannt geworden; den Titelhelden hatte er nach dem damals im Kino unfassbar populären Jean-Paul Belmondo modelliert, und der Schauspieler hatte die Größe, sich nie darüber zu beklagen (was ihm, seit „Blueberry“ sich in den siebziger Jahren zur laufenden Legende entwickelte, leicht gefallen sein wird). Geschrieben hatte die Serie Jean-Michael Charlier, der neben René Goscinny höchstangesehene Szenarist des französischsprachigen Comics. Er starb schon 1989, aber das warf „Blueberry“ nicht einmal für zwei Jahre aus der Bahn, denn Giraud raffte sich auf, erst eine eher banale Fortsetzung, dann aber von 1995 an auch ein Meisterstück zu schaffen: einen fünfbändigen Alterszyklus in mehrerlei Hinsicht. Alt war Giraud selbst, als 2005 mit „Dust“ der letzte Band erschien, und alt war in diesem Buch-Quintett auch Mike Blueberry geworden, jener Titelheld der Serie, der 1965 als Leutnant in der US-Kavallerie begonnen und es nun bis in den Ruhestand geschafft hatte (der sich als alles andere als ruhig erweisen sollte). Es ist eines der größten Alterswerke des Comics überhaupt.

Seitdem gab es mit Ausnahme eines von Giraud eher aus altem Material zusammengebastelten Bandes, der die sichere Einnahmequelle „Blueberry“ noch einmal anzapfte, nichts Neues über den alten Marshall. Parallel war über Jahrzehnte schon eine von anderen Zeichnern erstellte Jugendserie erschienen, aber die muss man nicht ernst nehmen; sie lässt die erzählerischen Qualitäten des Hauptstrangs vermissen. Wer hätte den nun nach 2012 fortsetzen sollen? Giraud war als Autor seiner Erfolgsserie ja nicht in die Falle gegangen, in die der Kollege Albert Uderzo bei „Asterix“ getappt war: durch das Beharren auf die eigene Autorschaft den Nimbus des Werks zu beschädigen, so dass man die Ablösung durch Jüngere immer mehr herbeisehnte. Aber nach dem „Mister Blueberry“-Zyklus war wirklich ein Epos zu Ende erzählt. Als vor wenigen Wochen in Frankreich nun doch ein neuer „Blueberry“-Band angekündigt wurde, hatte ich Zweifel – um es gelinde zu sagen.

Allerdings waren da die beiden Autoren, die es wagten: Joann Sfar als Szenarist und Christophe Blain als Zeichner. Das ist, als wäre „Asterix“ von Zep und Riad Sattouf fortgesetzt worden – angesehener und erfolgreicher geht es kaum. Sfar hat mit „Die Katze des Rabbiners“ ebenso eine der einflussreichsten jüngeren französischen Comicserien publiziert wie Blain mit „Quay d’Orsay“, beides natürlich auch verfilmt, und zwar jeweils grandios (schweigen wir dagegen gnädig über die „Blueberry“-Verfilmung von 2004, die selbst Vincent Cassel als Hauptdarsteller nicht zu retten vermochte). Kurz: ein Traumpaar. Und mindestens miteinander so vertraut wie Giraud ehedem mit Charlier, als die beiden ein Jahrzehnt lang beim Comicmagazin „Pilote“ gearbeitet hatten. Sfar und Blain sind enge Freunde, seit sie in den neunziger Jahren als junge Zeichner im Pariser Atelier des Voges ihre Karrieren begannen. Bei der Serie „Donjon“ haben sie zudem bereits zusammengearbeitet, auch damals mit Sfar, dem schnellsten Zeichner Frankreichs, als Szenarist, und dem akribischen Blain am Zeichenbrett.

Und diese Vertrautheit merkt man dem neuen „Blueberry“-Abenteuer an (hier eine französische Leseprobe). Es heißt „Amertume Apache“, nach dem Namen eines Indianerkriegers, der sich nach der Ermordung von Frau und Tochter durch weiße Siedler auf einen Rachefeldzug begibt, der zuverlässig den Armeeangehörigen Blueberry als treuen Freund der Ureinwohner auf den Plan ruft. Wir sind auf dem Zeitstrahl wieder zurück: im Jahr 1867, also kurz nach dem Bürgerkrieg, in einer Zeit, in der auch die ersten Giraud/Charlier-Alben angesiedelt sind. Und doch ist die Erzählhaltung eine andere.

Das liegt vor allem an den Frauenfiguren. Nicht, dass „Blueberry“ bisher bekannt für schwache Frauen gewesen wäre, aber bis die großen femmes fatales bei Charlier auftauchten, dauerte es doch ein Jahrzehnt. Und keine glich der jungen Bimhal Dahlstrom, die in „Amertume Apache“ als kalte Killerin die unheilvolle Ereigniskette in Gang setzt, die dann im fürs kommende Jahr angekündigten Fortsetzungsband „Les Hommes de non-justice“ (Die Gesetzlosen) ihren Abschluss finden soll.

Bimhal ist ihren beiden Mitverbrechern Siméon (ihr Bruder) und Arad (ein ungestüm-unglücklich in sie Verliebter) an Brutalität und Geschick um Meilen voraus. Nur ihr Vater, ein Prediger, der auf seiner einsamen Farm eine Art Sekte um sich geschart und diese mit harter Hand regiert, kommt ihr an Bosheit gleich. Man darf Sfar und Blain zutrauen, dass sie mit dieser religiösen Konstellation auch einen Kommentar zur biographischen Verstrickung von Jean Giraud in die Ufo-Sekte des selbsternannten Propheten Rael aus den siebziger und achtziger Jahren unterbringen wollten. Andererseits sind beide grenzenlose Bewunderer des Zeichners Giraud/Moebius, wie man aus Sfars publizierten gezeichneten Tagebüchern weiß.

Wie aber verhält es sich mit Blains Bildern? Die Nachfolge des virtuosesten französischen Comiczeichners anzutreten, ist selbst für diesen Könner eine Herausforderung. Er besteht sie, indem er sich dem Stil von Girauds Westernszenerien anschließt, auch die Belmondo-Züge des Helden stark betont, also am Bewährten festhält und nur bisweilen die eigene Handschrift erkennen lässt, etwa in einer kurzen Trunkenheitssequenz im Fort Navajo. Wie anders ist da etwa Blutch kürzlich mit Wills Klassikerserie „Tif et Tondu“ („Harry und Platte“ auf deutsch) umgegangen, die er ganz in seine Ästhetik überführte. Oder Mathieu Bonhomme mit „Lucky Luke“, ja selbst der deutsche Zeichner Mawil ebenfalls mit „Lucky Luke“.

