„Rummelsdorf“, das neueste Spin-off der Comicserie „Spirou“, widmet sich im ersten Band einer prominenten Nebenfigur und setzt gleich auf mehrere sichere Erfolgsfaktoren, von denen einer lautet: Nazi-Zeit. Trotzdem macht die Lektüre Freude.
Keine andere europäische Comicserie treibt die Diversifikation ihres Inhalts so konsequent voran wie „Spirou“. „Asterix“ und „Tintin“ (Tim und Struppi) mögen erfolg- und einflussreicher sein, aber die 1938 von Rob-Vel für den belgischen Dupuis-Verlag begründeten Abenteuer des Brüsseler Hotelpagen Spirou haben mit André Franquins Arbeit an der Serie von 1948 bis 1968 einen Meilenstein der Comicgeschichte gesetzt, und immer noch erscheint das gleichnamige Magazin, während das Konkurrenzprodukt „Tintin“ längst Geschichte ist und es bei „Asterix“ nur Versuche gab, eine eigenständige Zeitschrift zu begründen. Bei „Spirou“ legte man das Augenmerk immer auf Synergieeffekte. Das war weltanschaulich darin begründet, dass Charles Dupuis sich als Verleger auch als Propagandist katholischer Werte verstand und deshalb früh die Popularität seiner Figuren als gesellschaftliche Werbeträger nutzte. Bald waren sie überall.
In den achtziger und neunziger Jahre wurde „Der kleine Spirou“ ein Vorreiter jener verhängnisvollen Welle von infantilen Kindheitsversionen etablierter Comic-Helden, der sich selbst Albert Uderzo nicht verschloss, als er 2009, kurz vor Ultimo seiner Zeichnerkarriere, noch den beschämenden Band „Wie Obelix als kleines Kind in den Zaubertrank geplumpst ist“ herausbrachte. Das unterbot sogar das Niveau der „Disney Babys“ oder Achdés „Lucky Kid“ mit dem kindlichen Lucky Luke. „Der kleine Spirou“ dagegen hatte immerhin anfangs den Reiz des Neuen. Als man kurz danach begann, prominente Zeichner einzuladen, einzelne „Spirou“-Alben in ihrem charakteristischen Stil zu gestalten, hatte man bei Dupuis noch ein Erfolgsrezept gefunden. Der bisher größte Hit sind die Alben von Émile Bravo über Spirous junge Jahre im Zweiten Weltkrieg geworden – erwachsene Geschichten über einen jungen Mann.
2017 begann man dann auch noch damit, beliebte Nebenfiguren aus den „Spirou“-Abenteuern zu Protagonisten eigener Reihen zu machen. Darauf war Morris schon viel früher gekommen, als er dem tölpelhaften Hund Rantanplan aus „Lucky Luke“ eine eigene Reihe widmete, aber originellerweise wählte man im Hause Dupuis einen Schurken als ersten Spin-off-Helden: Zorglup, in Deutschland bekannt als Zyklotrop. Nun ist auch diese Idee nicht unbekannt; im amerikanischen Superheldengeschäft ist der Joker, Batmans Nemesis, längst eine erfolgreiche eigene Marke, aber dass die Zyklotrop-Geschichten so gut ankommen würden, hatte niemand gedacht. Drei Bände gibt es mittlerweile, auf Deutsch wie alle „Spirou“-Alben bei Carlsen verlegt. Und nun kommt schon die zweite Personalauskopplung: „Rummelsdorf“.
Das ist, jeder „Spirou“-Leser weiß es, die deutsche Version des Familiennamens und -sitzes jenes wissenschaftlich begabten, aber schusseligen Grafen, der im Französischen der Conte de Champignac heißt. Wobei der vollständige deutsche Titel der Serie „Pankratius Hieronymus Ladislaus Adalbert, Graf von Rummelsdorf“ lautet – so viel Zeit muss sein, auch wenn man die ganze Vornamenskette auf dem Titelblatt mit der Lupe suchen muss und die französische Originalbenennung aus Platzgründen in diesem Blog jetzt einfach mal entfällt. Das von dem mir bislang nicht aufgefallenen Autorenduo Béka (das sind die fürs Szenario verantwortlichen Bertrand Escaich und Caroline Roque) und dem Zeichner David Etien erzählte Abenteuer verbindet zwei bereits bewährte Prinzipien: Auskopplung einer beliebten Nebenfigur und Verjüngung, denn wir erleben den Grafen von Rummelsdorf als jungen Adeligen, bevor er die Bekanntschaft von Spirou macht.
