Als Hitler den roten Hotelpagen bedrohte
Auftakt zu einem Epos, das die Comics verändern könnte: Émile Bravos erster Band seines neuen Spirou-Abenteuers „Die Hoffnung“, der bislang umfangreichsten Geschichte dieser Serie. Ihr Thema: die Belgier im Zweiten Weltkrieg.
Was hier vorgestellt wird, darf für sich in Anspruch nehmen, eines der spektakulärsten Comic-Vorhaben der letzten Jahrzehnte zu sein. Warum? Weil die längste Geschichte erzählt wird, die es je mit einer der berühmtesten Comicfiguren überhaupt, dem belgischen Pagen Spirou, gab. Weil mit Émile Bravo ein Autor und Zeichner diese Geschichte verantwortet, der es vom Können her mit seinen großen Vorläufern bei dieser Serie aufnehmen kann: also mit – chronologisch geordnet – Joseph Gillain alias Jijé, Jean-Claude Fournier, Yves Chaland und natürlich mit dem außerhalb aller Kategorien stehenden und deshalb hier auch als Höhepunkt genannten André Franquin. Weil es Bravo vor zehn Jahren gelungen ist, „Spirou“ mit dem Band „Porträt eines Helden als junger Tor“ (man beachte die Joyce Anspielung) einen ganz neuen Dreh zu geben, indem er den mutigen Pagen als fiktive Figur ernst nahm und dessen Entstehungszeit (1938) zum Ausgangspunkt eines Jugenderlebnisses machte, das dann in den höchst realen Zweiten Weltkrieg führte, und er diesen Strang nun unmittelbar fortsetzt. Weil dieser neue Band „Spirou oder: die Hoffnung“ im Mittelpunkt aller Aktivitäten des Dupuis-Verlags zum achtzigsten Geburtstag der Serie steht. Weil die Geschichte atemraubend gut ist.
Warum aber dann hier im Blog und nicht auch groß in der F.A.Z.? Weil wir es mit dem nun bei Carlsen auf Deutsch und damit sehr kurz nach der französischen Originalpublikation erschienenen Album (das Uli Pröfrock gewohnt souverän übersetzt hat; eine Leseprobe mit den ersten acht Comicseiten findet sich hier. Bravo legt seine Geschichte „Die Hoffnung“ auf runde dreihundert Seiten an, und deshalb waren erst einmal drei Bände angekündigt, deren erster nun aber „nur“ mehr als achtzig Seiten umfasst (weshalb es jetzt wohl vier werden, denn Bravo ist Star seiner Zunft genug, um sich nicht profanen Vertriebsargumenten zu beugen). Das heißt aber auch, dass wir es jetzt lediglich mit einem Bruchteil von bestenfalls einem Drittel und schlimmstenfalls nur einem Viertel zu tun haben, für ein Urteil über das Ganze also gar keine ausreichende Grundlage besteht. Wenn ich trotzdem sage, dass die Geschichte atemraubend gut ist, dann erfolgt diese Einschätzung nur aufgrund des ersten Kapitels. Und das mag andeuten, was am Ende zu sagen sein wird, wenn Bravo dieses Niveau mit den weiteren Kapitel gewahrt haben sollte. Oder vielleicht sogar gesteigert?
„Die Hoffnung“ setzt im Januar 1940 ein, also schon im Krieg, aber der betrifft den Handlungsort Brüssel noch nicht, denn Belgien ist neutral. Bis zum Einmarsch der Deutschen werden aber nicht mehr als fünf Monate vergehen, und die ganze Stadt steht bereits unter dem Eindruck dieser Bedrohung. Wie Bravo jene Zeitstimmung, in der man in Belgien beide mächtige Nachbarstaaten zu beschwichtigen suchte – mit klarer Sympathie für Frankreich –, einfängt, gehört zum Großartigsten, was im europäischen Comic geleistet worden ist. Denn da sind verunsicherte Passanten, willfährige Opportunisten, arrogante Verbündete – jede Figur für sich ein kleines psychologisches Meisterstück, dessen größtes die Gruppe Brüsseler Gassenjungen darstellt, die wir schon aus dem „Porträt als junger Tor“ kennen, die aber eigentlich aus zeitgenössischen Comics von Hergé stammen, aus „Quick und Flupke“. Das Bravo sich davon inspirieren ließ, ist nicht nur ein comicgeschichtlich hochbrisanter Brückenschlag zwischen den beiden Großmeistern Hergé und Franquin und ihren beiden ästhetischen Schulen (der von Brüssel und der von Marcinelle), sondern auch deshalb geistreich, weil Hergés Rolle während der Besatzungszeit immer noch umstritten ist. Er selbst erlebte ja als Zeichner das, wovon nun Bravo erzählt: die Verführungskraft des Politischen, gerade in der Lage eines eigentlich unpolitischen Künstlers, der doch nur weiter arbeiten will.