Blain betrachtet sich erkennbar als vom Geist des Meisters geführte Zeichenhand, und auch von Sfars normalerweise extravagant-ausschweifender Erzählweise ist hier nichts geblieben. Die Geschichte ist klar strukturiert und geradlinig erzählt – etwas, das Giraud selten schaffte, was ihm aber bei „Mister Blueberry“ geglückt war. So ist die Fortsetzung der Serie nach vierzehn Jahren ein Wiederanknüpfen an alte Stärken. Und ein echter Hoffnungsschimmer auch fürs neue Jahr, wenn dann „Les Hommes de non-justice“ zeigen wird, ob die schönen Blueberry-Blütenträume auch reifen. Ein gutes 2020 wünsche ich allen Lesern aber auch so!

Andreas Platthaus: Was Fotos nicht zeigen können

Paula Bullings und Anne Königs Buch „Bruchlinien“ bietet drei gezeichnete Episoden zu den Umständen der NSU-Mordserie und der fehlerhaften Ermittlungen. Und mehr als die Hälfte des Bands besteht aus Wortprotokollen von Gesprächen mit Kritikern der deutschen Justiz. Wie geht das zusammen?

Es wird nicht weihnachtlich in diesem Blog, es wird fürchterlich. Nicht des Comics wegen, um den es hier geht, sondern aufgrund seines Themas. „Bruchlinien“ erzählt – so der Untertitel – „drei Episoden zum NSU“. Die Zeiten, als man unter diesem Kürzel noch eine Automarke verstand, sind leider lange vorbei. Der „Nationalsozialistische Untergrund“ ermordete in den Jahren 2000 bis 2007 insgesamt zehn Menschen, und bei neun von ihnen nahmen die Ermittlungsbehörden an, dass sie zum Opfer von kriminellen Machenschaften im Migrantenmilieu geworden wären. Weshalb die Polizei den Ermordeten implizit (und bei den Zeugenvernehmungen bisweilen auch explizit) Verwicklungen in diese kriminellen Milieus unterstellte. Dabei wurden alle neun von deutschen Rassisten erschossen, die noch für Dutzende weiterer Mordversuche an in Deutschland lebenden Migranten verantwortlich waren. Wer weiß, ob diese Serie ihr Ende gefunden hätte, wenn das letzte Opfer nicht eine deutsche Polizistin gewesen wäre. Dadurch stieg der Fahndungsdruck, die Attentate hörten auf. Doch erst ein missglückter Banküberfall im November 2011 brachte die Ermittler auf die Spur eines Neonazi-Trios, von dem sich dann zwei Männer selbst umbrachten, während eine Frau festgenommen werden konnte. Die Namen tun hier nichts zur Sache; jeder kennt sie, und über die Täter ist mehr als genug gesprochen worden.

Für die Opfer und mehr noch deren Angehörige gilt das nicht. Das ist ein Ansatzpunkt von Paula Bullings und Anne Königs Comicband „Bruchlinien“. Erste Auszüge daraus waren im vergangenen Jahr in Leipzig beim Fotofestival f/stop gezeigt worden – um vorzuführen, was Fotos gerade nicht zeigen können. Die Zeichnerin Bulling und ihre Szenaristin König betrieben eine Rekonstruktion durch Imagination auf dichter Faktenbasis, und die Wirkung war im Kontext der dieses Projekt umgebenden Reportagefotografie verblüffend. Aber damals beim Festival konnte man die Opfersicht noch gar nicht würdigen, weil just die Episode „Dortmund“, die sich der Familie des im April 2006 ermordeten Kioskbesitzers Mehmet Kubasik widmet, nur durch ein einziges großes Bild vertreten war: Bullings Zeichnung der Demonstration (im Buch nun doppelseitig), die am 6. Mai in Kassel, dem Wohnort des vorletzten Mordopfers Halit Yozgat, stattfand. Yozgat war nur zwei Tage nach Kubasik in seinem Internetcafé erschossen worden, und den Angehörigen war die Ähnlichkeit zur Dortmunder Tat aufgefallen, weshalb sie die dortigen Hinterbliebenen kontaktierten. Fünf Jahre vor der zufälligen Enttarnung des NSU sahen also Opferfamilien schon Zusammenhänge, die die Behörden ignorierten.

Die Engstirnigkeit bei den Ermittlungen, die niemals in Richtung eines rechtsradikalen Hintergrunds betrieben wurden, ist das zweite Thema in der Episode „Dortmund“. Diese polizeiliche Borniertheit hat zur Verbitterung vieler Hinterbliebener beigetragen. Und der mit großem Aufwand betriebene Münchner Prozess gegen das überlebende Mitglied des Trios und vier als „Gehilfen“ angeklagte Unterstützer sorgte für die nächste Desillusionierung: Mit Ausnahme der Hauptangeklagten kamen die anderen vier glimpflich davon, teilweise wurden sie angesichts der auf ihre Haftstrafen anzurechnenden Untersuchungshaftdauern sofort nach den Schuldsprüchen freigelassen. Dass aus den Ermittlungen bekannt geworden war, dass man 129 mögliche Unterstützer identifiziert hatte, deren Namen aber nie bekanntgegeben wurden, ließ das Misstrauen gegenüber der Justiz noch einmal steigen. Und es war auch längst bekanntgeworden, dass im Bundesamt für Verfassungsschutz kurz nach Enttarnung des NSU-Trios mehrere Akten zu V-Leuten in der rechtsextremen Szene vernichtet worden waren. Diesem erstaunlichen Vorgang widmet sich die zweite Episode des Bandes, „Daun“, benannt nach der Dienststelle, wo die Akten geschreddert worden waren.

In dieser Episode setzt Paula Bulling ihren Figuren Masken auf (leider bietet der Verlag bis auf das Cover kein Bildbeispiel an) und auch die Namen sind geändert. Im Rahmen eines späteren Privatgesprächs einer an der Aktenvernichtung subaltern beteiligten Mitarbeiterin mit zwei Kollegen wird durch visualisierte Erinnerungen die Frage aufgeworfen, ob dadurch bewusst Spuren verwischt werden sollten, die das Versagen der Behörden aktenkundig gemacht hätten. Bullings realistischer Zeichenstil lässt das theatralisch-surrealistische Maskenspiel nie künstlich erschienen; es ist ein treffender Kommentar zur Undurchschaubarkeit der Affäre.

Die erstaunlichste Episode ist indes die kürzeste, „Zwickau“. Hier steht eine Frau aus dem unmittelbaren Umkreis des NSU-Trios im Mittelpunkt, die nie angeklagt wurde, obwohl sie mehrere Male dabei geholfen hatte, dass die drei untergetauchten Mörder ihr Inkognito hatten wahren können. Der Großteil dieser nur achtseitigen Episode ist in schwarzen Panels erzählt, die lediglich Sprechblasentexte und Geräusche bieten. Bebildert wird dadurch die Perspektive einer alten blinden Frau, die von der NSU-Helferin betreut wurde. Nur, wenn die Blinde nicht anwesend ist, lichtet sich das Dunkel, und man sieht die eigentliche Akteurin, zum Schluss auch im direkten Gespräch mit der weiblichen NSU-Täterin. Das Dunkel der Alltagswelt der Blinden kontrastiert mit der Helligkeit, in der in Zwickau, dem Ort des Verstecks des Trios, agiert wurde. Die Blindheit ist Metapher für die ganze Umwelt des NSU und seiner Unterstützer, die die Augen verschloss.