Durch diese zeitliche Vorverlagerung kommt gleich noch ein drittes Erfolgsmoment dazu: die Nazi-Zeit, wie sie auch Émile Bravo mit seinen „Spirou“-Abenteuern zum Handlungsrahmen wählte, ehe Olivier Schwartz und Yann mit den ihren nachzogen. Das Prickeln, wenn eine unschuldige Comicfigur in die übelste Episode der europäischen Geschichte versetzt wird, setzt unvermeidlich ein, und warum sollte man sich dieses Verkaufsargument entgehen lassen? Zumal das ja eine originäre „Spirou“-Idee war, die schon vor mehr als dreißig Jahren von Yves Chaland entwickelt, aber damals noch nicht ausgeführt worden war.
Genug des name dropping, hinein in die erste „Rummelsdorf“-Geschichte namens „Enigma“. Wie bei diesem Titel kaum anders zu erwarten, geht es um die berühmte gleichnamige deutsche Codiermaschine, der schon etliche Bücher und Filme gewidmet wurden,. Aber offenbar noch kein Comic. Nachdem die deutschen Besatzungstruppen im Jahr 1940 auch Schloss Rummelsdorf erreicht haben, setzt sich der Graf nach England ab, um sich jenem Wissenschaftlerteam im Bletchley Park anzuschließen, das dann auch tatsächlich das Rätsel der Enigma knacken sollte. Inwieweit das den Kriegsverlauf beeinflusste, darüber streiten die Gelehrten immer noch. Nicht aber darüber, dass vor allem die Arbeit des Mathematikers Alan Turing bei der damaligen Decodierung einen entscheidenden Schritt bei der Computerentwicklung darstellte.
Selbstverständlich tritt Turing im Comic auf, und man mag es einem eher auf Jugendliche abzielenden Konzept nachsehen, dass Béka die heiklen Fragen, die mit seiner Homosexualität und der beschämenden Ausgrenzung, die man ihm deswegen angedeihen ließ, zusammenhängen, in ihrem „Rummelsdorf“-Szenario beiseitelassen. Immerhin wird der Comic-Turing als Sonderling charakterisiert, aber neben dem spleenigen Grafen fällt das gar nicht weiter auf. Deutlich markanter ist ohnehin die dritte Hauptfigur des Albums, die fiktive schottische Linguistin Blair Mackenzie, in die sich Rummelsdorf verliebt, was zu einer harmlosen Nacktszene führt, mit der ich in der Welt von „Spirou“ aber doch nicht gerechnet hatte. Nachdem jedoch Émile Bravo bereits so viele Grenzen dieses Kosmos verschoben hat, darf wohl auch mal der Autorennachwuchs ran, ehe er auch dieses Tabu noch bricht.
Gezeichnet ist das Ganze nicht im klassischen Marcinelle-Stil des Dupuis-Verlags, sondern eher wie von Régis Loisel und Jean-Louis Tripp in deren Serie „Das Nest“, also physiognomisch naturgetreuer, aber dennoch schwungvoll-cartoonesk (eine Leseprobe der ersten Seiten findet sich hier). Mit Franquin hat das indes gar nichts mehr zu tun; die Actionbilder vom Bombenabwurf der Deutschen Luftwaffe über London könnten eher von dem Realisten William Vance stammen. Erstaunlicherweise hat mich der Band aber dennoch amüsiert, weil er sich wunderbar naiv eine der seltsamsten Episoden des Zweiten Weltkriegs aneignet und in den vertrauten „Spirou“-Erzählraum überführt. Spaß ist ja nicht das Schlechteste beim Comiclesen – vor allem, wenn man bedenkt, wie wenig man davon bei den jüngeren „Spirou“-Alben der Hauptserie hatte.