Pascal Rabatés Riesenwerk „Der Schwindler“ setzt einen Roman von Alexej Tolstoi in eindrucksvolle Bilder: das Leben und Überleben eines Opportunisten in den Jahren des russischen Bürgerkriegs.
Zugegeben: Dieses mehrere Kilo schwere Buch lag seit Monaten ganz unten in einem Stapel mit mutmaßlich lesenswerten Comicneuerscheinungen. Es gab eine so solide Basis ab, dass es dort wohl ewig hätte liegen bleiben können, wenn nicht das unmittelbar darüber „aufbewahrte“ Werk plötzlich dringlich gesucht worden wäre. Und prompt regte sich beim Herausziehen das schlechte Gewissen über die Unterlage: Da lässt ein seit Jahrzehnten etablierter, aber nicht zu den größten Häusern zählender deutscher Verlag das Opus Magnum eines renommierten französischen Comiczeichners übersetzen, und ich vernachlässige es. Pardon, Schreiber & Leser! Die nächsten drei Abende gehörten deshalb Pascal Rabatés „Der Schwindler“.
Wobei es nicht drei volle Abende waren, sondern dreimal die wee small hours, denn diese 530 Seiten sind das richtige für dunkle Stimmung und lesen sich so flüssig wie ein Roman. Kunststück: Sie adaptieren ja auch einen, Alexej Tolstois „Ibykus“, erschienen 1924 in der Sowjetunion und schon drei Jahre später erstmals ins Deutsche gebracht – weiß Gott keine Selbstverständlichkeit bei sowjetischer Literatur in jenen Jahren. Aber der Stoff drängte, denn Tolstoi erzählt die Geschichte eines Buchhalters aus Petrograd, der mit der Februarrevolution von 1917 nicht nur ein, sondern mehrere neue Leben beginnt und sich in den Wirren der nächsten drei Jahre an etlichen Orten mit diversen Identitäten versorgt, um aus dem Chaos der russischen Verhältnisse während des Bürgerkriegs Vorteile zu ziehen. Wie sein Namensgeber, der griechische Dichter Ibykus, führt dieser Semjon Iwanowitsch Newsorow also ein Wanderleben. Wobei der Name bei Tolstoi für einen sprechenden Totenkopf steht, dessen Auftauchen eine Zigeunerin dem Buchhalter geweissagt hat. Und der taucht dann auch im Roman regelmäßig auf.
Im Comic ebenfalls, und da noch eindrucksvoller, denn Rabaté lässt seinen Semjon immer wieder in lebenden Menschen, auf die er trifft, Gerippe erkennen, die ihn ans eigene Schicksal mahnen. Diese Transformation ist für einen Comic natürlich ein Kinderspiel. Weniger einfach ist die Adaption eines komplexen Romans wie „Ibykus“, selbst wenn man fünfhundert Seiten zur Verfügung hat. Rabaté zieht sich da höchst geschickt aus der Affäre, indem er nur wenig Text aus Tolstois Vorlage übernimmt; große Teile seines „Schwindlers“ (der übrigens nur im Deutschen so heißt; im französischen Original trägt das Buch wie der Roman den Titel „Ibicus“) kommen wortlos aus, und deshalb kann man vielleicht eher sagen: Dieser Comic liest sich wie ein Manga, nämlich wirklich schnell. Mehr als vier bis sechs Stunden wird man nicht brauchen, und das ist auch für 540 Comicseiten nicht viel. Und es geht ab, wie man schon der leider sehr schmalen Leseprobe entnehmen kann.
Alexej Tolstoi hatte selbst genug erlebt, um seinen zeitgeschichtlichen Stoff gestalten zu können: Der entfernte Neffe des berühmteren Lew Tolstoi schlug sich nach der Revolution erst auf die Seite der Weißen, also der Gegner der Bolschewiken, ging dann ins Exil nach Paris und Berlin, machte aber im Gegensatz zu vielen anderen russischen Exilanten seinen Frieden mit Lenin und durfte deshalb 1923 in die Heimat zurück. „Ibykus“ hatte er da wohl schon teilweise im Gepäck oder begann sofort mit der Niederschrift, gleichsam als Legitimation seines Wandels, denn die Handlung des Romans spielt sich fast ausschließlich auf Seiten der Konterrevolution ab, und dort ist alles moralisch scheußlich. Wie auch der Opportunist und, ja, Schwindler Newsorow selbst.
