Posy Simmonds zeichnet wieder einmal ein meisterhaftes Frauenporträt: In „Cassandra Darke“ lässt sie eine betrügerische Kunsthändlerin auftreten, die plötzlich noch mit ganz anderen Verbrechen als den eigenen konfrontiert wird.
Posy Simmonds ist in Deutschland skandalöserweise kaum bekannt, obwohl ihre beiden erfolgreichsten Comics, „Gemma Bowery“ und „Tamara Drewe“, übersetzt (Reprodukt Verlag) und jeweils verfilmt wurden. Aber das ist auch schon wieder etliche Jahre her, und seitdem ist hierzulande nichts Neues nachgekommen, während in Simmonds’ englischer Heimat immerhin mehrere Auswahlbände ihrer Zeitungsserien erschienen – und im vergangenen Jahr endlich auch eine weitere umfangreiche Graphic Novel, die gemäß bewährtem Rezept wieder nach ihrer Hauptfigur benannt ist: „Cassandra Darke“. Viel sprechender als diesen Namen (tragische Seherin, Dunkelheit) kann man sich die Benennung einer Hauptperson wohl kaum denken.
Sprechend ist auch das Erzählgenre: Bei Posy Simmonds von „Graphic Novel“ zu reden, ist genau richtig, denn sie hat eine Kombination aus Text und Bild zu ihrem Markenzeichen entwickelt, die auf umfangreiche rein schriftlich erzählte Passagen Illustrationen folgen lässt, die aber niemals nur Bebilderung sind, sondern immer auch Weiterführung der Geschichte durch visuelle Informationen. Viele dieser Bilder sind dabei wie klassische Comics arrangiert, also mit Sprechblasen und in teilweise seitenlangen Sequenzen, aber immer wieder folgen darauf dann lange literarische Abschnitte, in denen die Erzählhaltung eines Romans eingenommen wird. Was hier wichtiger fürs Ganze ist, der Text oder das Bild, kann man schwer sagen, weil sich beides eben trotz der ungewohnt großen schriftlichen Partien so gut ergänzt. Was natürlich daran liegt, dass Posy Simmonds eine derart exzellente Erzählerin ist.
Dreiundsiebzig Jahre ist sie heute alt, und die entsprechende Lebenserfahrung merkt man „Cassandra Darke“ an. Zumal die Titelheldin derselben Generation wie ihre Autorin entstammt, allerdings weder äußerlich etwas mit Simmonds gemein hat, noch ihr charakterlich gleicht (Cassandra ist eine betrügerische Londoner Kunsthändlerin, die ihrer reichen Kundschaft unautorisierte Nachgüsse eines verstorbenen Künstlers verkauft hat, Posy Simmonds dagegen eine scharfäugige Gesellschaftskritikerin, die just die Doppelbödigkeit der bürgerlichen Moral zu ihrem Thema macht).
Man könnte nun meinen, mit diesem dritten nach der jeweiligen (denkbar ambivalenten) Heldin benannten Comic bediente sich Simmonds einer Masche. Weit gefehlt. Nicht nur steht erstmals eine ältere Frau im Zentrum ihrer Geschichte, diese ist auch weitaus skrupelloser als die eher leichtfertigen Damen Bowery und Drewe aus den früheren Bänden. Zudem ist der neue Comic von hoher narrativer Komplexität: Es beginnt alles mit einem Rückblick auf den 21. Dezember 2016, den Tag, an dem Cassandra Darkes betrügerische Machenschaften auffliegen, danach springen wir ein Jahr nach vorne, um die Dame nach ihrer Verurteilung und dem unvermeidlichen geschäftlichen Ruin zu erleben (ihr wertvolles Haus in London hat sie indes ebenso halten können wie ihre überhebliche Haltung gegenüber anderen Menschen). In einer Einliegerwohnung ihres Hauses findet Cassandra eine Pistole, und mit dieser Entdeckung nimmt die Geschichte eine scharfe Wendung.
