Geniestreich durch Geniestrich
Mikael Ross ist mit „Der Umfall“ eine großartige Erzählung über ein höchst heikles Thema gelungen: das Zusammenleben von behinderten und nichtbehinderten Menschen. Mit dieser Geschichte, die das erste Berliner Comic-Stipendium gewann, hat er nicht nur seine Auftraggeber, die Evangelische Stiftung Neuerkerode, beglückt, sondern jeden Comicleser.
Warum soll man sich nicht einen Comic zum Geburtstag schenken? Die Frage mag paradox klingen, aber genau das hat die Evangelische Stiftung Neuerkerode getan. Zu ihrem hundertfünfzigsten Geburtstag, den sie vor knapp vier Wochen feiern konnte, beauftragte sie den Berliner Zeichner Mikael Ross mit einem Comic über das Leben in dieser Einrichtung, die in einem dörflichen Kontext das Zusammenleben von behinderten und nichtbehinderten Menschen ermöglicht. Und damit hat die Stiftung nicht nur sich ein wunderschönes Geschenk gemacht, sondern auch uns – und zwar gerade, wenn wir zuvor noch nie etwas über Neuerkerode gehört haben sollten. Denn es handelt sich um einen der bemerkenswertesten deutschen Comics.
Das hat auch die Kulturverwaltung des Berliner Senats so gesehen, als sie ihr erstes Comic-Stipendium an Mikael Ross für seine Arbeit an „Der Umfall“ zusprach. Es handelt sich bei dem Preis in Höhe von immerhin 16.000 Euro um das erste öffentliche Comic-Stipendium in Deutschland (während etwa die Schweiz so etwas schon seit Jahren bietet) und zugleich um eine der höchstdotierten Auszeichnungen dieser Art. Bewerbungsberechtigt sind nur Berliner Autoren, aber davon gibt es ja genug. Auch Ross stammt ursprünglich aus München und hat bei einem Auslandsstudienaufenthalt in Brüssel die Entscheidung getroffen, sich ganz aufs Comiczeichnen zu verlegen. Wieder einmal verdankt der europäische Comic also Belgien einen großen Künstler.
In Brüssel tat sich Ross mit Nicolas Wouters zusammen, der ihm die Szenarios von gleich zwei Alben schrieb, die in Frankreich bei Sarbacane erschienen sind und jeweils für den Avant-Verlag ins Deutsche übersetzt wurden: „Lauter leben!“ (2014) und „Totem“ (2016), beides Geschichten, die Furore machten. Womit sich wieder einmal die Frage stellte, warum deutsche Comicbegabungen bisweilen oft erst den Umweg übers Ausland machen müssen (man denke etwa auch an Barbara Yelin). „Der Umfall“, wieder bei Avant erschienen, ist nun die erste für den deutschen Markt gezeichnete Geschichte von Mikael Ross, aber wer weiß, ob es ohne das Engagement der Stiftung Neuerkerode und von dessen comicbegeistertem Direktor Rüdiger Becker überhaupt dazu gekommen wäre.
Was mag sich Becker versprochen haben, als er Ross engagierte? Eine Reportage, eine Geschichte der Institution oder das, was es jetzt geworden ist: eine fiktive Erzählung vor dem höchst realen Hintergrund von Neuerkerode? Diese Entscheidung war nicht naheliegend, aber in Anbetracht des Resultats ist sie ein Glück. Denn so interessant ein sachlicher Blick auf die Arbeit der im Kreis Braunschweig angesiedelten Einrichtung auch wäre, erst die Freiheit, mit der Ross die Ergebnisse seiner zweijährigen Recherchen in Neuerkerode (die zu großen Teilen in Gesprächen mit den dort lebenden Menschen bestand) zu einer stringenten Erzählung umformte, macht die Qualität von „Der Umfall“ aus. Und wird dem gerecht, was Ross in Neuerkerode beobachtet und besprochen hat.
Gezeichnet ist das in einem für Deutschland ganz seltenen Stil, der die Begeisterung von Ross für französische Vorbilder erkennen lässt, vor allem für Nicolas de Crécy und Christophe Blain. Deren Meisterschaft für karikatureske Elemente in geradezu malerisch angelegten Dekors (Leseprobe) hat Ross nachgeeifert, und es ist ihm gelungen, diese bisweilen märchenhafte Stimmung auch in seiner Geschichte zu erschaffen – ein Kunststück und zugleich erzählerische Notwendigkeit.
