Francois Durpaire wagt in seinem von Farid Boudjellal gezeichneten Comic „Die Präsidentin“ eine Prognose für die französische Präsidentschaftswahl 2017. Wehe uns und Frankreich, wenn das so käme
von Andreas Platthaus
Ein prophetischer Comic? Gab es das schon einmal? Über „Eternauta“ von Hector Gérman Oesterheld ist das jüngst wieder gesagt worden, als diese argentinische Geschichte aus den späten fünfziger Jahren erstmals auf Deutsch erschien. Zu genau hatte Oesterheld darin die Atmosphäre der Angst und des Terrors vorweggenommen, die fast zwanzig Jahre nach Erscheinen von „Eternauta“ unter der Junta in Argentinien herrschen sollte. Aber dass Oesterheld selbst verschleppt wurde und seitdem verschollen ist, seine vier Töchter erschossen wurden – das hätte sich niemand träumen lassen, auch nicht nach der skeptischsten Lektüre des Dystopie „Eternauta“. Er wollte ja auch gar nichts vorhersagen, sondern nur eine abenteuerliche Geschichte erzählen.
Bei „Die Präsidentin“ verhält sich das anders. Deren Szenarist Francois Durpaire hat den Ehrgeiz, eine Prognose zu erstellen für den Ausgang der kommenden französischen Präsidentenwahl und der daraus resultierenden Ereignisse. Vier Prämissen zählt er im Vorwort auf, die erfüllt werden müssten, um seine Vorhersage eintreten zu lassen: „Erstens, Nicolas Sarkozy gewinnt die Vorwahl bei den Rechten; zweitens, es gibt eine starke Kandidatur der Mitte, das heißt eine zweite Kandidatur im Lager der Republikaner; drittens, Sarkozy wird infolge dieser Spaltung der Rechten chancenlos, die aber, viertens, auch dazu führt, dass keine Stimmen aus dem bürgerlichen Lager an den Kandidaten der Linken, Francois Hollande, gehen.“ Dann werde Marine Le Pen siegreich aus der Präsidentschaftswahl hervorgehen.
Die erste Bedingung scheint sich zu erfüllen, denn Sarkozy hat seine Kandidatur angekündigt; dass er Konkurrenz aus der eigenen bürgerlichen Rechten bekommen wird, dürfte auch so gut wie sicher sein. Unwahrscheinlich scheint derzeit von den vier Bedingungen nur die zu sein, die Durpaire sicher für die am leichtesten vorhersagbare hielt, als er das Vorwort vor fast einem Jahr verfasste: dass Francois Hollande für die Sozialisten antreten wird. Der amtierende Präsident ist so unpopulär, dass er nicht einmal sicher in die Stichwahl von 2017 zu kommen hoffen dürfte. Dadurch könnte sich der Lauf der Dinge ändern, denn Marine Le Pen hätte in der Stichwahl gegen einen Kandidaten der (weniger) Rechten wohl keine Chance.
Aber schon die Tatsache, dass man fast sicher damit rechnen muss, dass die Kandidatin des Front National die Stichwahl erreichen wird, zeigt, wie nahe das Modell von Francois Durpaire der Realität ist. Gemeinsam mit dem Zeichner Farid Boudjellal hat er im vergangenen Herbst für Furore gesorgt, als in Frankreich der Comic „La Présidente“ erschien – auf dem Cover eine breit lächelnde Marine Le Pen in der Pose, die sie für das Porträtbildnis wählen wird, das nach ihrer Wahl in allen französischen Amtstuben zu hängen hat. Dieser Comic wurde ernst genommen bei unseren Nachbarn, weil er ungeachtet seiner spannenden Rahmenhandlung um eine kleine Gruppe, die zivilen Widerstand gegen Le Pens Politik leistet, höchst sachlich Vermutungen zusammenträgt, wie die Dinge laufen könnten, und sie dann in eine Chronik der Ereignisse des Jahres 2017 verwandelt. An dessen Ende ist das Spiel offen: nicht gewonnen für den Front National, aber eben auch nicht verloren.
Dass der Band jetzt auf Deutsch erscheint (beim Verlag Jacoby und Stuart) und zudem der Frankreich-Kenner Ulrich Wickert ein Vorwort beigesteuert hat, zeigt, wie ernst man seine Erzählung auch hierzulande unter Experten nimmt. Durpaire konnte bei Abfassung seines Szenarios das Ergebnis des Brexit-Votums noch nicht kennen; in der deutschen Übersetzung ist es eingearbeitet, und dadurch wird der Lauf der Dinge noch plausibler. Alle Akteure auf dem politischen Feld sind reale Figuren, man wird also deren Verhalten im Licht des Comicgeschehens in der nahen Zukunft überprüfen können. Dass Marine Le Pens Vater als ehemalige Galionsfigur des Front National bald nach dem Wahltriumph seiner Tochter stirbt, ist natürlich gewagte Fiktion, aber mit dem für ihn ausgerichteten Staatsbegräbnis findet Durpaire ein starkes Symbol für die neue herrschende Klasse – und einen deutlichen Bezug zur Anfangszeit des „Dritten Reichs“, das Hindenburgs Tod zum Anlass eines Staatsakts machte, in dem das neue Selbstverständnis von Herrschaft vorgeführt wurde.
Gegen die komplexen und genau recherchierten Darstellungen der politischen Akteure wirken die Widerstandskämpfer wie Klischees. Eine über neunzigjährige Resistance-Veteranin ist der Spiritus rector, unter ihren Verbündeten ist eine bildhübsche Migrantin, die natürlich irgendwann deportiert wird. Aber selbstverständlich kann sich Frankreich nicht zur Gänze unheroisch zeigen, und wenn’s der Aufklärung dient, möge es eben so sein. Boudjellals Schwarzweißzeichnungen mit Graustufe simulieren dokumentarische Berichte und taugen dank ihrer vor allem auf Porträtähnlichkeit ausgerichteten Ästhetik (französische Leseprobe hier). Wer allerdings große Polit-Comics à la Tardi oder Blain erwartet, in denen die Graphik auf einer Höhe mit den Texten steht, der wird hier enttäuscht. „Die Präsidentin“ lebt von ihrem Stoff, nicht von ihrer Form.
Mit diesen 150 dichten Seiten wird man die kommenden siebeneinhalb Monate bis zur französischen Präsidentschaftswahl vergleichen müssen. Hoffentlich die darauf folgenden sieben bis zum Dezember 2017 nicht auch noch.