Aber nicht in Richtung Zukunft, sondern noch einmal zurück in den Dezember 2016. Im längsten Kapitel des Buchs erzählt Simmonds, wie die Waffe ins Haus gelangt ist, und daraus entwickelt sich, wie man schnell bemerkt, nicht nur ein Mordfall, sondern auch ein grandioses psychologisches Porträt der zweiten Hauptperson des Comics, der jungen Möchtegernkünstlerin Nicky, zweiteheliche Tochter des früheren Gatten von Cassandra Darke, die ein paar Monate unter dem Dach ihrer Wahlverwandten hausen durfte und im Gegenzug von der Kunsthändlerin kräftig ausgebeutet wurde. Ihre Unbedarftheit führt zur Verquickung mehrerer Handlungsfäden, die Posy Simmonds bewusst locker miteinander verbindet, ehe zum Schluss, dann wieder im Dezember 2017, alles in ein fulminantes Finale mündet – „fulminant“ nicht deshalb, weil es dann besonders actionreich zuginge, sondern weil sich alle Figuren (und die ganzen Männer in der Geschichte habe ich ja bislang unterschlagen) bis zum Schluss so ungeheuer konsequent verhalten. Man sieht diesem Ensemble von armen Würstchen beim jeweiligen Scheitern zu, den Guten wie den Bösen. Wobei diese Differenzierung nur unseren Grad an Anteilnahme mit den individuellen Schicksalen bezeichnet, nicht jedoch eine moralische Komponente. Bei Posy Simmonds ist niemand wirklich „gut“, obwohl man als Leser mit Cassandra und Nicky bangt.
Angesichts dieser Konstellation darf man es überraschend nennen, dass die Geschichte „gut“ endet, wobei damit auch hier etwas anderes gemeint ist, als man landläufig darunter verstehen würde. Es ist verlockend, sich „Cassandra Darke“ als reinen Roman vorzustellen, denn die Geschichte erfüllt nicht nur alle Erwartungen an eine virtuose Krimi-Erzählung, sondern ist auch psychologisch meisterhaft erzählt. Die typischen Simmonds-Zeichnungen, die an englische Bilderbuchtraditionen anknüpfen, sind aber deshalb so wichtig für das Buch, weil ihre Freundlichkeit zunächst auf die falsche Fährte führt: Man möchte die Akteure allzu leicht für harmlos halten, weil sie so gutmütig aussehen, doch umso irritierender ist dann ihr moralisches Fehlverhalten und der Einzug der Gewalt.
Abermals bewährt sich Posy Simmonds zudem als Meistergestalterin ihres eigenen Buchs. Wie sie je nach Erzählperspektive die Typographie der schriftlichen Passagen wechseln lässt, Zeitungsausschnitte in die Handlung einmontiert, um Zusatzinformationen jenseits der individuellen Erzählperspektiven zu vermitteln, Briefe der Beteiligten abbildet oder deren Gedanken durch entsprechend phantasiereiche Variation des Zeichenstils sichtbar zu machen, das ist ein einziges Sehvergnügen. Nicht, weil hier überschäumend variabel gezeichnet würde, sondern weil jedes Detail so effektiv eingesetzt ist. Man könnte anhand von „Cassandra Darke“ ein umfassendes Unterrichtskompendium fürs Erzählen in und mit Bildern erstellen.
Umso bedauerlicher ist es, dass der Verlag Jonathan Cape im Netz keine Leseprobe aus dem Buch anbietet (um sich eine Vorstellung vom Stil zu machen, empfiehlt sich die Rezension des „Guardian“, die zumindest zwei Panels bietet: ). Das Titelblatt des Buches könnte auch von Jacques Tardi gezeichnet worden sein, aber so, wie die Grande Dame des englischen Comics im Innenteil arbeitet, macht ihr keiner etwas vor. Auf eine weitere Verfilmung möchte ich wetten, auf eine deutsche Übersetzung von „Cassandra Darke“ leider nicht.