Hauptfigur ist Noel Stock, ein junger Mann unbestimmten Alters und unbekannter Behinderung. Unbestimmt und unbekannt jeweils deshalb, weil „Der Umfall“ aus seiner Sicht erzählt ist, und die hält naturgemäß das für normal, was er ist und empfindet. Schon diese Perspektive wird dem Neuerkeroder Konzept, jeden Menschen als das zu akzeptieren, was er sein möchte, gerecht. Zudem vermittelt der Comic dadurch ein schwebendes Gefühl: zwischen Wirklichkeit und Phantasie. Die Träume von Noel, einem tatsächlichen Weihnachtskind, wie sein Name es sagt, sind elementarer Bestandteil der Handlung.
Es gibt kein Eins-zu-eins-Vorbild, das Ross dabei als Modell gedient hätte; Noel als Figur ist die Kombination mehrerer Bewohner von und Geschichten aus Neuerkerode. Im Comic aber ist er – wie alle Figuren – ein Individualist reinsten Wassers: Nach einem Schlaganfall der Mutter (dem titelgebenden „Umfall“), bei der er in Berlin lebt, kommt Noel zur Betreuung in die Evangelische Stiftung. Der Comic begleitet seine Eingewöhnungsphase: ein erstes Jahr voller Unsicherheiten und Entdeckungen, neuen Bekannt-, vielen Freund- und auch ein paar Feindschaften. Wir lernen den Alltag in dem Dorf Neuerkerode kennen, Betreute und Betreuer, verlieben uns mit Noel und werden mit ihm enttäuscht, und ganz nebenbei werden die Wege gezeigt, auf denen man in der Stiftung zum Ziel eines inklusiven Lebens von Behinderten und Nichtbehinderten kommen will. Dass es hier in einer geradezu idealen Umgebung versucht wird, sagt nichts darüber aus, ob es nicht auch anderswo zumindest viel besser ginge als bislang üblich. Wobei auch gesagt sein muss. Dass in der Stiftung das Verhältnis von Betreuten zu Betreuern zahlenmäßig etwa ausgeglichen ist. Wo gibt es das sonst?
Aber auch in Neuerkerode ist nicht alles ideal, auch daran lässt Ross‘ Comic keinen Zweifel. Ein Kapitel, erzählerisch grandios vorbereitet und dann eingepasst in die übrige Handlung, beschäftigt sich mit der Vergangenheit der Einrichtung in der NS-Zeit, als auch hier Patienten im Rahmen der Euthanasie-Verbrechen ermordet wurden. Man spürt der Passage das besondere Interesse von Ross an.
Wie man ihm den Spaß anmerkt, die Wahrnehmung von Noel in Bilder zu übertragen. Da werden Ärzte mal eben zu einer Schar quakender Enten, und die Physiognomien von Menschen erscheinen extremer, als man es sich vorstellen kann. Dafür ist der Comic das richtige Medium: Gezeichnet werden kann alles, und Glaubwürdigkeit ist eine Sache der der konsequenten Präsentation, nicht eines Realismus konventioneller Ausprägung. Dass Ross auf diese Weise glaubwürdig zu zeichnen versteht, hatten schon „Lauter leben!“ und „Totem“ beweisen, auch das Geschichten übers Erwachsenwerden unter schwierigen Bedingungen. So gesehen setzt „Der Umfall“ eine Zeichnerkarriere schlüssig fort. Doch wie Ross nun selbst als Erzähler auftritt, wie er seine Buntstiftzeichnungen perfektioniert hat, wie er sehr selten einzelne Splash Pages als Stimmungsverstärker einsetzt, Geniestreich durch Geniestrich – all das zeigt, dass hier ein ganz Großer auf dem Weg ist. „Der Umfall“ ist zweifellos ein Höhepunkt, aber sicher auch noch nicht der Gipfel dessen, was Mikael Ross erreichen kann.
Dönerdeutschschweizerisch
Selina Ursprung hat zwei Dutzend türkische Imbissbuden in der Schweiz und Deutschland aufgesucht und ihre Beobachtungen zu einer gezeichneten Impression arrangiert. Aber ist das Comic? Oder Journalismus? Oder aber was?
