Vor neunzehn Jahren schon obskur und jetzt als Gesamtausgabe noch immer: Thierry Smolderen und Jean-Philippe Bramanti verwickeln in „McCay“ den großen gleichnamigen Comic-Meister in ein parawissenschaftliches Abenteuer.
Vor neunzehn Jahren startete in Frankreich eine Albenserie mit dem Titel „McCay“. Wer sich auch nur ein bisschen für die Geschichte des Comics oder auch des Trickfilms interessiert, kennt den Namen: Winsor McCay wurde auf dem ersten Feld mit „Little Nemo in Slumebrland“ zum Pionier, auf dem zweiten mit „Gertie the Dinosaur“. Er war einer der berühmtesten und bestbezahlten Zeichner im Amerika des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, und sein visueller Einfallsreichtum ist auch noch hundert Jahre später unerreicht. Auch die französische Albenserie versuchte es graphisch gar nicht erst. Aber inhaltlich. Ihr Thema ist Winsor McCay, jedoch nicht das vielfach dokumentierte Leben des 1871 geborenen und 1934 gestorbenen Künstlers, sondern ein Lebensabschnitt von 1889 bis 1910, also der Aufstieg vom Nachwuchsillustrator zum Star seiner Zunft, der hier als eine Art Faust-Geschichte erzählt wird. Kein Wunder, denn der Szenarist dieser Geschichte ist der Belgier Thierry Smolderen, einer der innovativsten und gebildetsten Autoren des französischsprachigen Comics, zugleich ein exzellenter Kenner der ganzen Comicgeschichte. Also der ideale Autor einer McCay-Erzählung. Deshalb besorgte ich mir damals den ersten Band.
Ich war nicht enttäuscht, aber auch nicht begeistert, was vor allem an den Zeichnungen von Jean-Philippe Bramanti lag (hier kann man sie sehen, wenn auch nur auf der Hälfte der eingestellten Seiten), die – natürlich, muss man sagen – den Vergleich mit McCays unfassbar subtiler Linie nicht aushalten. Der einzige, der überhaupt im unmittelbaren Vergleich hat standhalten können, war Moebius (der seine eigene Version von „Little Nemo“ gezeichnet hat), aber den konnte Smolderen nicht gewinnen. Bramanti, Jahrgang 1971, ist Absolvent der Comicschule von Angoulême und beschäftigte sich schon in seiner Abschlussarbeit mit McCays „Little Nemo“. Der Comic „McCay“ lag somit in doppelt prädestinierten Händen. Aber viel Geist und Begeisterung reicht nicht an ein Genie heran. Von Bramanti hat man nach Abschluss des letztlich vierbändigen Zyklus auch nicht mehr viel als Comiczeichner gehört. Bis jetzt, wobei es nichts Neues gibt, sondern „McCay“ in deutscher Erstveröffentlichung als Sammelband (beim Carlsen Verlag). Dadurch habe ich die Geschichte erstmals zu Ende gelesen, den nach dem ersten Band hatte ich vor neunzehn Jahren die Lust auf weitere verloren. Die Handlung war mir auch etwas zu versponnen gewesen: Fantasy, die aber nicht wie bei McCay selbst als Träume motiviert ist, sondern durch die Verquickung seines Lebens mit dem eines imaginären Mannes namens Silas, der als Schausteller und Anarchist auf jeweils unterschiedliche Weise daran arbeitet, die Welt umzustürzen. Wer sich etwas besser mit McCays Werk auskennt, weiß, dass er seine zweite berühmte Serie „Dreams of a Rarebit Fiend“ mit „Silas“ signiert hat. Man könnte also eine Art Doppelgänger-Geschichte vermuten, aber das reichte Smolderen nicht. Er brachte mit dem britischen Sonderling Charles H. Hinton noch eine historische Gestalt ins Spiel, der am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts den Übergang in die vierte Dimension gesucht hat. Und der junge Winsor McCay des Comics „McCay“ wird diesen Übergang finden – und dort auch die Inspiration für eine späteren eigenen Geschichten.
An dieser Stelle war der erste Band zu Ende, und damit für neunzehn Jahren auch meine Lektüre. Dass ich sie nun fortsetzen konnte, habe ich nicht bereut, aber ein Lieblingscomic wird „McCay“ nicht werden. Zumal Smolderen für die Gesamtausgabe, die vor zwei Jahren im französischen Original erschien, alle Zusatzseiten aus den Einzelbänden gestrichen hat, in denen er ausgiebig die kulturgeschichtlichen Hintergründe seiner Erzählung erläutert hat. Damit wurde die Lektüre der reichlich kruden Geschichte erleichtert, weil man nun die Anspielungen verstand, und das wäre heute noch genauso, aber stattdessen ist dem Nachdruck-Band eine Serie von vierundzwanzig ganzseitigen Schwarzweißzeichnungen beigegeben, die Bramanti eigens angefertigt hat: imaginäre Umschlagabbildungen, die meist zentrale Motive und Handlungsorte von „McCay“ zum Gegenstand haben, manchmal aber auch Szenen bieten, die es im Comic gar nicht gibt. In diese Fällen wird es interessant, aber leider auch nur in diesen.
Denn der Comic selbst bleibt zu überdreht in seiner Kombination von Phantastik und biographischer Akkuratesse. Zudem macht Smolderen einen drastischen Fehler, den man ihm nie zugetraut hätte: Er lässt einen Teil des Finales in William Randolph Hearsts berühmter kalifornischer Villa spielen, die er nicht nur nach San Francisco verlegt (sie steht aber 150 Kilometer weiter südlich auf einem einsamen Hügel über der Pazifikküste), sondern auch 1910 schon fertig sein lässt, obwohl ihr Bau erst 1919 begonnen wurde. Schade, dass man das Zusatzmaterial nicht mehr hat, sonst hätte man wenigstens nachlesen können, ob sich Smolderen dieses Anachronismus bewusst war. Interessant ist, dass zumindest eine Doppelseite komplett umgearbeitet wurde: Seite 12/13 im ersten Album (nun 16/17 im Sammelband), wo die „verwunschene Schaukel“ des Schaustellers Silas zum Einsatz kommt. In der Erstveröffentlichung sieht man das Publikum nicht, sondern nur ihre Wahrnehmung des plötzlich kopfstehenden Raumes, im Nachdruck jetzt sieht man die Leute wild auf ihrer Schaukel durch das Zimmer kreisen, was ein betrug am Leser ist, denn der Trick von Silas war gerade das Spiel mit der eigenen Wahrnehmung der Besucher. Smolderen und Bramanti habe da ihrer eigenen Geschichte nicht mehr getraut.
Der neue Band ist gut gedruckt, wenn auch gegenüber den ursprünglichen Alben im verkleinerten Format, aber gerade das lässt auch die Schwächen von Bramantis Graphik hervortreten, die zu häufig recht nahe an seinen Fotovorlagen ist und zu selten McCay selbst zitiert. Was auch – siehe oben – riskant ist, aber man sehrt sich bei den aus „Little Nemo“ oder „Rarebit Fiend“ bekannten Hintergründen nach dem traumwandlerisch sicheren Strich ihres Schöpfers. Der gefällige Retro-Look von Bramanti, der eher die Schwarze Serie des mittleren zwanzigsten Jahrhunderts heraufbeschwört als das Fin de siècle, ist einfach zu wenig.