Exemplarisch interessant ist die Fokussierung aus Frauen in allen drei Episoden: die Unterstützerin, die Verfassungsschutzmitarbeiterin, die Tochter des Mordopfers. Dass die Polizistin Michèle Kiesewetter als letzte Ermordete nicht berücksichtigt wurde, erklärt sich wohl aus der dezidierten Sicht von König und Bulling auf die von ihnen konstatierte rassistische Komponente der gescheiterten Ermittlungen. Es ist trotzdem ein bezeichnender Verzicht: Politische Haltung triumphiert bei den beiden Autorinnen über die erzählerische.

Was nicht überraschen muss. Die Zeichnerin Paula Bulling wurde bekannt durch ihren 2012 erschienenen dokumentarischen Comic „Im Land der Frühaufsteher“ über Flüchtlingsunterkünfte in Sachsen-Anhalt. Danach folgte eine Recherche über muslimische Widerstandskämpfer im besetzten Frankreich des Zweiten Weltkriegs und ein persönliches Stadtporträt von Algier – alles jeweils bei unterschiedlichen Verlagen erschienen. Bulling sucht sich die jeweils passenden Foren, und dass „Bruchlinien“ nun bei einem weiteren Verlag, den vielfach ausgezeichneten Spector Books in Leipzig, herausgekommen ist, darf man einen Glücksfall nennen, weil wohl kein klassischer Comicverlag diesen Band so publiziert hätte: Mehr als die Hälfte seines fast hundertseitigen Umfangs besteht nämlich aus Gesprächen, die Bulling und König mit Kritikern der deutschen NSU-Aufbereitung geführt haben: Angehörigen, Juristen, Journalisten und der Ombudsfrau für die Opfer des NSU.

Spector Books hatten auch schon Konzept und Katalog für f/stop erstellt, und so ist die Zusammenarbeit der Verlagsgesellschafterin Anne König mit Paula Bulling zustande gekommen. Wobei sich der Gesprächsteil als der brisantere, zugleich aber auch als der fragwürdigere erweist. Die Anschaulichkeit der drei Comic-Episoden lässt dem Betrachter Freiheit bei der Interpretation, während das transkribierte Wort keine Spielräume gestattet; es wird Klarheit suggeriert, die es in der Sache gar nicht gibt, nur im politischen Standpunkt. Denn König und Bulling schlagen sich eindeutig auf die Seite der Justizkritik – nur zu verständlich, aber in einer journalistischen Interviewsituation eine gewöhnungsbedürftige Konstellation. Kritische Fragen an die Kritiker sind dabei jedenfalls nicht zu erwarten, obwohl manche Verallgemeinerung und manche Schlussfolgerung wenig plausibel erscheinen. Und bisweilen konterkariert ein Gesprächsinhalt den vorangestellten Comic, etwa bei der Bemerkung, bei der Kasseler Demonstration vom Mai 2006 habe es mit einer Ausnahme nur deutsche Transparentaufschriften gegeben, um eine möglichst breite Öffentlichkeit zu erreichen. Auf der erwähnten Doppelseite jedoch zeichnet Bulling mehrere türkische Transparentaufschriften. Man hätte gerne gewusst, was denn nun zutrifft. Hier versagte das ansonsten hervorragende Lektorat des Bandes.

Dessen ungeachtet ist „Bruchlinien“ ein Meilenstein für den deutschen Comic: methodisch, ästhetisch, vor allem aber politisch. Die Lektüre ist schmerzhaft, aber das muss sie sein, wenn überhaupt so etwas wie ein Umdenken in den Dienststellen, die bei der Aufklärung der NSU-Morde versagt haben, erfolgen soll. Und auch bei den Medien, die sich naiv zum Sprachrohr der polizeilichen Fehlschlüsse gemacht haben. Dass nun in „Bruchlinien“ mit journalistisch-erzählerischen Mitteln so etwas wie Korrektur geleistet wird, war überfällig. Am Ende des Bandes sind zwar mehr Fragen offen als am Anfang. Aber man bekam auch durch die beiden Autorinnen eine Beharrlichkeit vorgeführt, die womöglich doch noch klären wird, was in diesem Land vor kurzer Zeit geschehen ist und durch – wenn man es einmal zurückhaltend formulieren soll – Voreingenommenheit begünstigt wurde.

Andreas Platthaus: Mangameisterschaft

Endlich kommt der japanische Comicrevolutionär Yoshiharo Tsuge zu seinem deutschen Debüt: In „Rote Blüten“ sind die zwanzig Kurzgeschichten versammelt, die ihn vor fünfzig Jahren berühmt gemacht haben.

Wer wissen will, was Manga wirklich leisten kann, der hat lange warten müssen. Gut, am Beginn des westlichen Mangabooms vor zwanzig Jahren standen nicht nur „Sailor Moon“ und „Dragonball“, sondern auch schon einige Serien des Übervaters des japanischen Comics, Osamu Tezuka, der die Ästhetik der Erzählform in der Nachkriegszeit quasi im Alleingang entwickelt hat und noch immer zu den lesenswertesten Mangaka gehört – allerdings eher mit seinem Spätwerk als mit dem auf Deutsch zunächst bevorzugt verlegten Frühwerk à la „Simba, der weiße Löwe“. Und lange, bevor Manga vor aller Augen und in alle Munde kamen, war schon 1982  „Barfuß durch Hiroshima“ von Keiji Nakazawa bei Rowohlt erschienen, aber mangels Interesse nach nur einem Band wieder eingestellt worden. Man war in Deutschland nicht bereit für anspruchsvolle japanische Comics.

Das änderte sich, als der Markt für Manga im jungen Jahrtausend schier unersättlich schien und somit auch ein in Japan zwar bekannter, aber keineswegs exzeptionell erfolgreicher Zeichner wie Jiro Taniguchi übersetzt wurde und sich mit seiner stark europäisch geprägten Bildersprache zum Liebling eines westlichen Comicpublikums wurde, das zuvor ratlos vor der Manga-Begeisterung ihrer Kinder gestanden hatte. Die älteren Leser spürten nur zu deutlich, dass sich da ein Schema wiederholte, dass sie selbst im Umgang mit ihren Eltern erlebt hatten – völliges Unverständnis für die neue Form –, und es war den ach so liberalen Comiclesern peinlich, aber sie konnten nicht aus ihrer Haut. Sonst wären Manga auch gar nicht so erfolgreich im Westen geworden, denn die jugendlichen Käufer liebten nicht zuletzt auch die Abwehrhaltung der älteren Generationen: Verachtetes liest man als Revolutionär doppelt so gern. Taniguchi hat daran gar nichts geändert, denn kein einigermaßen junger Manga-Fan wird sich für dessen sehr erwachsene und entsprechend behäbige Geschichten begeistern. Nur die bisherigen Verächter konnten sich sofort auf diese Ästhetik einigen.