Seit Jahrzehnten stand die Edition Moderne unter der Ägide ihres Verlegers David Basler für die erzählerische Comicavantgarde. Nun steht ein Stabwechsel im Haus bevor, doch Basler selbst hat in jüngster Zeit noch einige Neuerungen angestoßen, darunter auch intensivere Kontakte zu den Hochschulen, aus denen immer mehr Comictalente kommen. Und eine Neugier des Verlags für Projekte, die nicht im klassischen Sinne Comics sind. Das jüngste Produkt des Zürcher Hauses ist ein Band, der diese beiden Öffnungen kombiniert: Selina Ursprungs „Mit blauem Pulli und Falafelfladenbrot“.
Ursprung, 1993 geboren, hat in Bern Visuelle Kommunikation studiert, und ein Resultat ihrer Negier auf graphische Erzählformen ist diese Comicreportage. Oder nennen wir sie lieber mit Joa Sacco „graphic journalism“, denn als Comic kann man den Band nur unter extremer Ausweitung der Kriterien bezeichnen. Ursprung wandelt auf den Spuren von Sebastian Lörscher oder Olivier Kugler, die auch auf Spezifika wie Sprechblasen oder Sequenzen verzichten und eher Skizzenbuchästhetik anstrebt. So ist es auch in diesem Band der jungen Schweizerin, der sich dem Thema türkischer Imbissbuden widmet.
In drei Städten hat Selina Ursprung entsprechende Etablissements besucht, alle drei beginnen mit dem Buchstaben B: Biel, Bern und Berlin. Wäre nicht eine der von ihr aufgesuchten Berliner Imbissadressen weltberühmt („Mustafa’s Gemüse Kebab“ in Kreuzberg), würde man kaum Unterschiede erkennen zwischen den schweizerischen und deutschen Beispielen. Das ist denn auch die Stärke dieser gezeichneten Reportage: Im Blick auf Details der Ladeneinrichtungen oder im Notat von Kundengesprächen wird vom lokalen Kontext abstrahiert, und dadurch kommt eine Typisierung zustande, die unabhängig vom Ort der jeweiligen Imbissbude ist.
Soweit das Interessante an dem Band mit dem umständlichen Titel. Wunderbar, wie Ursprung Mülleimer skizziert oder die Hände des Verkaufspersonal beim Zubereiten von Döner. Bedauerlich ist dagegen die durch die Entindividualisierung des konkreten Gegenstands erzwungene Allgemeingültigkeit. Sie könnte Erkenntniskraft besitzen, doch nirgendwo im Buch wird diese Frage thematisiert. Selbst das Nachwort der deutschen Kulturwissenschaftlerin Miriam Stock gefällt sich eher im discours de la méthode, denn in einer Interpretation dessen, was Usprung tut.
Sie kombiniert jeweils auf einer Doppelseite mehrere skizzierte Eindrücke aus den aufgesuchten Imbissbuden und leitet sie meist durch notierte Gesprächsfetzen oder Inhalte von Beschilderungen ein. Ein unmittelbarer Bezug zwischen Wort und Bild besteht selten, beide Elemente ergänzen sich zum Eindruck der Reporterin, befruchten sich jedoch nicht gegenseitig. Zudem werden einzelne Lokalitäten mehrfach aufgesucht (die Uhrzeit des Besuchs ist ebenso wie der Name der Imbissbude stets vermerkt), doch die Impressionen werden nicht gebündelt. Auch das trägt zum abstrakten Gesamteindruck bei.
Zeichnen kann Selina Ursprung (eine Leseprobe ist hier zu finden), erzählen kann sie (noch) nicht. Das impressionistische Model ihrer Reportage ist der Kunst verpflichtet, nicht dem Journalismus oder dem Comic. Es ist zwar eine Dokumentation, doch die soll assoziativ wirken. Schön sind dabei die Stilwechsel: mal Bleistiftlinien, mal Tuschezeichnungen, oft schwarzweiß, aber auch bisweilen farbig, du gerade, weil sie eher rar sind, kommen die authentischen Farbakzente besonders stark zur Geltung. Selina Ursprung ist zweifellos ein graphisches Talent und eine sehr gute Beobachterin, aber ob sie daraus Geschichten generieren können wird, das bleibt noch abzuwarten. Da die Edition Moderne das ihren Autoren treu zu bleiben pflegt, werden wir die Probe darauf wohl machen können.