Mit Stampfen fängt man Muscheln
Anschauliche Ausflüge in fremde Zusammenhänge: Die Comiczeitschrift „Strapazin“ füllt ihr jüngstes Heft ganz mit Comicreportagen.
Auf dem diesjährigen Comicsalon in Erlangen gab es nicht nur ein faszinierend erfolgreiches neues Segment für Kinder zu sehen, sondern auch im Stadtmuseum eine große Ausstellung zum Thema Comicreportage, die den Vorzug bietet, noch bis Ende August geöffnet zu sein, während sonst schon fast alles, was der Salon geboten hat, nur noch in der Erinnerung besteht. Wobei man diese Ausstellung auch gerne wieder vergessen kann, denn sie ist wenig inspirierend gestaltet und bietet keine Überraschungen.
Für die sollte man lieber die jüngste, passend zum Erlanger Termin erschienene Ausgabe des Schweizer Comicmagazins „Strapazin“ zur Hand nehmen. Die Nummer 131 dieser längst legendären (auch seiner Langlebigkeit wegen) Publikation widmet sich zur Gänze Comicreportagen, und wie es bei „Strapazin“ üblich ist nicht in der Form theoretischer Abhandlungen darüber, sondern konkret mit Beispielen. Fünf Künstler sind vertreten, und vier davon dürften für die meisten Leser neu sein: Andrew Greenstone aus den vereinigten Staaten, Sharad Sharma aus Indien (obwohl er schon einmal in „Strapazin“ vertreten war), Stefan Vercsey aus der Schweiz und Walter Steffek aus der Bretagne. Die fünfte Zeichnerin ist die einzige richtig berühmte: Ulli Lust. Die in Berlin lebende und in Hannover lehrende Österreicherin ist eine Pionierin der Comicreportage; ihre ersten Publikationen erfolgten vor fast zwanzig Jahren, als das Genre in Deutschland noch unbekannt war. Seitdem hat sie vor allem mit ihren autobiographischen Comics Furore gemacht.
Aber der Reportage bliebv sie immer treu, und so kommen in „Strapazin“ jetzt fünf Episoden aus Ulli Lusts für das englischsprachige Magazin „Ex-Berliner“ gezeichneter Serie „The Simple Stroll“ zum Abdruck. Der schlichte Spaziergang des Titels ist eine Untertreibung, denn so simpel ist es nicht, was Ulli Lust da unternimmt. Alltagsbeobachtungen ja, aber an Berliner Orten, die nicht selbstverständlich sind wie dem „Berghain“ oder auf dem Friedhof Grunewald. Oder sie dokumentiert private Begegnungen und Gespräche, die ihr skurril erschienen. Hier verbindet sich das Autobiographische und Reportierende aufs Schönste. Schade, dass es bei fünf Episoden geblieben ist.
Auch übernommen aus einem anderen Medium ist Andrew Greenstones Schilderung seiner Teilnahme an einem Ufologen-Kongress in Kalifornien. Der Einfluss seiner Landsleute James Kochalka oder Craig Thompson auf den zweiunddreißigjährigen Amerikaner ist unübersehbar, allerdings fragt man sich, warum „Strapazin“ statt meist zwei nicht jeweils vier seiner Einzelbilder zu einer Seite arrangiert wurden. Erstmals veröffentlicht wurde die Reportage im Netz, und so gibt es kein zwingendes Layout, aber das nun gewählte, lässt so viel Freiraum auf den Seiten, dass es an Verschwendung grenzt und keine guten Eindruck macht. Darunter leidet auch die Reportage selbst, die ganz neutral bleibt, aber nun übertrieben „künstlerisch“ großzügig daherkommt.
