Stumme Comics sind immer noch die Ausnahme, doch mit Lewis Trondheim und Lars Fiske versuchen sich gleich zwei etablierte Zeichner an Geschichten ohne Worte: der eine im Genrebereich, der andere auf dem Feld der Künstlerbiographie.
George Grosz war ein Agitprop-Künstler. Zumindest in den zwanziger Jahren, als er vehement die Sache der Kommunistischen Partei in der Weimarer Republik betrieb und in seinen Graphikblättern das alte Regime des Kaiserreichs und den deutschen Militarismus ebenso geißelte wie die Kapitalisten. Dabei verließ er sich vor allem auf die Kraft seiner Zeichnungen, und auch wenn seine Mappenwerke, in denen der Malik-Verlag sie unter die Leute brachte, betitelt waren, brauchte Grosz eigentlich gar keine Worte, um seine Botschaften klarzumachen. Ein gekreuzigten Christus mit Gasmaske – das konnte niemand missverstehen. Entsprechend viele Klagen gab es gegen Künstler und Verlag, und meistens wurden sie verurteilt. Auch die Richterschaft der jungen Republik bestand ja noch aus Vertreten des ancien régime.
Das Leben von Grosz wird aus Anlass seines sechzigsten Todestags in diesem Jahr und dem 125. Geburtstag im vergangenen gerade vielfach präsentiert. Und es gibt nun auch einen Comic über sein Leben, gezeichnet von dem 1966 geborenen Norweger Lars Fiske, der vor mehr als zehn Jahren auch schon Comics über Olaf Gulbransson und Kurt Schwitters publiziert hat, sich also in der ersten Jahrhunderthälfte und dem damaligen Deutschland blendend auskennt. Das spürt man bei „Grosz – Berlin, New York“ (erschienen beim Avant Verlag), auf jeder Seite, ach was, in jedem Einzelbild. Zumal es Fiske wieder gelingt, sich dem graphischen Stil des von ihm porträtierten Künstlers so anzuverwandeln, dass man meinen könnte, eine gezeichnete Autobiographie von Grosz zu lesen. Hier kann man sich das ansehen.
Vor allem aber verzichtet auch Fiske auf große Worte und erzählt seine insgesamt 75 Seiten stumm. Keine Dialoge also, auch keine Textkästen, nur vor jedem der sechzehn Kapitel eine Weiß auf Schwarz gedruckte Selbstauskunft von Grosz, die den Ton setzt für die jeweils folgende kleine Episode. Ganz selten gibt es einzelne Sprechblasen, die sich aber auf Schlagwörter wie etwa ein Pseudonym beziehen, mit dem Grosz sich seiner Verhaftung entziehen will und das man nun wirklich nicht hätte zeichnen können. Insgesamt aber dürften sich solche expliziten Fälle an den Fingern zweier Hände abzählen lassen. Und dann gibt es noch gelegentlich die Titel seiner umstrittenen Blätter zu lesen, aber auch das nicht oft.
Es gehört einiges dazu, im Comic stumm zu erzählen. Das hat etwa auch der damals noch junge Riad Sattouf im Jahr 1999 erfahren müssen, als er als Student einen Beitrag für „Comix 2000“ einsandte, die legendäre Anthologie des französischen Autorenverlags L’Association, die nur wortlose Geschichten versammelte – aus der ganzen Welt. Sattouf ist heute ein Star und höchst erfolgreich, aber sein damaliger Beitrag fand keine Gnade vor den strengen Augen der Herausgeber. In der derzeit noch laufenden Sattouf-Ausstellung der Bibliothek des Centre Pompidou in Paris kann man anhand der dort gezeigten abgelehnten Seiten sehen, warum er scheiterte. Es fehlt das Gespür für einen Handlungsfortschritt ohne die sonst in einem Comic übliche Textebene.
Fiske besitzt dieses Gespür, es ist grandios, wie er seine Seiten rhythmisiert und Tempo in die rein visuell erzählte Geschichte bringt – und es auch wieder herauszunehmen versteht. Genau wie Lewis Trondheim, der im vergangenen Jahr auf Instagram ein höchst interessantes Experiment durchführte: Täglich veröffentlichte er ein Bild aus der neuesten Geschichte seiner bekanntesten Figur Lapinot (auf Deutsch: Herr Hase), die sich somit zu einer aus 365 Folgen in der querformatigen Größe eines Smartphone-Bildschirms bestehenden Geschichte zusammensetzte. Einige wenige Episoden bestehen aus mehreren kleinen Bildern, meist aber zeichnete Trondheim einzelne Tagespanels. Und die Besonderheit: Auch er verzichtete dabei auf Worte.