Dass es aber bis jetzt brauchte, um Manga von zwei der wichtigsten und auch in Japan allgemein vergötterten Autoren hierzulande lesen zu können, nämlich von Shigeru Mizuki und Yoshiharu Tsuge, zeigt, wie ängstlich man bei den Verlagen die Kundschaft immer noch in Jung und Alt trennt. Bei Tezuka, dessen Geschichten bei Carlsen, dem erfolgreichsten deutschen Verlag für Manga, erschienen, glaubte man noch, beide Gruppen als Leser erreichen zu können, was sich aber nicht bestätigte. Die Publikationsdichte ist dementsprechend dünner geworden, aber da es sich bei Tezuka um den mutmaßlich produktivsten Comiczeichner aller Zeiten gehandelt hat, kann man noch oft Experimente betreffs der Akzeptanz machen. Bei Mizuki und Tsuge aber muss es gleich klappen, beide haben keinen Weltruhm; sie sind als Erzähler „nur“ Weltklasse.

Natürlich war Frankreich bei beiden viel schneller, aber der Berliner Reprodukt Verlag, der jahrelang Mizuki-Übersetzungen angekündigt hatte, so lange, dass der greise Zeichner darüber 2015 starb,  hat nun tatsächlich Fahrt bei der Publikation seines Werks aufgenommen: Mittlerweile sind vier seiner grandiosen Bände erschienen: die gefeierte „Tanta NonNon“ und die erstaunliche gezeichnete Hitler-Biographie, sowie zwei autobiographische Manga über den Zweiten Weltkrieg, indem Mizuki als Soldat einen Arm eingebüßt hatte. Über ihn ist viel gesagt worden, auch von mir, nun möge man ihn einfach lesen.

Bei Yoshiharu Tsuge, einem ehemaligen Assistenten von Mizuki, dürfte die Hemmschwelle dazu ungleich größer sein, obwohl er in Japan selbst bekannter ist als sein früherer Lehrmeister. Das liegt auch daran, dass er wie kein anderer das autobiographische Comiczeichnen in Japan veränderte: hin zu einer literarisierten Form von Ich-Erzählung, die im eigenen Erleben nur noch das Grundmaterial für Geschichten sucht, die dann fiktional ausgebaut werden. Oder sagen wir besser: phantasievoll. Denn die Anbindung an die eigene Weltsicht bleibt stets erhalten, nur ist es Traum- oder Wahnmaterial, das den Lauf der bei Tsuge erzählten Dinge bestimmt, exemplarisch vorgeführt in seiner 1968 publizierten Kurzgeschichte „Verschraubt“, die in Japan etwa denselben Rang genießt wie in Europa „La Déviation“ von Moebius, die aber erst fünf Jahre später erschien.

„Verschraubt“ ist nun auch in dem Sammelband „Rote Blüten“ enthalten, mit dem abermals Reprodukt die Aufnahmebereitschaft des deutschen Publikums für Tsuge testet. In ihm sind auf vierhundert Seiten insgesamt zwanzig Geschichten enthalten, darunter die berühmten vierzehn aus den Jahren 1967/68, die Tsuge für das Mangamagazin „Garo“ zeichnete. Man hat also ein Buch in der Hand, das eine Revolution darstellt, und wer überhaupt literarisches Gespür besitzt, merkt das auch sofort. Dass der Verlag für seine Online-Leseprobe die Titelgeschichte ausgewählt hat, ist besonders erfreulich, denn da kommen alle Stärken dieses Erzählens zusammen.

Dabei steht nichts Spektakuläres im Mittelpunkt, sondern es geht dem Autor um Personenkonstellationen und Stimmungsbilder aus einem anderen als dem großstädtischen Japan. Wenn es nicht so banal wäre, könnte man darauf hinweisen, wie hier der Blick der Ukiyo-e-Künstler des neunzehnten Jahrhunderts, von Hokusai, Hiroshige, Yoshitoshi, aufgenommen wird, allerdings nur im Hinblick auf deren Faszination für das Unheimliche in der eigenen Heimat. Tsuge entwickelt seinen spezifisch japanischen Psychologismus parallel zum Aufkommen des amerikanischen Underground-Comics, nur dass er sich bewusst in uralte graphische Traditionslinien, während die westliche Gegenkultur mit allem zu brechen versuchte, was es vor ihr gab – eine Ausnahme wie Robert Crumb mit seiner Liebe zu Disney und flämischen Zeichnern der Frühen Neuzeit bestätigt die Regel und ist zugleich die Ursache für seinen heutigen ästhetischen Rang. Das Gros des Underground wirkt heute furchtbar überholt, während Crumb und auch Tsuge zeitlos sind in ihrer Qualität.

Man sehe sich die Hintergründe in „Rote Blüten“ an, die von 1967 an so akribisch realistisch angelegt sind, dass selbst Mizuki gestaunt haben dürfte und jeder Vergleich mit altmeisterlichen Tuschezeichnungen gerechtfertigt ist. Davor agieren Mangafiguren wie aus dem Lehrbuch (und das heißt: wie Hokusai sie in seinen Notizbüchern, den fürs ganze Genre titelgebenden „Manga“, katalogisierte): Da sind Karikaturen und Typen, realistisch gezeichnete Menschen und surrealistisch gezeichnete. Es gibt keine Einheit von Dekor und Aktion, und gerade das macht Tsuge so besonders.

Sein Werk verstört, und es kann nicht schaden, ein wenig Japankenntnisse zu besitzen, um die Handlungsweisen seiner Figuren besser einschätzen zu können und sie nicht als ganz rätselhaft zu empfinden. Jede dieser Geschichten war auch therapeutische Übung ihres Zeichners, wie im Nachwort von Askawa MItsuhiro ausgeführt wird – das man allerdings sorgfältiger hätte übersetzen sollen; wenn gleich zu Beginn davon die Rede ist, dass Tsuge seit zwanzig Jahren nichts mehr veröffentlicht hat, und später dann das Jahr seines Abschieds vom Zeichenbrett mit 1987 angegeben wird, merkt man, dass hier ein alter Text neu, aber eben gedankenlos übersetzt wurde. Wie überhaupt redaktionell einiges im Argen liegt. Warum etwa sind ausgerechnet die beiden ersten Geschichten im ansonsten streng chronologisch sortierten Band vertauscht? Zumal die zweite, „Der Sumpf“, auch noch viel besser ist.