Rabaté hält seine Adpation in grau lavierten Bildern, um Stummfilmästhetik zu evozieren – besonders sichtbar beim in Odessa spielenden Kapitel, wo die durch Eisenstein berühmt gemachte Treppe ein wiederkehrendes Motiv ist und auch Kanonenrohre von Panzerschiffen ins Bild ragen wie im „Potemkin“-Film. Da hat jemand seinen sowjetischen Avantgarde-Kontext parat, aber noch wichtiger für die Figurengestaltung ist der deutsche Expressionismus. Manchmal meint man Brücke-Zeichner am Werk zu sehen, besonders bei den Frauenporträts, während die Hauptfigur als ausgemergelter großer Mann bewusst als (buchstäblich) Fremdkörper inszeniert wird. So kann man ihn auch in den unterschiedlichsten Konstellationen und Rollen als Leser immer leicht identifizieren.
Dass in diesem Comic gemordet, gefoltert und auf vielfältige Weise seelisch gequält wird, versteht sich angesichts der Handlungszeit von selbst. Dass Rabaté dabei nur selten explizit wird, ist dagegen alles andere als selbstverständlich. Der 1961 geborene Autor hat seine Tolstoi-Adaption schon 1998 begonnen und dann in insgesamt vier Bänden bis 2001 fortgeführt. Das war lange vor der späteren Welle der Literarturadaptionen durch Comiczeichner. Dass Schreiber & Leser das Riesenwerk als Gesamtausgabe verlegen (für einen vergleichsweise Spottpreis von knapp vierzig Euro), ist leider symptomatisch für den deutschen Comicmarkt, der eher für unlesbar dicke Ausgaben (das Gewicht!) empfänglich ist als für mehrbändige Projekte.
Gedruckt und übersetzt (durch Resel Rebiersch) wurde gut, und das hochwertige Papier trägt nicht unerheblich zur Last bei, den dieser Band auf den Knien bedeutet. Aber was ihn herausragen lässt aus der Fülle von Romanadaptionen ist seine Rhythmisierung, der Wechsel von Panels, die Totalen, und solchen, die Detailansichten bilden, der ständige Perspektivwechsel und die an Fotografieästhetik angelegten Bildkompositionen (so sehen einzelne Panels manchmal aus wie mit Weitwinkel fotografiert). Es ist ein schönes visuelles Abenteuer, das auch nicht alles offensichtlich machen will – deshalb gibt Rabaté Plakate oder Zeitungsseiten im russischen Originaltext wieder.
Die Position Tolstois als Renegat wird in seinem Comic nicht reflektiert, wenn man davon absieht, dass man sich lebhaft vorstellen kann, wie es mit Newsorow noch weitergegangen sein mag, nachdem er zum Schluss des Romans in Istanbul davonkommt: Auch er wäre natürlich zu den Bolschewiken übergelaufen. Das aber konnte Tolstoi nicht erzählen, und deshalb setzte er eine Bemerkung des Autors ans Ende: „Natürlich wäre es besser für die Erzählung gewesen, Semjon Iwanowitsch sterben zu lassen.“ Aber der habe sich jedem Versuch widersetzt. Diese Buchseite druckt Rabaté am Ende des Comics ab und schreibt mit schwungvoller Schrift „pas mieux“ darunter. Die deutsche Übersetzung will das als „auch nicht besser“ verstehen, aber es heißt nur „nicht besser“, und damit widerspricht Rabaté explizit Tolstois eben zitiertem Satz. Natürlich ist es besser, weil ehrlicher, dass dieser Hochstapler weiterlebt – die Geschichte hat viele seiner Art gesehen. Und in diesem Band schaut man ihrer Art besonders fasziniert zu.