Keinesfalls neutral blickt Sharad Sharma auf seine indische Heimat, wo er den Hindu-Radikalismus im Vormarsch sieht, wie er am Beispiel rabiater Kuh-Schützer zeigt, die in en letzten Jahren mehrere angebliche Rindfleischesser auf offener Straße ermordet oder misshandelt haben. Über das Phänomen hat Martin Kämpchen, regelmäßiger Berichterstatter für das Feuilleton der F.A.Z. aus Indien, mehrfach geschrieben, doch Sharma macht die Gewalt mit einer Mischung aus Agitprop- und Infographik-Ästhetik eindrucksvoll deutlich. Er sieht die ehedem tolerante indische Gesellschaft vor dem Untergang, und natürlich richtet sich die Gewalt vor allem gegen ohnehin schon benachteiligte: muslimische Minderheiten, niedrige Kasten oder gar Menschen, die gar nicht ins Kastensystem kommen wie die Dalit, über die auch schon Joe Sacco, der bekannteste Comicreporter der Welt, eine eindrucksvolle Besuchsschilderung verfasst hat.
Stefan Vercseys Reportage über Hamburger Obdachlosen kann man dagegen beim besten Willen nicht mehr Comic nennen: Es ist eine Folge von Illustrationen zu kurzen Texten. Das mag seine Berechtigung haben, wenn auch die Originalität nicht eben hoch ist. Mal akribisch detailliert gezeichnet wie bei Robert Crumb, mal so locker skizziert wie bei Olivier Kugler, hat Vecseys Stil noch nichts Eigenständiges. Verblüffend, dass ausgerechnet seine Arbeit das Titelblatt von „Strapazin“ (zu sehen hier, dort auch Probeseiten aus den Geschichten des Hefts) schmückt, noch dazu als computergenerierte Montage zweier Einzelbilder. Das Ethos beim Umgang mit dem gelieferten Material ist in der Redaktion in diesem Fall nicht besonders ausgeprägt, und eine Bemerkung im Impressum zu dieser dubiosen Gestaltungspraxis sucht man vergebens.
Schließlich aber versöhnt Walter Witteks nur neuseitige Schilderung seiner Zeit als „pêcheur à pied“, also Fußfischer, an der Nordküste der Bretagne. Steffek war in den späten neunziger Jahren gerade aus Deutschland dort hingezogen, als er sich mit dieser Tätigkeit ein Zubrot verdiente; kleine Truppe gehen bei Ebbe über den Strand und stampfen im feuchten Sand, so dass allerlei Meeresgetier, das noch zurückgeblieben ist, an die Oberfläche kommt und eingesammelt werden kann. Gezeichnet ist das nicht originell, die französischen Vorbilder sind offensichtlich, aber hier herrscht wirklich ein Dokumentationston in Bild und Wort, der eine unbekannte Welt im besten Sinne vorstellt. Ob man von Steffek, der sich erst im Rentenalter, mit Ende sechzig, zum Comiczeichnen entschlossen hat, noch viel sehen wird? Freuen würde es mich.
Kinder, Kinder, das könnte euer Comic sein
Mit „Polle“ startet ein auf Kinder zwischen sieben und zehn Jahre ausgerichtetes deutsches Comic-Magazin, in dem großartige Zeichner witzige Geschichten erzählen.
Als größten Erfolg beim gestern zu Ende gegangenen Erlanger Comicsalon darf man einen neuen Festivalteil bezeichnen, der den verheißungsvollen Titel „Kinder lieben Comics!“ trug. Im Botanischen Garten der Universität, mitten in der Stadt gelegen und wunderschön in frühsommerlicher Blüte, standen zwei Lesezelte vor dem großen Pflanzenhaus, und in diesen drei Schauplätzen sowie reichlich sonnenbestrahltem Freiraum dazwischen spielte sich ein buntes Kinderfest rund um Lesungen, Workshops und ausgehängte Zeichnungen ab. Und nicht zuletzt bekam hier jeder, der es wollte, das erste Heft von „Polle“.
Das ist der Name eines neuen Comic-Magazins für Kinder, ausgerichtet auf ein Alter von sieben Jahren an. Erdacht haben es Jakob Hoffmann, Ferdinand Lutz und Dominik Müller, alle drei in der Comicszene wohlbekannt, Ersterer als Veranstalter wunderbarer Gesprächsveranstaltungen in Frankfurt am Main mit Künstlern, Letzterer als Musiker und Komponist von Liedern zu Comics und Bildergeschichten, und Lutz schließlich, sicherlich der Etablierteste der drei, als Zeichner zahlreicher Kindercomics, nicht zuletzt mit „Rosa und Luis“ für „Dein Spiegel“, das Jugendforum des Nachrichtenmagazins. Wer sehen will, wie diese Geschichten aussehen, der hat hier Gelegenheit dazu. Und natürlich zeichnet Lutz auch kräftig für „Polle“.