Aber mit diesem Manga wird ein Meisterwerk zugänglich gemacht, das in Japan selbst immens einflussreich war und das Zeug dazu hat, auch heute noch neue Wirkung zu zeitigen. So gesehen darf man auf alle Generationen als Leser hoffen. Dass es dann doch wieder nur die Happy Few sein werden, sollte Reprodukt nicht schrecken, aus dem reichen Material vor dem Verstummen Tsuges noch das eine oder andere Buch ins Deutsche übersetzen zu lassen. Die zweite Tsuge-Übersetzung, „Der nutzlose Mann“ aus dem Jahr 1986, ist für den Juli 2020 schon angekündigt. Das war übrigens der Band, nach dem Tsuge das Zeichnen einstellte. Wir hätten dann also schon einmal Alpha und Omega seines Schaffens.

Andreas Platthaus: Es geschehen noch Zeichen und Wunder

Der Zufall fördert manchmal die schönsten Begebenheiten zutage: Wie mir der Comic „Rauschgift“ von Eric Wunder ins Haus gekommen ist und was ihn so eindrucksvoll macht

Namenswitze sind ein journalistisches Tabu, aber hier handelt es sich um ein Namenslob: Eric Wunder ist fürwahr ein Wunder. Und wer glaubt, dass das egal welchem Comic- oder auch sonstigen -künstler gegenüber zu hochgegriffen wäre, dem sei erläutert, dass meine Bewunderung nicht zuletzt daher rührt, dass es Eric Wunder gelungen ist, seine Bildergeschichten bislang konsequent im Verborgenen zu produzieren.

Daher weiß ich auch gar nicht, wann sein selbstverlegter autobiographischer Band „Rauschgift“ erschienen ist; eine Jahreszahl enthält das knapp 120 Seiten starke Heft nicht. Dafür aber eine starke Geschichte. Um Missverständnisse und Fehlerwartungen zu vermeiden, noch dies vorab: Ja, Eric Wunder erzählt darin sein eigenes Leben, aber er ist es nicht, der das titelgebende Rauschgift nimmt, es ist seine Mutter, und als sie es tut, ist Wunder noch ein Schulkind, und seine beiden Geschwister sind noch jünger. Wie man schon der Wortwahl „Rauschgift“ anmerkt, spielt das Ganze überwiegend in den siebziger Jahren; heute hat sich längst die Rede von „Drogen“ durchgesetzt.

Man kann sich angesichts dieser familiären Konstellation vorstellen, dass Wunder in sozial prekären Verhältnissen aufgewachsen ist, zumal sein Vater auch noch kriminell war. Die süchtige Mutter war nicht in der Lage, sich um die Kinder zu kümmern, und so oblag das vor allem den Großeltern mütterlicherseits, und mit diesen sieben Personen – Mutter, drei Kinder, Vater, Großelternpaar – hat man auch schon das wesentliche Figurenensemble von „Rauschgift“ zusammen. Wobei es noch einen achten sehr wichtigen Akteur gibt: die Stadt Darmstadt, in der sich das alles abspielt. Es gibt aber keine markanten Sehenswürdigkeiten, die Wunder ins Bild rückte, vergessen Sie also die Mathildenhöhe oder ähnliches, sondern Darmstadt zeigt sich als gesichtslos-graue Stadt, was dem Inhalt der Geschichte natürlich entgegenkommt.

Der Form aber auch. Die erkennbarsten Vorbilder für Wunders Graphik sind Frans Masereel, wenn es um die Stimmung, und der Amerikaner Mark Beyer, wenn es um den Strich geht. Letzterer hatte auf Vermittlung des unvergessenen Armin Abmeier 1993 im deutsche Maro-Verlag den Comic-Strip „Amy“ publiziert, und auch wenn „Rauschgift“ nicht so ornamental gearbeitet ist wie dieses querformatige Buch, hat Wunders Werk doch große strukturelle Ähnlichkeit damit. Nicht zuletzt, weil es pro Seite nur zwei gleichgroße nebeneinanderstehende Panels gibt, also das Hochformat des Bandes „Rauschgift“ eigentlich auch einen querformatigen Comicstrip enthält. Die dicke Rahmenlinie um die Panels, die holzschnittartigen Binnenkonturen, die expressionistischen Gesichter von Wunders Figuren – dieser Comic ist wie aus der Zeit gefallen, und das ist gerade in der Flut der derzeitigen autobiographischen Mode auffällig.

Wo aber bekommt man diese Comics her? Ich hatte das Glück, in Berlin auf Nadine Fecht zu treffen, die bekannte Künstlerin, die kürzlich eine Einzelausstellung namens „Amok“ in der Mannheimer Kunsthalle hatte, und wie es der Zufall wollte, ist sie mit Eric Wunder befreundet, erzählte mir von diesem deutschen Zeichner, dessen Name ich noch nie gehört hatte, und schickte mir „Rauschgift“ zu. Nach der Lektüre wollte ich mehr über Wunder wissen, vor allem, auch, wo die auf der letzten Seite angekündigte Fortsetzung „Schwedische Gardinen“ erscheint, wurde aber nirgendwo fündig. Von Nadine Fecht erfuhr ich dann, dass es bald bei der Edition Error, die auch „Rauschgift“ vertreibt, noch weitere Bücher von Eric Wunder geben wird. Auf deren Website ist ein Trailer zu „Rauschgift“ abrufbar, in man einen Eindruck von der Wunderschen Bildsprache bekommen kann. „Film ohne Musik“ nennt der Zeichner seine Geschichte da einmal. Das ist gar keine schlechte Beschreibung für ein – sorry, muss noch einmal sein – wunderbares Buch.

Andreas Platthaus: Der neue deutsche Maulwurf

In Leipzig erscheint in Kleinstauflage und mit vollem Familieneinsatz die kopierte Heftserie „Maulwurf Montag“. Dahinter steckt ein Neunjähriger. Und es steckt viel drin in seiner Serie.

Ein Besuch im Leipziger Lieblingsbuchladen, auf dem Tisch gleich hinter der Eingangstür liegt ein Comic. Nein, nicht einer, es sind gleich vier Hefte einer mir unbekannten Serie: „Maulwurf Montag“. Wie kommen die dünnen Hefte (jeweils zwölf Seiten) auf diesen prominenten Platz, wo derzeit normalerweise sonst im Buchhandel der neue „Asterix“-Band präsentiert wird? Genaue Augenscheinnahme klärt die Frage: Bei „Maulwurf Montag“ handelt es sich um die Arbeit des neunjährigen Sohns des Buchhändlers.