Bei Bravo gibt es drei Hauptfiguren, die wir schon aus dem „Porträt“-Band kennen: natürlich Spirou selbst, den jungen Hotelpagen, natürlich dessen Reporterfreund Fantasio als ständige zweite Hauptfigur der Serie seit Jijés Zeiten, und ganz neu, nämlich von Bravo erdacht, Kassandra, ein politisch links eingestelltes deutsches Zimmermädchen, in das sich Spirou verliebt hat. Sie tritt im ersten Band von „Die Hoffnung“ nicht persönlich auf, aber ihre Briefe aus der Sowjetunion, wohin sie sich als Kommunistin begeben hat und nun durch den Hitler-Stalin-Pakt von Auslieferung an die Nazis bedroht ist, vertiefen die dunkle Grundierung des Geschehens noch. Mutmaßlich wird Kassandras Schicksal zum Generalbass von „Die Hoffnung“ werden, und man riskiert wohl nicht viel, wenn man voraussagt, dass daraus ein Requiem entstehen dürfte.
Denn bei Bravo wird – anders als bei „Spirou“ in achtzig Jahren bislang üblich –auch tatsächlich gestorben. Wie sollte man sonst auch einen Comic im Zweiten Weltkrieg ansiedeln? Es wäre einfach frivol. Und auch, was Bravo aus Fantasio macht, nämlich einen egozentrischen Feigling, der sich der Karriere wegen (und aus Dummheit) nach dem deutschen Überfall, der auf Seite 18 dieses Albums, also recht schnell, stattfindet, der Kollaborationspresse – ausgerechnet der Tageszeitung „Le Soir“, dem berühmtesten belgischen Blatt, das im Krieg auch Hergé beschäftigte – anschließt, ist ein Bruch mit der Tradition, auch wenn Fantasio immer schon als großspuriger und oft arroganter Mensch gezeichnet worden war. Hier jedoch bekommt er von Bravo etwas Dämonisches, und das geht bis in die Graphik, die viel mehr als dem vibrierenden Marcinelle-Strich von Jijé oder Franquin der Brüsseler Ligne Claire Hergés verpflichtet ist – und umso irritierender fällt darin das bisweilen geradezu überschnappende Mienenspiel von Fantasio auf.
Hier wird mit einer Bedachtsamkeit und gleichzeitig höchster Experimentierfreude mit den Gepflogenheiten der belgischen Klassiker (und damit den Zentralgestirnen des europäischen Comic-Kosmos) gespielt und zugleich eben bitterernst gemacht, dass man nur staunen kann. Der Anspielungsreichtum ist unendlich, und wenn dann auch noch ein deutscher Emigrant auftaucht, der sich als Maler in Brüssel durchschlägt und auf den Namen Felix hört, dann ist klar, dass Bravo die leider höchst reale Geschichte von Felix Nußbaum mit eingearbeitet hat, auch wenn der Nachname (noch) nicht genannt wird. Auch das ist ein Novum im Spirou Universum, wo es zwar häufig witzige Anspielungen auf historische Persönlichkeiten gab, aber nie Eins-zu-eins-Übernahmen aus der Wirklichkeit.
Bravo setzt also nicht auf Dichtung allein, aber auf Dichte jeder Art: Er arrangiert meist kleine Bilder zu seinen großen Albenseiten, so dass zwölf Panels die Regel und auch deren mehr nicht selten sind. Dazu hat Fanny Benoit als Koloristin eine abgeschattete Farbpalette gewählt, die zu dem dunklen Handlungszeitraum passt, und wenn es im Spätsommer oder Herbst mit Spirous Pfadfindertruppe– eine weitere comicgeschichtliche Anspielung auf Hergé, aber auch auf dessen Kollegen Mitacq – hinaus aufs Land geht, dann ist man bei schlechtem Wetter im Wald, also bleibt es konsequent düster. Lichtpunkte auf den Seiten setzen nur die zahlreichen Sprechblasen, denn Bravos Figuren haben viel zu sagen: Sie müssen ja nicht nur mit der sie überrollenden Weltgeschichte, sondern auch mit sich selbst klarkommen.
Am Schluss bricht Fantasio nach Berlin auf, ins Herz der Finsternis, und man darf mit Spannung darauf warten, ob, und wohl auch damit rechnen, dass sein Freund Spirou ihm folgen wird. Denn irgendwo östlich von Berlin lebt ja Kassandra, und so mag „Die Hoffnung“ sich zu einem Kriegsepos entwickeln, das den jungen Hotelpagen zum ersten Mal (biographisch betrachtet) aus Brüssel fort- und in jene Abenteuer bringen wird, die er seit achtzig Jahren rund um die Welt erlebt hat. Vielleicht ist dieser Handlungsort in der deutschen Hauptstadt auch der Grund dafür gewesen, dass sich Dupuis zunächst schwer tat, den vor ein paar Monaten erschienenen Band „Spirou in Berlin“ des deutschen Zeichners Flix ins Französische übersetzen zu lassen. Das immerhin wird nun geschehen, aber angeblich erst nach Abschluss des Bravo-Zyklus. Der womöglich dann die beste Hinführung fürs französischsprachige Publikum zum Flix-Band darstellen wird: erst das Berlin der Weltkriegszeit, dann das Berlin der Kalte-Kriegs-Zeit. Fortsetzung folgt jedoch erst im zweiten Kapitel von „Die Hoffnung“: Also nächstes Jahr in NS-Berlin? Man kann es kaum erwarten weiterzulesen. Mehr Spannung kann wohl nur noch das zweite Kapitel selbst bieten.