Das Mädchen mit der Essstörung
Wer hier auf Ratschläge hofft, wird enttäuscht. Wer sich einfach ein gutes Buch wünscht, dessen Erwartungen werden übertroffen: Regina Hofers eindrucksvoller autobiographischer Comic „Blad“.
„Blad“ ist kein sehr gängiges deutsches Wort, aber wer weiß, dass es für „füllig geformt“ steht (man könnte auch einfach sagen: „dick“), der wird sich des subtilen Witzes nicht entziehen können, den Regina Hofers erster Comic bietet, wenn er dieses Wort zum Titel wählt. Denn blad ist die auf dem Umschlag abgebildete junge Frau gerade nicht. Sie leidet vielmehr, seit sie fünfzehn Jahre alt wurde, an einer Essstörung und ist extrem hager. Bisweilen überkommen sie regelrechte Fressanfälle, weil der Körper ja irgendwie an Nahrung kommen will. Aber schon einer der ersten Sätze beschreibt das entsprechende Dilemma: „Ich habe Hunger und Angst vor dem Essen.“
Die Ich-Erzählerin, das wird schnell klar, ist Regina Hofer selbst, der Comic von einer autobiographischen Offenheit, die verblüfft. Wobei seine große Kunst darin besteht, dass denkbar lapidar in Worten und denkbar einfallsreich in Bildern erzählt wird. Die Die Seitenarchitektur ist im Regelfall quadratisch mit vier Panels, die sich aber immer wieder zu größeren Gesamtpositionen ergänzen. Das ist kein originelles, aber unverändert ein extrem wirkungsvolles Stilmittel. Und wenn dann noch so viel mit Symbolen und Abstraktion gearbeitet wird, wie Hofer es tut, hat man einen Band, der aus der Masse deutschsprachiger Comicpublikationen geradezu herausspringt. Leider gibt es im Netz keine Leseprobe.
Verlegt hat den Band der emsige Wiener Luftschacht-Verlag, und auch Regina Hofer, geboren 1976 in Linz, aufgewachsen im Mühlviertel, dann zum Studium ins nahe Salzburg gewechselt, lebt mittlerweile in der österreichischen Hauptstadt. Sie ist Künstlerin, war mir aber bislang noch nicht aufgefallen: Als Animatorin (die sie auch ist) geht man in der Masse des arbeitsteiligen Kollektivs unter, als Zeichnerin findet man selten Beachtung – wenn man nicht publiziert. So viel weiß ich jedenfalls: Auf das, was Regina Hofer neben ihrem Comic noch gemacht hat, bin ich jetzt neugierig.
„Blad“ besteht aus zwei Erzählungen ungefähr gleicher Länge, der Titelgeschichte mit dem Thema Essstörung und aus „Schlachten“, die sich dem Beginn der künstlerischen Kariere im Studium widmet. Dass dabei auch die gesundheitliche Einschränkung eine Rolle spielt, ist unvermeidlich, doch im zweiten Teil geht es viel mehr um die psychologische Herausforderung, die die neue Welt des Hochschul- und Studentinnenlebens abseits des vertrauten familiären Umfelds für die Protagonistin bedeuten. Während sich im ersten Teil just das vertraute Umfeld als besonders abgründig erweist, denn auf Verständnis darf die essgestörte Tochter nicht hoffen.
Die Bedrohung, die ihr eigener Zustand darstellt, wird beklemmend plastisch in den streng schwarzweißen Tuschezeichnungen, die gerne mit schweren Schwarzflächen arbeiten. Wiedererkennbarkeit der handelnden Personen steht nicht im Zentrum von Regina Hofers Interesse, wobei man sie selbst an dem kleinen Muttermal über der Oberlippe zuverlässig identifizieren kann – auch in Bildern, die stark verfremdend agieren. Es gibt aber wiederkehrende visuelle Metaphern wie den Astronauten, dessen Isolation zum Selbstporträt der Autorin taugt (und außerdem wird die Figur von Buzz Lightyear aus „Toy Story“ zum wichtigen Anker zwischen Kindheitsperspektive und rückblickender Betrachtung.
Manchmal zeichnet Regina Hofer wie Tomi Ungerer in den Jahren von „Wild Party“, dann wieder in der Schematisierung traditioneller Bildtopoi wie der Berliner Cartoonist Kriki. Zu Birgit Weyhe kann man Verwandtschaft erkennen und natürlich zu Anke Feuchtenberger, aber die gänzlich unpathetische Erzählhaltung ist ganz Regina Hofers Leistung. Und ihr Umgang mit geometrischen Symbolen ist bemerkenswert: Ist der Kreis mit dem Punkt darin jetzt eine Zielscheibe, steht er für die weibliche Brust, oder ist er Platzhalter für Hofer selbst (das Muttermal!)? Bisweilen macht der Text solche Fragen eindeutig beantwortbar, oft aber obliegt die Deutungsfrage uns. Dieses Vertrauen der Autorin ehrt.
Unberührt wird man aus dieser Lektüre nicht herauskommen. Und unbelehrt auch nicht. Dabei gibt es keine Ratschläge; ja, man erfährt nicht einmal, ob Regina Hofer mittlerweile die Krankheit im Griff hat oder nicht. Aber das vermisst man nicht. Ich habe einiges gelesen, vor allem als Comic, was über Anorexie, Bulimie und ähnliche Phänomene erzählt worden ist. Hier wird ein neuer Ton angeschlagen, der einer abgeklärten Persönlichkeit, die nie weinerlich wirkt und auch nicht verkopft. Es ist geradezu der Musterfall eines Erzähldebüts: Man möchte meinen, mit dieser Stimme schon längst vertraut zu sein, so unaufgeregt klingt sie.