Die ganze Familie ist an der Herstellung beteiligt: Mutter und Vater fertigen die Farbkopien für die in winzigen Auflagen erstellten Hefte an und besorgen auch die klassische Fadenbindung der drei Papierlagen. Und Julius Otto Hinke – so der Name des Schöpfers von „Maulwurf Montag“ – zeichnet und zeichnet und zeichnet. Alle zwei bis drei Wochen kommt eine neue Geschichte heraus, aber der begeisterte Künstler ist schon weiter im Vorlauf, die elterliche Produktionsgenossenschaft kommt kaum mehr hinterher. Schon ist nach der dritten regulären eine Sonderausgabe eingeschoben worden (bereichert auch um einen zweiten Verfasser, einen Schulfreund), um das Publikum nicht zu überfordern. Vier Hefte sind somit seit dem 21. Oktober 2019 als Erstverkaufstag der Debüt-Nummer bereits herausgekommen. Ich weiß gar nicht, ob es außer dem „Micky Maus Magazin“ überhaupt noch eine zweiwöchentlich erscheinende deutsche Comicpublikation gibt. Für eine Homepage hat es – wohl altersbedingt – noch nicht gereicht. Also bekommt man die Hefte nur bei der Leipziger Buchhandlung „Wörtersee“, vielleicht auch noch bei der zugehörigen Connewitzer Verlagsbuchhandlung in der Innenstadt.

Bei „Maulwurf Montag“ ist der Name Programm: Das Heft erscheint immer montags, und es geht um Maulwürfe. Das hat es seit „Pauli“ aus „Fix und Foxi“ nicht mehr gegeben, aber den kann eine heute Neunjähriger nicht mehr kennen, und seien wir ehrlich: Die Figuren aus „Maulwurf Montag“ sehen viel besser aus als die Kauka-Schöpfung von ehedem. Drei Brüder sind es bei Julius Otto Hinke, Happy, Limo und Willi. Zu unterscheiden sind sie an ihren Mützen: Limo hat eine gelbe auf, Willi eine grüne, Happy trägt gar keine. Er ist zugleich auch der Haupterzähler. Was erzählt wird? Vom Alltag dieser drei Maulwürfe, der sich so darstellt, wie man das als Kind erträumt: am Meer, auf Schatzsuche, allerdings durchaus auch arbeitsam beim Gängeausheben (was praktischerweise sowohl bei der Schatzsuche als auch am Sandstrand zu erwarten ist).

Das Trio ist so ersichtlich gutgelaunt, dass die positive Lebenseinstellung sich sofort auf die Leser überträgt, und die farbigen Bleistiftzeichnungen haben einen kindlichen Charme, der bisweilen vergessen lässt, wie ausgefuchst da schon erzählt wird. Man denke nur daran, dass alle Geschehnisse in den Rahmen einer Fernsehserie gesetzt sind: mit wiederkehrender Eingangssequenz (die schon einmal zwei der zwölf Seiten benötigt), aber auch mit hinreißender Montagetechnik der Einzelbilder, gerade weil aus kindlicher Konsequenz keine Rücksicht auf normale Seitenarchitektur genommen wird. Bisheriger graphischer Höhepunkt ist die Rückseite von Heft 1, von der uns Happy in extremer Nahsicht zugrinst. Solche irren Close-ups wagen nur die ganz großen Comicmeister.

Und dann gibt es zu jedem Heft auch noch einen farbig handmodellierten und gebrannten Knetmasse-Maulwurf, wobei man gespannt sein darf, wie es im regulären Heft 4, das für nächste Woche zu erwarten sein dürfte, zugehen wird, da doch das Protagonisten-Trio mittlerweile vollständig vorliegt. Aber da es in jedem Heft auch ein gezeichnetes Brettspiel gibt, bei dem durchaus mehr als drei Spieler mitmachen können, können weitere Figuren nicht schaden, und individuelle gestaltete sind sie ja produktionsbedingt. Dieses Gimmick ist auch eine Rechtfertigung für den doch recht stolzen Preis von 4,99 Euro pro Heft. Andererseits ist die ersichtliche Liebe bei der Arbeit unbezahlbar. Den Weg von Julius Otto Hinke werde ich gerne noch weiter begleiten.

Andreas Platthaus: Rembrandt lacht als Comic-Held nicht

Drei Jahre lang hat der niederländische Zeichner Typex an seiner großartigen fiktionalisierten Biographie „Rembrandt“ gearbeitet. Jetzt erzählte er im Kölner Wallraf-Richartz-Museum eine Stunde lang davon. Und einen Kindercomic über Rembrandt gibt es dort auch.

Rembrandt war kein Comiczeichner, denn mit Bildsequenzen hatte er nichts am Hut. Die Zeit der mehrteiligen Altartafeln war in den calvinistischen Niederlanden seiner Zeit vorbei, mit Anfertigung der großen öffentlichen Bildprogramme beauftragten die politischen Stellen mehrere Künstler (aus Proporz und/oder Unentschiedenheit), und zu Graphikzyklen hatte Rembrandt keine Lust (oder keine Geduld), wenn man auch seine biblischen Themen oder gar die zahllosen Selbstporträts leicht zu veritablen Bildergeschichten arrangieren könnte – aber eben ohne jede Autorintention.

Deshalb darf man es überraschend nennen, dass das Kölner Wallraf-Richartz-Museum, in dem gerade die Ausstellung „Inside Rembrandt“ läuft, fürs Rahmenprogramm dazu einen Abend mit Typex angeboten hat, einem Landsmann von Rembrandt, der, geboren 1962, heute zu den bekanntesten Comiczeichnern der Niederlande gehört. Und damit nicht genug: Das Museum hat für Kinder sogar einen eigenen Comic zeichnen lassen, nicht von Typex leider, sondern von Sebastian Remmert, der nach einem Szenario von Diane Ciesielski die dreißigseitige Geschichte „Rembrandt und der Frosch“ gestaltet hat, die für den Spottpreis von fünf Euro an der Museumskasse zu kaufen ist. Während der zugegebenermaßen vielfach umfangreichere Comic „Rembrandt“ von Typex im Buchhandel fast fünfzig Euro kostet. Er war aber natürlich der Grund , warum es den Gesprächsabend im Wallraf-Richartz überhaupt gab, bei dem ich moderieren durfte.

Typex heißt mit bürgerlichem Namen Raymond Koot, arbeitet aber seit mehr als zwanzig Jahren nur noch unter seinem Pseudonym. Bekannt wurde er hierzulande erst im vergangenen Jahr, als beim Carlsen Verlag seine halbtausend Seiten starke Warhol-Biographie „Andy“ erschien, die nicht nur eine zeichnerische Tour de force ist (jedes Kapitel in einem anderen Stil!), sondern auch erzählerisch ein Meisterwerk. Der ebenfalls lebensgeschichtliche  Comic „Rembrandt“ kam dann auf Deutsch zum 350. Todestag des Malers in diesem Jahr heraus (wieder bei Carlsen), sechs Jahre nach der niederländischen Originalausgabe, die seinerzeit vom Rijksmuseum, dem größten Rembrandt-Schatzhaus der Welt, als Geschenk an sich selbst zur Neueröffnung nach Generalrenovierung  in Auftrag gegeben worden war. Und auch schon mit dieser früheren Arbeit erweist sich Typex als versierter Arrangeur der Fakten einer Künstlerbiographie. Sein „Rembrandt“ liest sich phantastisch, auch wenn man nicht behaupten kann, dass der Meister einem darin sympathisch würde. Ein komischer Typ war dieser Comic-Held, keinesfalls aber lustig.