Für Digitalmuffel wie mich hat er diese Geschichte mit dem Titel „Das verrückte Unkraut“ jetzt auch als Buch (bei Reprodukt) herausgebracht, entgegen der normalen Albengestalt der „Lapinot“-Serie als dicken kleinen Band im Format seiner Zeichnungen. Die Lektüre kann man fast so schnell wie bei einem Daumenkino vollziehen (wobei hier allerdings Vorder- und Rückseiten bedruckt sind), in einer halben Stunde ist man lässig durch. Trondheim bedient wieder einmal ein Genre: in diesem Fall die Fantasy. Herr Hase muss plötzlich feststellen, dass er ständig ungewollt in eine Parallelwelt gerät, in der seine Heimatstadt Paris halbverfallen und von Vegetation überwuchert ist, zudem bevölkert von einigen wilden Kreaturen, die auf alles Jagd machen, was noch normal wirkt.
Entsprechend actionreich ist die Handlung (einen Eindruck kann man sich mit der Leseprobe verschaffen), aber das hat ja schon Tradition bei Trondheim, der seine Erzählformen zu einem nicht geringen Teil aus Computerspielen bezieht. Für Anregungen bei der gezeichneten Welt von „Das bedankt er sich ausdrücklich bei Hayao Miyazaki, Moebius und Massimo Mattioli, und deren Einflüsse sieht man jeweils auch (was ein großes Lob ist). Zudem wird H.P. Lovecraft als Vorbild erwähnt, aber das bezieht sich natürlich auf Stimmung und Figurenkonstellation der Geschichte. Keiner dieser vier Großmeister des Phantastischen müsste sich jedenfalls für „Das verrückte Unkraut“ schämen.
Besonders gespannt aber darf man sein, wie eine derartige Geschichte ohne Worte zu bestreiten ist. Klar, da Herr Hase und die anderen Figuren kaum jemals zum Durchschnaufen kommen, haben sie auch keine Zeit zum Reden, und der Schreck durch diverse unangenehme Überraschungen tritt so zuverlässig immer neu ein, dass es ihnen auch durchaus die Stimme verschlagen haben könnte. Vor allem aber nutzt die wortlose Erzählweise jener schnellen Lektüre, die Trondheim sich wünscht, und der ursprünglichen Publikationsform in Tagesfortsetzungen. Das visuelle Gedächtnis knüpft im Regelfall viel leichter als das wörtliche an vertraute Muster an, also ist ein stummer Comic ideal geeignet für eine lange Fortsetzungsgeschichte. Mit Lyonel Feiningers „Wee Willie Winkie’s World“ gab es ein frühes Meisterwerk des Comic-Strips, das das auch schon gewusst und angewendet hatte (jedoch erfolglos, wie man zugeben muss).
Trondheims und Fiskes Comics dagegen dürften erfolgreich sein – nicht zuletzt auch deshalb, weil sie so gut wie keine Übersetzungskosten für fremdsprachige Ausgaben entstehen lassen. Und so wie Grosz einer der wenigen auch international vertrauten deutschen Künstler ist, darf Herr Hase als weltbekannte ikonische Comicfigur des neueren französischen Autorencomics gelten. Das Interesse geht also jeweils über die Landesgrenzen hinaus. Und auch noch anzumerken ist, dass Tondheim schon im ersten „Herr Hase“-Album, dem fünfhundertseitigen „Lapinot et les carottes de Patagonie“ von 1992, ohne Worte ausgekommen war. So werden hier also zwei Klassiker stumm, aber graphisch höchst beredt geehrt: der bildmächtige Grosz und jener wortlose Comic von Trondheim, der diesem Zeichner seinerzeit den Durchbruch brachte. Aber das Schönste an „Grosz – Berlin, New York“ und „Das verrückte Unkraut“ ist, dass sie für sich stehen können, auch wenn man gar nichts über ihre Tradition weiß. Weil sie jeweils einfach gut erzählt sind.