Davon allerdings kann man im Netz noch keine Leseprobe finden, denn die Website www.vollepolle.de bietet vor allem die Möglichkeit, das neue Heft zu abonnieren. Sechs hefte sollen pro Jahr erscheinen, die ersten beiden konnten durch eine rasch erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne und Unterstützung des Comicsalons Erlangen schon gesichert; danach aber wird es mindestens 1500 Abonnenten brauchen, denen die Publikation einen Preis von jährlich 36 Euro wert ist. Geboten wird dafür einiges: inhaltlich wie personell.
Mit Ulf K., Nadja Budde, Philip Waechter, Anke Kuhl, Mawil oder Aisha Franz sind neben Ferdinand Lutz einige weitere der besten deutschen Comiczeichner und Illustratoren am ersten Heft beteiligt und wollen es wohl auch weiterhin sein, wie ihre meist auf Fortsetzung angelegten Geschichten erkennen lassen. Wobei jede einzelne Episode in „Polle“ abgeschlossen ist, sowohl die kurzen Comic-Strips zu Beginn und Abschluss des Heftes als auch die mehrseitigen Erzählungen im Inneren. „Fortsetzung“ heißt also, dass hier populäre Figuren aufgebaut werden, auf deren weitere Abenteuer in späteren Heften man sich freut. Ob das wie bei Anke Kuhl eine eigene Kindheitsreminiszenz ist (aus der man außerdem etwas über Leistenbrüche lernen kann) oder wie bei Ulf K. eine aberwitzig witzig-alberne Raumfahrergeschichte – es allemal ist auch ein Lesespaß für Erwachsene. Zumal Mawil auf der Rückseite des Heftes sogar eigens seine Kultfigur Super Hasi reaktiviert.
Das Heft ist ungewöhnlich kleinformatig: A4, aber das ist perfekt für Kinder. Auf 36 Seiten durchweg farbig gedruckt, enthält es in der Mitte Minicomics zum Selberbasteln (ein bewährtes Element seit der „Micky Maus“ der sechziger Jahre), ein opulentes wildes Wimmelbild auf den Umschlaginnenseiten und ein illustriertes Kinderlied von Dominik Müller mit Noten zum Nachspielen und Mitsingen. Da werden also auch Anregungen geboten, die über ein reines Comic-Magazin hinausgehen.
Entscheiden über den Erfolg von „Polle“ werden die kleinen Leser, bezahlen aber müssen es deren Eltern – oder große Leser. Für die mag Philip Waechters fünfseitige „Toni“-Geschichte ein besonderer Anreiz sein, in der der Frankfurter Zeichner seiner Verehrung für Sempé Raum gibt und dadurch einen wunderbar nostalgischen Comic schafft, der trotzdem ganz gegenwärtig ist und bereits Lust auf den für kommenden Herbst angekündigten ganzen Band mit solchen Geschichten um den jungen Toni macht. „Polle“ könnte sich also auch als Forum für geeignete Kindercomic-Vorabdrucke eignen. Und die Redaktion ist eine kluge Kooperation mit der bereits länger existierenden Kinderzeitschrift „Gecko“ eingegangen, die sich an noch kleinere Leser richtet, so dass es da einen nahtlosen Übergang vom einen zum anderen Magazin geben könnte, wenn das vom Vorlese- ins Lesealter kommende Publikum neue Lektüre sucht. Aber ich – mittlerweile wohl eher im Nachlesealter – werde auch dabei als Leser mit sein, weil hier eine in Deutschland einmalige Versammlung an etablierten Comicautoren geboten wird. Und Talente wird „Polle“ sicher auch noch entdecken.