Drei Jahre währte die Arbeit am Comic „Rembrandt“, und über die Beschäftigung mit Leben und Werk des Malers ist Typex zu einem exzellenten Kenner geworden, der zudem wunderbar zu erzählen versteht – nicht nur im Buch, auch auf der Bühne. Auch wenn dafür nur eine halbe Stunde Zeit zwischen zwei schönen Vorlesepassagen aus dem Comic verfügbar war. In so kurzer Zeit konnten wir kaum über Details reden, wie etwa die wunderbare Buchgestaltung (von der man in der Leseprobe – aufs Titelbild klicken! – mehr Eindruck bekommt als vom Inhalt) oder die kleinen Insider-Scherze, die sich Typex bei seiner Darstellung des siebzehnten Jahrhunderts erlaubt hat. Aber die Sorgfalt bei der Auswahl einiger Rembrandt-Werke, die in die Geschichte integriert wurden – besonders etwas gerne weniger bekannte –, und die Farm- und Formgebung im Geiste des Künstlers machte Typex deutlich, und sein Herz gehörte dann doch dem als so egozentrisch dargestellten Künstler, den er deshalb kontrafaktisch ganz am Lebensende noch an seinem Selbstporträt als Lachender Zeuxis malen lässt – kontrafaktisch, weil das Bild ein paar Jahre vorher angefertigt wurde, und auch, weil der Rembrandt von Typex ja sonst niemals lacht.

Das Gespräch war auch deshalb viel zu früh vorbei, weil danach noch ein Ausstellungsrundgang des Publikums mit der Kuratorin Anja Kerstin Sevcik und Typex durch „Inside Rembrandt“ anstand. Und da stieß man auf manches Bild, das im Comic eine wichtige Rolle spielt; allen voran auf ebenjenen Lachenden Zeuxis aus dem eigenen Kölner Museumsbestand, das von Typex geradezu zur Summa von Rembrandts Lebensbilanz erhoben wird: wegen des unerwarteten Lachens, aber auch als Symbol des Scheiterns am eigenen künstlerischen Hochmut (Zeuxis hat sich angeblich totgelacht über eines seiner Modelle). Aber in der Ausstellung waren sind auch Radierungen und Zeichnungen vertreten, die den Comic inspiriert haben, vor allem der „Rattenfallenverkäufer“. Dann sind da die Bilder der früh gestorbenen Gattin Saskia, wenn auch das gemeinsame Porträt von Herrn und Frau van Rijn als Akteure auf dem Gemälde „Der verlorene Sohn im Gasthaus“ aus Dresden ebenso wenig nach Köln reisen durfte wie der erhaltene Ausschnitt aus dem ehemaligen Monumentalgemälde „Die Verschwörung des Claudius Civilis“ (nicht „Civilus“, wie es im Comic heißt) aus Stockholm. Und auch die „Nachtwache“ blieb selbstverständlich in Amsterdam im Rijksmuseum. Sie hat den allergrößten Auftritt im Comic, und das darf man sowohl inhaltlich wie flächenmäßig verstehen. Trotzdem gelingt Typex das Kunststück, diese Monumentalszene zum beiläufigen Ereignis in der Handlung zu machen.

Im Rahmenprogramm zu „Inside Rembrandt“ stehen noch zwei weitere Comic-Termine an, beide gedacht für Kinder und deshalb über Mittag an den kommendenAdventssonntagen, einmal am 30. November und dann am 7. Dezember. Da werden die Schöpfer des museumseigenen Comics „Rembrandt und der Frosch“ den Nachwuchs in die Kunst des Zeichnens einweihen, und dafür eignet sich das doch recht schlichte Niveau ausgezeichnet (hier kann man die beiden Titelhelden sehen). Um Missverständnissen vorzubeugen: Nicht etwa, weil Kinder kein Qualitätsbewusstsein hätten; sie haben ein extrem ausgeprägte. Aber „Rembrandt und der Frosch“ ist anschlussfähig für alle, weil er bewusst schlicht gehalten ist, um zum Selberzeichnen anzuregen. Dazu die wirklich lustige Figur des Froschs, entnommen aus einem winzigen Detail des vom Fürstenhaus Salm-Salm aufbewahrten Mythengemälde „Diana und Aktäon“ (einem Unikum in Rembrandts Schaffen) – das ist hochamüsant, und über manche Albernheit wird doch einiges zu Rembrandts Zeit und Malerei an sich vermittelt. Wer den winzigen Frosch dann auf dem auch in Köln zu sehenden Gemälde sucht, ihn gar entdeckt, der dürfte den ersten Schritt zur Bildanalyse getan haben. Was wünscht man sich denn mehr? Ach doch, da wäre noch etwas zu wünschen: mehr Comics vom Niveau der „Rembrandt“-Biographie von Typex.

Andreas Platthaus: Das bunte Quadrat

Klingt die Überschrift wie ein Bauhaus-Manifest? Dann stimmt alles. Denn der Sammelband „Bauhaus Graphic Stories“ will zum Jubiläum der Institution neben anekdotischen Episoden auch die vor hundert Jahren in Weimar begründete Formensprache vorstellen.

Nach einem ganzen Jahr permanenter Bauhaus-Feierei zum hundertsten Jubiläum auf allen Medienkanälen und in allen medialen Formen nun auch noch ein Comic zum Thema? Oh ja, denn was die in Weimar beheimatete Literarische Gesellschaft Thüringen da unter dem Titel „Bauhaus Graphic Shorts“ herausgebracht ist, verdient Beachtung. Weil es nicht einfach Comics sind, die sich darin finden, sondern in der Tat wörtlich übersetzt fünf graphische Erzählungen in jeweils ganz unterschiedlicher Gestaltung, aus deren Gesamtheit ein Blick aufs Bauhaus in den Weimarer Anfangsjahren entsteht, der andere Perspektiven bietet als die üblichen Erinnerungs(p)artikel. Und das will in diesem Jahr des Überflusses an Bauhaus-Auseinandersetzung und auch des daraus resultierenden Überdrusses wirklich etwas heißen.

