Jugendliteratur, wie sie sein soll
von Andreas Platthaus
Mit Émile Bravos Comicserie „Pauls fantastische Abenteuer“ hat ein Meisterwerk mit gewisser Verspätung seinen Weg nach Deutschland gefunden.
Vor fünf Jahren bekam Émile Bravo als erster Comiczeichner den Deutschen Jugendliteraturpreis – für seinen Band „Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen“ (geschrieben von Jean Regnaud). Noch mehr verdient aber hätte er ihn für seine Serie „Pauls fantastische Abenteuer“, die in Frankreich als „Une épatante aventure de Jules“ bereits seit 1999 erscheint uns bislang sechs Alben umfasst. Warum deutsche Verlage fünfzehn Jahre brauchten, um deren Qualität zu erkennen, ist ein Rätsel, aber um so schöner, dass Carlsen sie nun doch noch ins Programm genommen hat und nach dem Debüt 2014 jetzt schon den dritten Band herausbringt: „Beinahe begraben“.
Was ist so bemerkenswert an den Abenteuern des schlaksigen Paul? Daß sie im klassischen Stil eines André Franquin gezeichnet sind, aber in der unmittelbaren Gegenwart spielen und dabei alle Themen aufnehmen, die Jugendliche heute umtreiben. Also Umweltschutz, Zukunftsangst, Drogenmißbrauch und vor allem Sexualität. Pauls Freundin Janet, die er im ersten Band kennen- und liebengelernt hat, bringt ein mädchenhaftes Selbstvertrauen in die Handlung, das im Comic nahezu allein steht. Außer Yves Chalands legendärer Dinah aus der Serie „Freddy Lombard“ (erschienen in den achtziger und frühen neunziger Jahren) gibt es keine vergleichbare Figur, und diese Serie richtete sich klar an Erwachsene. Bravo dagegen hat zuerst diejenigen Leser im Blick, die im Alter seiner Helden sind, also etwa Vierzehn- bis Siebzehnjährige.
Daß dem fünfzigjährigen Franzosen die Hineinversetzung in deren Lebenswelt offenbar spielerisch leicht fällt, macht einen Teil der Qualität seiner Serie aus. Der andere liegt im bereits beschriebenen zeichnerischen Geschick (eine ordentliche Leseprobe gibt es nicht, hier das Cover), eine in Belgien und Frankreich tiefvertraute Linie zum ästhetischen Leitfaden seiner Bilder zu machen. Und dann ist da die grandiose Verknüpfung von existentiellen Themen – in „Beinahe begraben“ ist es illegale Müllbeseitigung, im zweiten Band „Unverschämt viele Klone“ Gentechnik – mit einem geradezu klassischen Abenteuerschema (eine Gruppe von gegensätzlichen Charakteren, wechselnde Schauplätze, die mal in der Ferne, mal in unbekannten Ecken der Heimat zu finden sind), das die Lektüre auch für Erwachsene fesselnd macht, vor allem, wenn sie Freunde der berühmten französischsprachigen Serie wie „Tim und Struppi“, „Spirou“ oder „Jeff Jordan“ sind.
„Pauls fantastische Abenteuer“ halten diese Vergleich aus, weil sie originelle Geschichten erzählen und ihren Witz auf bewährte Weise aus den Marotten der Protagonisten ziehen. Ganz eigen ist Bravos Serie aber ein ironischer Blick auf die Welt der Erwachsenen (grandios ins Deutsche gebracht von Uli Pröfrock, dem derzeit besten Comic-Übersetzer), in der sich gerade auf Führungspositionen die kläglichsten Figuren finden – im aktuellen Band etwa der Bürgermeister des südfranzösischen Orts, wohin Janet, Paul und dessen vorlauter kleiner Bruder Romeo von ihrem erwachsenen Freund Bastien auf eine Höhlenexpedition mitgenommen werden. Was dann passiert, wechselt derart häufig das Thema, das man auch als Leser nicht weniger Überraschungen erlebt als die Protagonisten selbst. Und das man nebenbei erfährt, was Speläologie ist und vor allem, wie sie betrieben wird, ist nicht der kleinste Zugewinn, den dieses Musterbeispiel intelligenter Lektüre für Heranwachsende auch noch bietet. Her mit dem nächsten Deutschen Jugendliteraturpreis für dieses Meisterwerk!