Es beginnt beim Format: Der Band ist quadratisch. Und jeder der fünf Geschichten ist eine einzelne Farbe zugeordnet. Wie das aussieht, lässt sich am besten durch die Aufnahmen des fertigen Buchs auf der eigens eingerichteten Homepage erfassen. Quadratisch ist das Buch, weil das Quadrat eine der drei Grundformen ist, um die sich in den sogenannten Vorkursen für die Studienanfänger alles drehte – die anderen beiden waren natürlich Kreis und Dreieck, aber beides sind keine guten Formate für Bücher. Genauso wichtig in den Vorkursen war die Farbenlehre, und deshalb ist es nur konsequent, dass hier Gelb, Violett, Orange, Türkis und Grün starke Einzelrollen spielen – wenn auch eine so unmittelbare Zuordnung zur Stimmungslage, wie sie etwa Wassili Kandinsky als Bauhaus-Meister behauptet hat, im Comicband nicht feststellbar ist. Tatsächlich wirkt die Zuordnung bisweilen gar willkürlich, etwa in der ersten Geschichte, „Nicht hier, nicht dort“, die vom Illustrator Carsten Weitzmann bewusst in Schwarzweiß angelegt wurde, aber dann um drei gelbe Einsprengsel in Textkästen ergänzt wurde, die eher ein Farbfeigenblatt sind als ein Farbenspiel. Da ging das Konzept des Bandes wohl der konkreten Gestaltung der Geschichten voran. Schade.

Aber die Erzählungen selbst sind gut, alle fünf. Sie wurden jeweils von einem Autorengespann umgesetzt: Text und Bild lagen in verschiedenen Händen. Weitzmann etwa arbeitete nach einem Szenario von Daniela Danz, der Direktorin des Schillerhauses in Rudolstadt, die auf den nach Russland emigrierten Bauhäusler Erich Borchert gestoßen war, einen Architekten, der dort im Dienste der Sowjetunion Entwürfe für neue Siedlungen im Osten des Riesenreichs lieferte – um schließlich im Zweiten Weltkrieg als angeblicher Staatsfeind selbst in einem kasachischen Lager zu enden und dort gerade einmal siebenunddreißigjährig zu sterben. Für dieses erschütternde Schicksal ist das historisch anmutende Schwarzweiß die richtige Form und die gelben Textblöcke stechen völlig unmotiviert heraus. Das ist ein Verrat an der Bauhaus-Idee, in der die Form auch eine Funktion erfüllen sollte.

Man musste es noch einmal sagen, weil es ein so einmaliger Ausrutscher in diesem ansonsten hocherfreulichen Band ist. Und der Einwand ist auch rasch vergessen, wenn man die weiteren Geschichten liest und dann immer aufs Neue über den Einfallsreichtum der Formen staunt. Mehr Comic als in der Anfangsepisode gibt es übrigens gar nicht, danach illustriert Alexander von Knorre unter dem Titel „Barometer“ ein Szenario von Peter Neumann, und beide stellen dem stockkonservativen Geist von Weimar das munter-libertäre Treiben der Bauhäusler – ausgedrückt am Beispiel ihrer legendären Feste – gegenüber. Dazu zeichnet Knorre passend burlesk-cartoonesk, ein wenig im Stil von Ronald Searle, jedenfalls sehr dynamisch. Und Textpassagen, die das biedere Bürgertum betreffen, sind in Fraktur gesetzt, während das lockere Bauhaus-Leben in einer computergenerierten Schreibschrift gesetzt ist – nun ja, auch nicht gerade bauhausgemäß, aber man versteht, wie’s gemeint ist: jugendfrisch und -frech. Wenn’s der Verständlichmachung dient …

In „Barometer“ kommt violett als Zusatzfarbe zum Einsatz. Die hätte ich eher bei der dritten Geschichte „Maternoster“ erwartet, weil es da um die Frauen am Bauhaus geht. Und zwei Frauen haben diese Episode auch gemeinsam erarbeitet: Franziska Wilhelm aus der Leipziger jungen Literaturszene und die Illustratorin Sandra Bach. Sieben Geschosse verbindet der Maternoster, und auf jeder Ebene wird eine andere Geschichte um Bauhäuslerinnen erzählt, von den Bekanntesten wie Anni Albers oder Marianne Brandt bis zu eher Vergessenen wie Adelgunde Stölzl oder die in Theresienstadt von den Nazis ermordete Friedl Dicker. Einigermaßen erstaunlich ist das Fehlen von Marguerite Friedländer, der Meistertöpferin; mit ihr hatte ich fest gerechnet, weil im Vorwort auch von der Bauhaus-Töpferwerkstatt in Dornburg die Rede war. Aber darüber wird kein Wort und kein Strich verloren, und schon wieder ist eine unglaublich virtuose Frau von der Kunstgeschichtsschreibung vergessen worden.

„Maternoster“ bietet aber die originellste, auch abstrakteste Form aller fünf Erzählungen. Sandra Bach hat zu Franziska Meisters Texten geradezu assoziativ gezeichnet: ein wenig im Stil von Oskar Schlemmers Metallwandreliefs. Herausgekommen ist eine Zwiesprache von Text und Bild, die tatsächlich das von beiden Autorinnen angestrebte performative Ideal zum Ausdruck bringen: spontane Interaktion. Während sich sowohl Stefan Kowalczyk mit seinen türkisen Bildern zu Joshua Schößlers Erzählung „Mein Lehrer Iten“ als auch Olivia Vieweg, die mit Abstand bekannteste am Buch beteiligte Zeichnerin – ihre Comics von „Endzeit“ bis „Huckleberry Finn“ gehören zum Besten, was in Deutschland in den letzten Jahren herausgekommen ist –, mit der Bebilderung zu Stefan Petermanns „Der Tag eine Eisscholle“ ganz in den Dienst der jeweiligen Szenarien gestellt, also illustrierend statt kommentierend gezeichnet haben.

Was beider Virtuosität gar nicht abträglich ist: Kowalczyk findet zu der Tagebuch-Fiktion eines in blinder Gefolgschaft zum charismatischen Bauhaus-Meister Johannes Itten entbrannten Studenten verstörende Traumbilder, die zwischen der Brutalität von Gerald Scarfe und der Melancholie von Shaun Tan changieren. Vieweg dagegen überrascht mit einem für sie ganz neuen Stil: Weiß auf schwarz gezeichnet wie Schabkarton, dazu partiell olivgrün eingefärbt, wird der Aufbruch eine Jungen, dessen Familien und Welt im Ersten Weltkrieg zusammengebrochen ist, zum Bauhaus erzählt – auf nur sechzehn Seiten, wie übrigens alle fünf Geschichten. Die Gleichgewichtigkeit der Erzählungen ist wichtig fürs Programm des Bandes, denn so wird keine Episode dominant.

Kurze Interviews mit den zehn Beteiligten zu den Gedanken bei den individuellen erzählerischen wie graphischen Stil-Entscheidungen runden den sehr schönen Band ab. Hier bekommt man fünffach geboten, was man mit kombiniertem Text und Bild alles machen kann. Und da mit Lyonel Feininger auch ein Comic-Pionier am Bauhaus lehrte, gibt es sogar eine unmittelbare Verbindung zwischen der Hochschule und der Erzählform. Wenn diese Beziehung auch nie im Buch ausgesprochen wird. Wozu jedoch auch, wenn man beim Lesen das Gefühl bekommt, dass Gegenstand und Form hier so gut zusammenpassen, wie es das Bauhaus eben wollte.